Der Fälscher. Günter Pelzl
meine Frau einhandelte, eine Tuberkulose. Auch diese Infektionskrankheit ist also wieder auf dem Vormarsch.
Kurz nachdem der Besuch aus dem Westen wieder fort war, hatte ich das Glück, mit meinem Vater nach Westdeutschland zu reisen. Die Mauer gab es noch nicht, und so fuhren wir mit dem Interzonenzug hinter den Eisernen Vorhang, oder wir fuhren davor – je nachdem, aus welchem Fenster man schaute. Vater wollte seine Eltern besuchen. Zwischenaufenthalte waren bei meiner anderen Westoma und bei meiner Tante Inge und meinem Onkel Ernst geplant.
Die Eltern meines Vaters hausten in Stuttgart-Bernhausen in einer ähnlichen Baracke für Zwangsarbeiter wie jene bei uns im Dorf, die nun als Kindergarten fungierte. Dort, am Rande des Flugplatzes, gab es mindestens zwanzig solcher Behelfsunterkünfte, alle belegt mit »Vertriebenen«, die bei uns »Umsiedler« hießen. Dieses leidige Thema hat mich später noch oft beschäftigt.
Großvater war fast siebzig. Neubauernstellen wie im Osten gab es für sie in Westdeutschland nicht; hier wurde kein Land verteilt, und die, welche Land hatten, teilten nicht freiwillig mit ihren Brüdern und Schwestern aus den deutschen Ostgebieten. In der DDR wurde das dazu notwendige Land den Junkern und Großbauern einfach weggenommen. Die meisten von denen übersiedelten deshalb lieber in den Westen. Bis zu ihrem Lebensende blieben meine Großeltern als Vertriebene in dieser Baracke. Statt Russen liefen dort am Flugplatz Amis herum, und statt roter Sterne gab es Kaugummis.
Mein Großvater war klein und untersetzt, man sah ihm den Bauern deutlich an. Meine Großmutter dagegen war lang und hager, war schwarz gekleidet, als käme sie direkt vom Friedhof, und trug ein ebenso schwarzes Kopftuch, das so eng um den Kopf herum anlag, dass man kein Haar sehen konnte. Mein Vater erzählte mir später, dass er sie ganz selten ohne Kopftuch gesehen hätte. Bei ihr wäre ein Kopftuchverbot wohl ebenso aussichtslos gewesen, aber Großmutter war ja katholisch und kannte Mohamed und seine diversen Nachfahren nicht. Sie versuchte, mir das Musizieren mit der Maultrommel beizubringen. Dazu klemmte sie sich ein Gummiband zwischen die Zähne und zog es straff. Zupfte sie dann das Band, ähnlich wie bei einer Gitarre, konnte sie mit wechselnder Mundöffnung unterschiedliche Töne erzeugen. Ich fand die dabei auftretenden technischen Probleme lustiger als die Töne, die sie hervorbrachte. Großmutter trug nämlich ein ziemlich schlechtsitzendes Gebiss. Manchmal fanden wir das Gebiss erst nach langer Suche wieder …
Ich lernte auch meine Tante Mizzi kennen, die zwei Kinder in meinem Alter hatte und in der Nachbarbaracke wohnte. Als wir uns von Stuttgart verabschiedeten, war ich froh. Ich konnte jetzt ein wenig besser verstehen, was es bedeutete, zu Hause zu sein.
Die Stadt Essen machte damals auf mich den gleichen Eindruck, wie wohl zur Wende die Stadt Borna bei Leipzig auf einen Westbesucher. Die Ruhr war mir als Krankheit bekannt. Als ich sie als Fluss kennenlernte, erkannte ich sofort die großen Ähnlichkeiten zwischen beiden. Trotzdem spielte ich mit meinem Cousin Wolfgang dort ausgiebig. Jeder hatte zwei Indianer. Am ersten Tag hatte Wolfgang mir von seinen vier Indianern zwei abgegeben. Zum Abschied schenkte er mir noch ein Fahrtenmesser mit Hirschhorngriff. Man konnte damit keine Äpfel schälen und auch nicht schnitzen, aber als Andenken und zum Vorzeigen war es gut. Ich habe es heute noch und leihe es ab und zu meinem Enkel Anton. Die Indianer sind mir allerdings abhandengekommen.
An den Besuch bei meiner anderen Westoma in Ellwangen an der Jagst erinnere ich mich kaum. Ich konnte sie nicht leiden, das erwähnte ich ja bereits.
Keine guten Erinnerungen habe ich auch an die Bekleidung, die mir meine Verwandten auf diesem Teil unserer Reise verpassten. Die Lederhose konnte ich noch akzeptieren, die war praktisch, aber bei den Hosenträgern hörte es schon auf. Die Verzierungen mit Edelweiß und grüner Filzborte fand ich hässlich. Die gestrickten Wadenwärmer, die angeblich »Loferl« hießen, und die dazugehörigen Haferlschuhe waren in meinen Augen der Gipfel. Ich konnte in beiden nicht gut laufen. Die Schuhe wurden natürlich bei »Salamander« gekauft. Zur Anprobe stellte man den Fuß mit dem neuen Schuh in eine Kiste und konnte dann seine Fußknochen mit dem Schuh auf dem Bildschirm betrachten und mit den Zehen wackeln. Ich kannte das schon, nur anders. In der DDR hieß das »Röntgen-Reihenuntersuchung«. Man nahm aber dort nicht die Füße ins Visier, und es wurde auch nicht kontrolliert, ob das Hemd passte. Vater tat dazu sein Übriges, meine Abneigung gegen die Schuhe zu vergrößern, indem er die überlangen Senkel so fest zuschnürte, dass mir die Zehen einschliefen. Die Enden stopfte er überflüssigerweise noch mit seinen großen Fingern hinter den Schuhrand. Das hatte er wohl zu Hause so gelernt.
Zu Hause, in Thüringen, wieder angekommen, verschwanden die Hosenträger, das alberne Jäckchen mit den Hornknöpfen und die »Loferl« auf für meine Mutter unerklärliche Weise. Nur die Schuhe konnte ich nicht beseitigen. Ich ignorierte sie, so gut es ging.
Meine Lehrerin entdeckte in mir Fähigkeiten, über die ich mir selbst keine Gedanken machte, doch sie hielt es für angebracht, mich für eine andere Schule zu empfehlen. Eine Schule mit erweitertem Russischunterricht wäre genau das Richtige für mich, meinte sie. Einen Haken hatte die Geschichte aber doch: Die Schule befand sich in Jena, und das erschien einem Dorfjungen wie mir unendlich weit entfernt, die schlechte Verbindung dorthin nicht einmal mit eingerechnet.
Meine Eltern waren dennoch einverstanden. Aus mir sollte schließlich einmal »etwas Besseres« werden als aus ihnen. Dieser Wunsch ist wohl allen Eltern eigen. Mein Vater war zu der Zeit nach der damals üblichen DDR-Skala als Arbeiter eingestuft, und Arbeiterkinder wurden besonders gefördert. Als Schüler der zweiten Klasse einer einklassigen Dorfschule hatte ich keine schlagkräftigen Argumente dagegenzusetzen. Aber der Sommer ging vorüber, die Ferien waren vorbei, und niemand hatte sich bei mir wegen dieser anderen Schule gemeldet.
So ging ich pünktlich am 1. September um acht Uhr wieder in meine geliebte Dorfschule quer über die Straße. Die Lehrerin war entsetzt, als sie mich in meiner Bank sitzen sah. Sie sagte sofort, das würde sie umgehend klären. Die erste Woche war noch nicht vergangen, da hatte sie es geklärt, und ich machte mich auf den Weg zur Grete-Unrein-Schule nach Jena in die neue Russischklasse.
Der Weg war für mich nicht gänzlich neu, aber ungewöhnlich lang: Einen knappen Kilometer Fußmarsch bis zur Bushaltestelle, eine relativ kurze Busfahrt und dann noch einmal anderthalb Kilometer zu Fuß den Saulauf – der hieß tatsächlich so – hinunter um den Friedensberg herum bis zur Schule.
Einen Teil der Strecke kannte ich schon, das war meine Route zum Friseursalon Benthin. Für fünfzig Pfennige musste ich mir dort regelmäßig die Haare schneiden lassen, obwohl ich das unnötig fand und das Geld lieber für etwas anderes ausgegeben hätte. Meistens durfte ich eine Weile warten, bevor ich drankam. Diese Zeit verbrachte ich damit, in den dort ausgelegten Zeitschriften herumzustöbern. Besonders angetan hatte es mir Das Magazin, eine in der DDR überaus beliebte Zeitschrift, die seit 1954 einmal im Monat erschien. Ich wusste genau, dass in jeder Nummer eine Seite mit einer abgebildeten nackten Frau enthalten war. Komischerweise fehlte im Magazin-Exemplar des Friseurladens immer genau diese Seite. Ich traute mich aber nicht, den Friseur danach zu fragen. So nahm ich dann eben mit einer im Magazin enthaltenen Bildergeschichte über die Bonner Ultras vorlieb. Sie hieß »Waputa, die Geierkralle«. Als politisch gebildeter DDR-Schüler erkannte ich die halbe Regierung der BRD wieder, nur wurde sie im Comic mit viel lustigeren Namen ausgestattet. »Ollenkott« war der Erich Ollenhauer von der SPD, und der »Häuptling der Bösen« war »Conny« Adenauer.
War ich endlich an der Reihe, wurde ich meistens zwischen zwei alten Herren in einen der hohen Lederstühle platziert, wobei mir noch eine Kiste unter den Hintern geschoben wurde, damit sich mein Kopf auf der Höhe der Rentnerköpfe zu beiden Seiten befand. Der Friseur konnte dann von dem Alten links, dem er gerade mit einem Rasiermesser den Bart abschabte, zu dem Herrn rechts wechseln, dem er den Kopf wusch. Kam er dabei an mir vorbei, schnippelte er an meinen Haaren herum, wobei er mit einer handbetriebenen Haarschneidemaschine die Haare mehr herausriss als abschnitt. Dabei quasselten sie unablässig vom Fußball. Davon hatte ich nun keine Ahnung, und ich war froh, wenn ich wieder mit kühlem Kopf meinen Heimweg antreten konnte.
Nach wenigen Monaten zog meine Klasse in die Adolf-Reichwein-Schule um. An dieser Schule fuhr der Bus vorbei, und so blieb nur noch der Fußweg zur Haltestelle übrig. Diese Schule hatte einen ganz besonderen Vorteil: Schräg gegenüber gab