Der Fälscher. Günter Pelzl
unsere Gesangsabende. Mutter spielte Zither und Vater Akkordeon, das wir immer »Zerrwanst« nannten. Sie waren auch im Gesangsverein des Dorfes aktiv und nutzten diese Abende zum Üben. Diesen Gesangsverein gab es schon zu Kaisers Zeiten, und meine Urgroßmutter Elsa war darin bereits ein sehr engagiertes Mitglied gewesen. Auf einem Bild aus ihrer Fotoschachtel thront sie als Alma Mater inmitten junger Mädchen, flankiert von drei Hakenkreuzwimpeln. Der Chorleiter trägt eine meterlange Stimmgabel. Was sie damals für Lieder sangen, weiß ich nicht, aber alle auf dem Bild blicken freundlich in die Kamera. Bilder allein sagen nicht immer alles. Bei unseren häuslichen Abenden waren erzgebirgische Volkslieder sehr beliebt, und ich kann mich noch gut an ein grünleinenes Büchlein mit den Noten und den halsbrecherischen Texten erinnern: Wenn es Raachermannel nabelt un es sat kaa Wort drzu …
Das Erzgebirgische war nicht meine Mundart, und ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass hier niemand abgenabelt wurde, sondern der nach Waldbrand duftende Rauch gemeint war, der aus dem Mundloch des sonst stummen Räuchermännchens qualmte. Obwohl sie die Erzgebirgischen Weihnachtslieder mochten, konnten sich meine Eltern mit Thüringer Folklore nicht anfreunden. Die wurde weitgehend dominiert von Herbert Roth (1926 –1983). Mein Vater mochte die Roth’sche Schunkelseligkeit überhaupt nicht. Einmal geriet er sogar mit ihm persönlich aneinander. Meine Eltern hatten von der Gewerkschaft einen Urlaubsplatz in Masserberg im Thüringer Wald erhalten. In Masserberg wohnte auch Herbert Roth in seiner mit viel Mühe »ersungenen« Villa. Nichtsahnend gingen sie eines Abends zu einer Kulturveranstaltung. Sie hatten im Saal des Kulturhauses ihre Plätze in der Mitte der dritten Reihe eingenommen, als der Vorhang aufging und Herbert Roth und seine Partnerin Waltraut Schulz ins Rampenlicht traten: Es war ein Herbert-Roth-Abend, und mein Vater hatte das nicht gewusst. Der Saal war voll und eine Flucht nicht mehr möglich. Schon bei dem ersten Lied forderte der fröhliche Sänger alle zum Schunkeln auf. Es schunkelten wirklich alle, der ganze Saal – außer mein Vater. Er saß stocksteif da und presste die Ellenbogen an den Oberkörper, damit sich auch ja keiner einhenkeln konnte. Meiner Mutter war das peinlich, aber sie hielt zu ihrem Josef. Roth sah natürlich die Schunkelstörung in der sich hin und her wiegenden Masse und sprach den einzelnen Schunkelverweigerer von der Bühne herab an. Mein Vater reagierte überhaupt nicht auf die Roth’sche Anmache und hielt sein Nichtschunkeln bis zur Pause tapfer durch. Danach blieben die beiden Plätze in der dritten Reihe leer.
In den 1960ern versuchte Herbert Roth, auch einen Auftritt im Jenaer Volkshaus zu geben. Die Studenten störten die Veranstaltung mit Erfolg. Er kam nie wieder nach Jena. Mir war Roth ziemlich egal. Als Studenten sangen wir, wenn wir entsprechend getrunken hatten, eine nicht jugendfreie Version seines berühmten Liedes vom »Köhlerliesel«. Liesel kam aber aus dem Harz.
Unser Wohnzimmer hatte einen schönen Erker, der auf die einzige Kreuzung im Dorf hinausging. Dort stand immer unser Weihnachtsbaum, selbstverständlich eine Fichte, geschmückt mit echten Kerzen, nicht mit Watte, sondern mit Lametta aus Aluminium und mit Lauschaer Baumschmuck, der natürlich von Oma Elsa stammte und mindestens fünfzig Jahre alt war. Das Lametta wurde stets wieder eingesammelt und im nächsten Jahr erneut verwendet. Andere Familien im Dorf erzählten später, dass sie den Zeitpunkt der Bescherung ihrer Kinder immer nach dem Angehen der Lichter des Weihnachtsbaums bei uns im Erker ausrichteten.
Weihnachten wurde immer ein festes Ritual eingehalten. Am 24. Dezember morgens wurde der Baum geschmückt. Meistens machte das meine Mutter. Wir Kinder schauten zu und klauten hinter ihrem Rücken vom Baum die Schokoladenkringel aus Fondant, einer eklig süßen Zuckermasse, mit der man testen konnte, ob man Löcher in den Zähnen hatte. Mutter tat so, als sähe sie das nicht. Sie hatte immer noch eine Tüte in Reserve. Vater war eher zuständig fürs Grobe. Er musste den Baumstamm anspitzen, damit er in den gusseisernen Ständer passte. Das war keine einfache Aufgabe, denn eigentlich sollten dabei alle Nadeln am Baum bleiben. Mittagessen fiel vorerst aus. Stattdessen war Baden angesagt. Ein Badezimmer hatten wir nicht, aber in der Küche stand ein Abwaschtisch mit zwei Schüsseln, die man unter der Tischplatte hervorziehen konnte. Das reichte. Warum man sich vor der Bescherung waschen musste, erklärte mir niemand. Das war nun einmal so. Dann warteten wir auf den schon beschriebenen Weihnachtsmann. Nach der Bescherung gab es das aufgeschobene Mittagessen: Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen oder manchmal auch mit Kassler.
Ich habe so oft bei der Zubereitung des Kartoffelsalats zugesehen, dass dieses Rezept zu den wenigen gehört, die ich auswendig kann. Wie bei den traditionellen Klößen verwendeten die Thüringer auch hier mehligkochende Kartoffeln, sie wurden aber einige Minuten eher vom Feuer genommen. Selbstverständlich wurden sie als Pellkartoffeln aufgesetzt. Diese wurden noch heiß gepellt und in Scheiben, seltener in Würfel geschnitten. Dazu kamen dann Pfeffer, Salz, feingeschnittene Zwiebeln und Gewürzgurken, ebenfalls feingeschnitten. Dass Mutter die Gurken eigenhändig eingelegt hatte, verstand sich von selbst. Das Ganze wurde vorsichtig vermengt und dann mit der Brühe und den Gewürzen aus dem Gurkenglas übergossen. So wurde der vorbereitete Salat eine Nacht im Kalten stehen gelassen. Am nächsten Tag kam dann kurz vor dem Essen die Mayonnaise hinzu, die Mutter ebenfalls selbst zubereitete. Zu der bei ihr im Konsum zum Kauf angebotenen Mayonnaise hatte sie kein Vertrauen. Wenn man diese nur etwas misstrauisch ansah, zerfiel sie vor Angst wieder in ihre Bestandteile. Wir hatten eine Maschine mit einer Kurbel, die in einem Glasgefäß kleine Rührlöffel antrieb. Oben im Deckel war ein Töpfchen mit einem kleinen Loch. Mutter trennte von mehreren Eiern das Eigelb vom Eiweiß, das war für uns schon eine Zirkusvorstellung, denn sie machte das mit zwei halben Eierschalen über einer Schüssel, wobei das Eigelb immer von einer Schalenhälfte in die andere hopste und das Eiweiß in der Mitte in die Schale herunterlief. Eine dünne Eihaut hielt dabei das Eigelb zusammen. Man hatte schon verloren, wenn man das Ei mit dem Messer aufschlug. Mutter machte das immer am Tassenrand, dann blieb das Eihäutchen intakt. Das Eigelb kam mit Salz, Pfeffer und Kräuteressig in das Glas der Maschine und wurde mit der Kurbel heftig gerührt. Dann kam das Töpfchen mit dem Loch zum Einsatz. Dort hinein kam Öl, das langsam durch das kleine Loch in die darunterliegende Eierpampe tropfte. Mit der Kurbel wurde dabei ordentlich gerührt. Irgendwann bildete sich dann die gewünschte Mayonnaise – oder auch nicht. Mutter bekam das im Winter immer hin. Im Sommer machte sie keinen Kartoffelsalat.
Physikalisch-chemisch ist das ein außerordentlich komplizierter Vorgang: die Herstellung einer Öl-in-Wasser-Emulsion, wobei das Lecithin im Eigelb als Emulgator fungiert. Meine Mutter wusste das alles nicht und meine Urgroßmutter, von der sie Kochen gelernt hatte, erst recht nicht. Beide haben immer vorzügliche Mayonnaise hergestellt. Ich kann das alles gut erklären, kaufe aber lieber Delikatess-Mayonnaise aus dem Spreewald. Auch die Gewürzgurken bereite ich nicht selbst, sondern verwende Spreewald-Pfeffergurken. Zudem muss man neuerdings mehligkochende Kartoffeln lange im Supermarkt suchen … Wie auch immer: Nach mehreren eigenen Zubereitungsexperimenten bin ich bei den Spreewald-Produkten geblieben, und die Kartoffeln kaufe ich bei einem Bauern, der beim Stichwort »Kartoffelsalat« genau weiß, was ich brauche. Zu anderen Mayonnaisen und Gewürzgurken hege ich kein Vertrauen. Eine Erklärung, wie man Wiener Würstchen erwärmt, ohne dass sie platzen, erspare ich mir hier, das kann jeder selbst herausfinden.
Am ersten Weihnachtsfeiertag stand zumeist Gänsebraten auf dem familiären Speiseprogramm. Wir waren ja fünf gute Esser, und Gans gab es nur einmal im Jahr. Sie wurde noch lebend vom Bauern abgeholt und von meinem Vater geschlachtet. Wer macht sich denn heute noch Gedanken über den Weg einer Gans von der grünen Wiese in die Bratpfanne? Man holt sich eine kopf- und federlose, eiskalte Gänseleiche aus der Tiefkühltruhe, liest oberflächlich mit einer Lupe die auf der Verpackung in sieben Sprachen aufgedruckte Gebrauchsanleitung, einschließlich der Warnung, sich anschließend nicht die Tüte über den Kopf zu ziehen, und los geht’s.
Vater schlachtete die Gans nicht einfach so hin, sondern stach sie ab. Dabei durchtrennte er mit einem zweiseitig scharfen Messer zwischen zwei bestimmten Halswirbeln die Wirbelsäule und schnitt dann die Kehle auf. Anschließend wurde die Gans an den Füßen aufgehängt, damit sie ausbluten konnte. Mein Vater hielt die Gans dabei zwischen den Knien fest. Bestimmt wird dieser Vorgang in verschiedenen Regionen unterschiedlich gehandhabt, er bevorzugte die mährische Variante. Das klingt gruselig, aber in Krimis befinden die meisten das Morden von Menschen für normal, alle schauen hin, aber bei Gänsen halten wir unseren Kindern lieber die Augen zu.
Das Rupfen der Gans übernahm