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Nick nahm Pünktchens Arm.

      »Einverstanden.« Angelina strahlte ihn an. Sie verehrte Nick seit Jahren und träumte oft davon, eines Tages seine Frau zu werden. Die Zeit bis dahin erschien ihr endlos, schließlich war sie erst dreizehn, drei Jahre jünger als Nick.

      Die anderen Kinder rannten zum Tor des Tierheims. Über ihm war ein langes, buntes Schild angebracht. Die Kinder hatten es selbst gemalt. In riesigen Buchstaben verkündete es, daß sich hier Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, befand. Und es war auch ein Heim, wie man es sich nur wünschen konnte. Tiere, die das Glück hatten, nach Waldi & Co. gebracht zu werden, schienen das große Los gezogen zu haben. Außer zahlreichen Hunden und Katzen gab es einen Esel, der vor der Schlachtbank gerettet worden war, ein zahmes Reh in einem Freigehege und einen jungen Schimpansen namens Mogli.

      »Wenn ein Kaninchen tot ist, kommt es dann in den Hasenhimmel?« fragte Heidi. Peterle in den Armen, schluchzte sie wieder auf. Mit einem Händchen wischte sie sich über die Augen.

      »Heidi weint.« Erstaunt drehte sich Peterle zu Nick und Pünktchen um. »Hat Heidi aua?«

      »Ein bißchen«, entgegnete Nick. Er kniete sich neben Heidi und seinem Neffen ins Gras. »Wer wird denn immer gleich das Schlimmste denken?« Sanft nahm er Heidis Näschen zwischen die Finger. »Ich bin sicher, daß sich Schneeweißchen nur überfressen hat. Bestimmt hast du deinen Kaninchen zuviel Futter in ihren Stall gegeben.«

      »Sie müssen doch satt werden.«

      »Aber man kann auch zuviel des Guten tun«, meinte Pünktchen.

      Heidi sprang auf. Sie rannte über den Hof zum Landhaus hinüber. Vor dem Fenster der Tierarztpraxis blieb sie stehen. Sie wollte sich gerade auf die Zehenspitzen stellen, um hindurchzusehen, als Pünktchen sie einholte und zurückzog. »Ich wollte doch nur gucken.«

      »Was sollen denn Onkel Hans-Joachim und Tante Andrea denken, wenn sie dich am Fenster sehen?« fragte Pünktchen.

      »Ich bin so schrecklich traurig, Pünktchen.« Heidi klammerte sich an Angelina.

      »Weißt du schon, daß Selina kommt?« versuchte Angelina, sie abzulenken, während sie die Kleine bei der Hand nahm und zur Wiese zurückführte.

      »Weiß jeder.« Heidi nagte an ihrer Unterlippe. »Rosenrot wird auch sterben, wenn Schneeweißchen nicht mehr da ist.«

      Bevor Pünktchen ihr noch antworten konnte, kam Hans-Joachim von Lehn aus seiner Praxis. Er hielt den Karton mit Schneeweißchen im Arm. Heidi löste sich sofort von Pünktchens Hand und rannte auf ihn zu. »Ist es tot?« Einen Schritt vor dem Tierarzt blieb sie stehen. Sie zitterte am ganzen Körper.

      »Nein, Heidi, dein Schneeweißchen ist nicht tot, aber es muß ein paar Tage in Waldi & Co. bleiben, damit ich es besser beobachten kann«, sagte Hans-Joachim von Lehn. Er beugte sich hinunter und ließ das kleine Mädchen in den Karton schauen. »Siehst du?«

      »Was hat Schneeweißchen?« Nick kam mit Peterle auf dem Arm zu seinem Schwager.

      »Einen verdorbenen Magen.«

      »Wie du gesagt hast.« Ehrfürchtig blickte Heidi zu Nick auf.

      »Sieh an, du willst mir wohl ins Handwerk pfuschen.« Der Tierarzt lachte. »Andrea ist gerade dabei, für euch Rasselbande Schokolade und Kuchen zu richten. Wo sind denn die anderen?«

      »Bei den Tieren«. Pünktchen wies zum Tor.

      »Ich schicke sie dann ins Haus«, versprach Hans-Joachim. »Und sei unbesorgt, Heidi, Schneeweißchen wird es bald wieder bessergehen.«

      »Danke, Onkel Hans-Joachim.« Heidi schmiegte sich an ihn.

      »Da kommt ein Auto.« Pünktchen deutete zur Straße. Ein blauer Pkw war in das Grundstück des Tierarztes eingebogen. Es hielt in ihrer unmittelbaren Nähe. Hans-Joachim von Lehn drückte Nick den Karton mit Schneeweißchen in die Hand. »Halte ihn bitte einen Moment.« Er ging dem Besucher entgegen.

      »Behandeln Sie auch Kaninchen?« fragte der Fremde. Er stellte sich als Paul Stephan aus Wildmoos vor. »Das habe ich am Straßenrand gefunden.« Er beugte sich in den Fond des Wagens und nahm ein in eine alte Decke gehülltes Bündel heraus.

      Vorsichtig schlug der Tierarzt die Decke beiseite. Zum Vorschein kam ein schwarzes Kaninchen. Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß sich das Tier einen Hinterlauf gebrochen hatte. »Scheint ein Tag der Kaninchen zu sein«, meinte er etwas sarkastisch. »Nick, bringe Schneeweißchen bitte zu Janosch. Er soll es in eine Box legen, und sage ihm gleich, daß noch ein Kaninchen nachkommt.« Dann wandte er sich wieder Herrn Stephan zu und bat ihn in seine Praxis.

      »Das arme Kaninchen«, flüsterte Heidi. »Hoffentlich wird es wieder gesund.« Sie beugte sich wieder über den Karton, in dem Schneeweißchen lag. Ganz ruhig wirkte es. »Bin ich froh, daß du nur einen verdorbenen Magen und dir nicht eines deiner Beinchen gebrochen hast.« Sanft strich sie über das weiche Fell des kleinen Tierchens.

      *

      »Selina, hast du schon das Geschenk für deine Mutter eingepackt?« Marlene Hofrat, Sekretärin und Freundin Professor Färbers, trat in das hübsche Kinderzimmer. Die Nachmittagssonne fiel hell durch die breiten Fenster. Eines von ihnen stand offen. Von der Straße her klangen Kinderstimmen nach oben.

      »Noch nicht.« Selina seufzte auf. »Meine Mutter wird mich gar nicht bei sich haben wollen. Ich bin ihr ja doch nur lästig.« Sie drehte sich um. »Ich würde so gern nach Peru mitkommen. Die Inkas sind viel interessanter als Capri.«

      Marlene schloß die Zwölfjährige in die Arme. »Deine Mutter hat dich schon so lange nicht mehr gesehen, Selina«, sagte sie. »Sie hat ein Recht darauf, dich wenigstens für ein paar Wochen im Jahr bei sich zu haben.«

      »Aber ich will’s doch gar nicht«, protestierte Selina.

      »Sag’ das nicht.«

      »Aber es ist doch wahr.« Selina entwand sich Marlenes Armen und ließ sich neben ihre Koffer aufs Bett fallen. »Wenn ich schon nicht nach Peru mitkommen kann, dann will ich lieber gleich nach Sophienlust fahren. Dort ist es wenigstens lustig.«

      »Auf Capri wird es auch lustig werden«, versprach die junge Frau, wenngleich sie das Mädchen voll und ganz verstehen konnte. Es war ihr unbegreiflich, daß sich Marion Färber so gut wie überhaupt nicht um ihre Tochter kümmerte. Sie überschüttete zwar Selina zu den Festtagen mit Geschenken, doch das war auch alles.

      Selina stand auf und legte ihre Arme um Marlene. »Schade, daß du nicht meine Mutter bist«, meinte sie. »Ich hab’ dich schrecklich lieb.«

      »Ich dich auch, Kleines.« Marlene beugte sich zu dem Mädchen hinunter und küßte es auf die Stirn. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen, sonst ist der Koffer bis zum Abendessen noch nicht gepackt.«

      »Und Vati bleibt auf seinem Gala-Dinner sitzen«, bemerkte Selina lachend. Sie lief zur Zimmertür und öffnete sie einen Spalt. »Riecht schon richtig prima.«

      »Dein Vater ist ja auch ein Meisterkoch.«

      »Hat jemand nach mir geschickt?« David Färber trat in den Korridor. Mit langen Schritten ging er zum Kinderzimmer. Er trug eine riesige Schürze mit buntem Aufdruck. Schwungvoll öffnete er die Tür ganz.

      »Wir schwärmten nur von deinen Kochkünsten, David«, sagte Marlene. Wieder einmal wurde ihr bewußt, wie sehr sie ihn liebte. David war zweiundvierzig, wirkte aber entschieden jünger. Manchmal erschien er ihr sogar wie ein großer Lausbub, da er jederzeit zu einem Streich aufgelegt war. Bei seinen Studenten erfreute er sich großer Beliebtheit.

      »An denen es hoffentlich nichts auszusetzen gibt.« David Färber drohte mit dem Finger. »Ein Wort gegen mein Cordon Bleu und ihr kocht in Zukunft selbst.«

      »Wir werden uns hüten.« Die Frau lächelte ihm zu. »Dein Cordon bleu wird uns auf der Zunge zerschmelzen.«

      »Ihr habt es gut.« Selina blickte von einem zum anderen. »Ihr werdet nicht in die Verbannung geschickt.«


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