Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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Architekt werden wollte. Er hatte sich seinerzeit sehr um meine Mutter bemüht, aber es war nichts daraus geworden. Ich fand das als Kind gut, denn sonst hätte ich womöglich rote Haare gehabt.

      Manches Abenteuer kopierte ich mir aus meinen Büchern. Meine Lieblingsbücher waren Tom Sawyer und Huckleberry Finn von Mark Twain und Lederstrumpf von James Fenimore ­Cooper. Darin standen genug Anleitungen für ein abenteuerliches Leben auf dem Dorf. Zwar fehlten uns die großen Seen und der Mississippi, aber unser Dorfbach konnte das mit reichlich Phantasie einigermaßen ausgleichen – wenn er Wasser hatte. Die Lederstrumpf-Ausgabe, mit einem herrlichen farbigen Jugendstil-Einband, hatte mir eine meiner vielen Tanten aus dem Westen geschenkt. Dazu gab es zwei weitere Bücher: Daniel Defoes Robinson Crusoe und Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson. Den Robinson-Crusoe-Roman las ich zwar aufmerksam, hatte aber immer das Gefühl, der Autor Daniel Defoe habe sich da etwas ausgedacht, um den Leser zu belehren. Erst viel später erkannte ich, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hatte. Die Schatzinsel empfand ich da schon als etwas Genaueres. Seeräuber hätte ja auch ein Berufswunsch sein können.

      Komplettiert wurde meine Abenteuer-Jugend-Bibliothek schließlich durch Die letzte Fahrt der Bark Alexander von Rudolf Weiss, aus dem Gebrüder Knabe Verlag Weimar. Das war fast wie Robinson Crusoe, aber für mich besser nachvollziehbar. Dass ich mich heute noch an dieses Buch so intensiv erinnern kann, hat eine besondere Bewandtnis. Sechzig Jahre nach meiner Lektüre wurde ich zum hundertfünfzigsten Jahrestag des Panses Verlags Weimar eingeladen, aus dem später der Gebrüder Knabe Verlag Weimar hervorgegangen war mit der Lizenz zum Drucken von Kinder- und Jugendliteratur.

      Die erste Hinwendung zu den Naturwissenschaften verdanke ich der Kirche. Na ja – nicht so sehr der ­Institution, sondern unserer Dorfkirche. Sie war gewissermaßen heimlicher Spielplatz, war doch der Großvater eines Freundes der Küster. Ganz nach Bedarf besorgten wir uns den großen Kirchenschlüssel und erkundeten das alte Gemäuer von unten bis in die Turmspitze. Bei einem unserer halsbrecherischen Ausflüge, über die zusammengebundenen Leitern bis nach oben zu den Schallöchern hin, entgingen uns nicht die großen braunen Haufen, die überall im Turm zu entdecken waren.

      Als uns dann einmal ein junger Mann auf der Straße zufällig fragte, ob es solche braunen Haufen in der Kirche gäbe, wussten wir sofort, was er meinte. Es sei Fledermauskot, klärte er uns auf, und er wäre Biologiestudent. Er würde uns für jedes Skelett einer Fledermaus, die man in diesen Haufen finden könne, fünf Mark geben. Wir wühlten jeden Haufen um, und er handelte dann seufzend den Preis herunter, da die Menge der Skelette seine Barschaft deutlich überstieg. Leider teilte er sein Wissen nicht mit seinen Kommilitonen, und so kam es nicht zu einem dauerhaften Gelderwerb.

      Für einige Bratwürste reichte die Einnahme aus dem Geschäft mit den Fledermausskeletten aber doch. Brat­würste gab es jede Woche am Sonnabend im Gasthof Ammerbach. Der Wirt betrieb nebenher noch eine Fleischerei.

      Der alte Gastwirt und Fleischer war ein Ammerbacher Original. Bei ihm trafen sich alle Jäger der Umgebung sonntags früh in seinem von herrlichen Kastanien überschatteten Wirtsgarten, bevor sie zur Jagd aufbrachen. Später saßen sie dann wieder beim Bier und spielten Doppelkopf. Jeder bekam das Bier nach individuellen Wünschen serviert, oft wurde es mit einem kleinen Tauchsieder angewärmt, der genau in das Bierglas passte. Doppelkopf war das Kartenspiel für eingefleischte Thüringer. Zum Bier gab es Rostbrätchen oder Bratwurst, natürlich nur aus der eigenen Fleischerei. Der Wirtssohn, der ebenfalls Fleischer gelernt hatte, war eines Tages in den Westen verschwunden, als das noch relativ einfach war. Niemand regte sich darüber auf. Verwundert waren aber alle, als er nach Jahr und Tag wiederauftauchte und mit einem schicken Westwagen vorfuhr.

      Gebraten wurden die Würste von einem regelrechten Spezialisten. Er stand hinter seinem Bratrost, gestreiftes Hemd mit Stehkragen, graue Bürstenfrisur und Schnauzer – Hindenburg wie eben aus dem Bild gestiegen –, und regierte seine Würste. Er wendete sie nicht einzeln mit irgendeiner Holzzange, sondern legte seinen nackten, behaarten Unterarm auf die heißen Thüringer, die ja schon wie die Soldaten gebeugt und geordnet dalagen, und mit einer kurzen Bewegung klappten alle zusammen auf die andere Seite. Das war erste Klasse! Man hörte förmlich, wie die Würste die Hacken zusammenschlugen.

      Das ganze Dorf stand Schlange und wartete geduldig, denn es wurden nur die Würste verkauft, die direkt vom Rost kamen. Einen Zwischenaufenthalt in irgendeiner Schüssel gab es nicht. Würste, Semmeln und Born-Senf – selbstredend auch aus Thüringen – gab es immer reichlich. Noch heute bin ich der Meinung, dass, wenn eine Bratwurst Thüringen verlässt, sie das Recht verwirkt, »Thüringer Bratwurst« genannt zu werden. Von den unsäglichen Rezepturen anderwärts, die sich mittlerweile auf diesen Namen berufen, will ich hier lieber schweigen.

      Als ich später einmal in den Gasthof Ammerbach auf ein Bier einkehrte, ich glaube ich wohnte da schon in Jena, saßen in einer Ecke drei mir bekannte Alte, darunter der ehemalige Wirt, der den Gasthof mittlerweile seinem Sohn übergeben hatte. Als der alte Wirt mich erkannte, fragte er: »He, kannste Doppelkopp?«

      Ich nickte.

      »Na dann, kumme her un schpiele mit, mir sin nur dreie!«

      Ich dachte, warum eigentlich nicht, und setzte mich dazu.

      »Mir schpiel’n um de Halb’n«, sagte der Wirt.

      Das hieß für mich »um die halben Pfennige«, abgerechnet wurde nach jedem Spiel. Das war einfacher, aber auch teurer als beim Skat. Ich griff in meine Tasche und zählte mein Geld. Viel mehr als eine Mark war das nicht, für ein Bier wäre das ausreichend gewesen.

      Am Tisch ging es lustig zu. Die Karten wurden mit Kommentaren auf den Tisch geknallt, die in kein Wörterbuch Eingang gefunden hätten. »Rot jehd tod«, war da noch das Harmloseste. Da die Alten schon etwas zittrig waren, konnten sie die Karten nicht lange in der Hand behalten. Sie benutzten deshalb kleine Brettchen mit einem gebogenen Spalt, in den man die Karten stecken konnte. Meine Angst, schnell pleitezugehen, wich schnell. Von meinem Gewinn konnte ich mir drei Bier und ein Rostbrätchen leisten, und es blieb noch mehr übrig, als ich mitgebracht hatte. Als ich ging, nickten mir die Alten beifällig hinterher, und ich war ordentlich stolz als grüner Junge in ihren eingeschworenen Kreis als Mitspieler aufgenommen worden zu sein.

      Den 13. August 1961 erlebte ich im Spreewald. Wir waren auf einer Klassenfahrt und erkundeten diese schöne Landschaft durch Wanderungen von einem Ort zum anderen. Am 13. August waren wir gerade in Byhleguhre angekommen. Dieser Name ist so seltsam, dass ich ihn bis heute nicht vergessen habe. Von der brisanten politischen Situation bekamen wir nur wenig mit. In unserem Alter hatten wir andere Sorgen als eine Mauer, die irgendwo gebaut wurde. Unser geplanter Ausflug nach Berlin allerdings fiel ins Wasser. Das gefiel uns gar nicht, aber es war nicht zu ändern.

      Unter den Bekannten meiner Eltern war auch eine Familie aus dem Dorf, deren Sohn Chemie studierte. Er war zwar ein paar Jahre älter als ich, aber er weihte mich so in diese tolle Wissenschaft ein, dass ich nicht mehr von ihr loskam. Von ihm bekam ich die passenden Chemikalien und von meinen Eltern zu Weihnachten ein lustig bebildertes Experimentierbuch: Streifzüge durch die anorganische Chemie.

      Meine beiden Freunde, Wolfgang und Günter, waren auch interessiert. Neben ersten kleinen Stänkereien und Farbenspielen stießen wir bald auf einen berühmten Mönch namens Berthold Schwarz. Sein gleichnamiges Pulver hatte es uns angetan, und die Bestandteile waren nicht schwer zu beschaffen. Alle Bauern, die schlachteten, hatten auch Pökelsalz – da hatten wir schon mal das Kaliumnitrat. Das Schwefeln der Kartoffeln bei der Herstellung der Thüringer Klöße ist zwar heute außer Mode, aber damals kannte das jede Hausfrau. Die ­Fäden, die in geschmolzenen Schwefel eingetaucht worden waren, zündete man an. Sie brannten mit kleinen blauen Flämmchen und wurden in die Töpfe mit den rohen Kartoffeln gehängt, die man mit dem Deckel verschloss. Das entstehende Schwefeldioxid löste sich im Kartoffelwasser und verhinderte, dass das Gereibe schnell braun oder blau wurde. Die Schwefelfäden gab es in der Drogerie Tonndorf in Jena oder im Küchenschrank. Über die Verbreitung von Holzkohle in Thüringen angesichts der Bratwürste zu reden, ist überflüssig. Das Mischungsverhältnis der Komponenten musste man durch Experimentieren herausfinden. Eine kleine Schwierigkeit ergab sich aber doch. Es wurde Holzkohlepulver gebraucht. Mit dem Hammer ging das nicht,


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