Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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Der Holzvergaser war eine sinn­reiche Einrichtung, die jede Menge Benzin sparte. Hinten war ein Aufbau, der einem Klohäuschen nicht unähnlich war. Ausgangs des Dorfes war eine scharfe Kurve, die bei vollem Tempo von den T-34-Panzern nicht einfach zu meistern war. Regelmäßig ging dabei der Gartenzaun des Bauern zu Bruch, und genauso regelmäßig wurde der Zaun neu errichtet, wanderte aber dabei immer ein wenig nach außen und vergrößerte so den Garten. Finanziert wurde der neue Zaun durch die Rote Armee. Besonders bemerkenswert war der Gestank, den die Militärfahrzeuge verbreiteten. Erst später als Chemiker wusste ich, dass dieser Geruch vom hohen Schwefelanteil des Erdöls aus Baku herrührte, das die Wehrmacht so gern erobert hätte. Es gelang ihr aber nicht. Vielleicht hätte sie den von Deutschland angezettelten Krieg dann sogar noch gewonnen.

      Ein Bauer unseres Dorfes, der im Krieg im Gesicht schwer verwundet worden war und vor dem wir Kinder uns immer etwas fürchteten, hatte von den sowjetischen Soldaten ein offensichtlich ausgedientes, kriegsmüdes Panjepferd erhalten. Er konnte kein Russisch, doch das Pferd gehorchte ihm auch auf Deutsch, und so hätten sie es beide gut haben können, wenn eben dieser Geruch nicht gewesen wäre. Jedes Mal, wenn der Bauer mit seinem Fuhrwerk unterwegs war und ein Russenauto qualmend vorbeifuhr, ging das Pferd durch. Die Zähne gefletscht, die Ohren aufgestellt und den Schwanz waagerecht nach hinten, raste es los wie ein geölter Blitz. Dem Bauern blieb nichts weiter übrig, als die Zügel loszulassen und sich am Wagen festzuhalten. Irgendwo außerhalb des Dorfes blieb dann das kriegserprobte Pferd schweißnass stehen. Es ging aber immer glimpflich aus. Wir brachten unsere Küchenabfälle regelmäßig zu dem Hof dieses Bauern und bekamen dann, wenn geschlachtet wurde, eine große Kanne Wurstbrühe mit einer Blut- oder Leberwurst darin. Es war eine alteingesessene Bauers­familie. Die Bäuerin – eine kleine, herzensgute Frau – hatten die Nazis zwangsweise sterilisieren lassen, aber darüber schwiegen die Dorfbewohner, wie sie über alles schwiegen, was ihnen unangenehm war. Sie hatten sich schnell den neuen Verhältnissen angepasst, so wie sie sich den vorhergehenden angepasst hatten und den Verhältnissen davor. Erst als ich erwachsen war, habe ich das mit der Sterilisation erfahren. Die Bäuerin und ihr Mann adoptierten später in der DDR zwei Kinder.

      Wir waren inzwischen zur Miete in ein schmuckes Haus in der Dorfmitte gezogen. Es gehörte einem Arzt aus Jena. Der Coppanzer Weg führte genau wie die Waldstraße nach oben. Etwas anderes ließ die Landschaft nicht zu. Auch hier fand man die deutlichen Spuren vergangener Zeiten, die das bäuerliche Leben hinterlassen hatte. Ziemlich am Rande, an einem kleinen Buchenhain, stand das alte Mühlhaus. Die Zeit war über das Mahlen von Getreide genauso hinweggegangen wie über das Bierbrauen, und so konnte man seine frühere Bestimmung nur noch an den im Garten aufgestellten Tischen erkennen, deren Platten die alten Mühlsteine bildeten. Den dazugehörigen Bach aus dem Coppanzer Grund gab es aber noch. Er floss jetzt arbeitslos an der Mühle vorbei.

      Früher beherbergte unser neues Haus eine von dazumal drei Kneipen im Ort. Im Erdgeschoss befand sich nunmehr der Konsum, geführt von meiner Mutter; wir wohnten in der ersten Etage. Vater hatte inzwischen eine Arbeit im Schottwerk in Jena aufgenommen und fuhr dort eine Elektrolokomotive (kurz: E-Lok).

      Eben dieser Konsum war das Ziel der russischen Soldaten, wenn sie ins Dorf hinunter kamen. Meine Mutter war zwar klein, aber resolut, und die Soldaten hatten tatsächlich großen Respekt vor ihr. Sie kam nicht umhin, ­ihnen Schnaps zu verkaufen, aber sie achtete immer darauf, dass im Laden kein Tropfen getrunken wurde. Gehorsam ging der Sergeant mit der bei ihr erstandenen Schnapsflasche nach draußen zu seinen dort wartenden Soldaten.

      In der Regel blieb das für alle Beteiligten ohne Folgen, aber einmal kam es doch zu einem Zwischenfall: Der einzige noch verbliebene Gasthof befand sich direkt neben unserem Haus. Eine Gruppe Soldaten war in die Kneipe eingekehrt, und nach einer Weile gab es einen großen Radau. Zwei Soldaten sprangen mit voller Ausrüstung und MPi durch die Kneipenfenster und rannten geduckt davon, wie sie es im Krieg gelernt hatten. Im gleichen Augenblick fuhr mit quietschenden Reifen ein Jeep der sowjetischen Militärpolizei vor. Die Polizisten holten die anderen Soldaten aus der Kneipe, ihr Offizier wurde noch auf der Straße geohrfeigt und degradiert, indem man ihm alle Orden, die Schulterstücke und die Knöpfe abriss. Dann wurde er, wie die anderen, mit Peitschen auf einen ebenfalls angekommenen Lastwagen geprügelt. Bis spät in die Nacht konnte man das Feuer der Maschinen­pistolen hören. Die Flüchtigen lieferten sich mit ihren Verfolgern ein heftiges Feuergefecht. Für sie ging es um Leben und Tod. Was in der Kneipe passiert war und ­warum der Wirt die Kommandantur angerufen hatte, darüber schwieg man, wie üblich.

      Meine Mutter erzählte mir später von der Rückkehr eines Ammerbachers aus dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Er wusste, wer aus unserem Dorf ihn bei den Nazis als Kommunisten denunziert hatte, verzichtete aber auf dessen Anzeige, mit der Bemerkung, der habe fünf Kinder und sei ein armes Schwein. Das allein hatte für alle anderen ausgereicht, ihn zu identifizieren. Das ganze Dorf wusste, um wen es sich handelte.

      Der ehemalige Häftling ging indessen wieder seiner gewohnten Tätigkeit nach, er war Korbmacher. Uns Kindern fiel er immer durch sein gewaltiges, knatterndes Motorrad und seine schwarze, zerknautschte Thälmann-Mütze auf. Besonders beliebt war er aber bei uns wegen seiner Rolle als »unabhängiger« Weihnachtsmann. Alle Kinder im Dorf wussten, dass er kommt, aber keiner wusste, wann. Wenn es dann im Treppenhaus rumpelte und jemand mit einem Knotenstock ordentlich Lärm machte, war er endlich da. Er hatte es nicht nötig, sich zu verkleiden, jeder erkannte ihn sofort und akzeptierte ihn trotzdem als den »echten« Weihnachtsmann. Ein Gedicht oder ein Lied war der Preis für seine Gaben, und die stammten allesamt von seinen Erkundungen durch die Ammerbacher Flur auf der Suche nach Weidenruten für seine Körbe. Walnüsse, Haselnüsse und Äpfel brachte er immer mit. Er besuchte auch die Bauernfamilien, aus deren Gärten vermutlich ein Teil seiner Geschenke stammte, was sie sicherlich wussten. Der Weihnachtsmann wurde vom jeweiligen Familienvorstand mit einem Gläschen in Ehren verabschiedet, was sich zunehmend auf seine Standfestigkeit auswirkte und uns Kinder ungemein belustigte. Das war unsere Entschädigung für das Stottern und die Aufregung beim Darbieten eines Gedichts oder Liedes. Kaum war die Tür wieder ins Schloss gefallen, klingelte es erneut – aber diesmal war es die Frau des Weihnachtsmanns, die ständig auf seiner Spur war und hoffte, ihn noch rechtzeitig zu erwischen, bevor er irgendwo endgültig versackte.

      Das Fernsehen gab es noch nicht, und ein Radio besaßen wir nicht mehr. Das hatte mein Vater gegen einen Handwagen eingetauscht. Er hatte es immer »Goebbelslerche« genannt. Wer Goebbels war, wusste ich nicht und auch nicht, ob der singen konnte. Der Handwagen war wichtiger, denn mit ihm konnte man Heizmaterial vom Kohlenhof holen oder Wäsche zum Waschen wegbringen. Eines Tages holten meine Eltern wieder einmal Briketts vom Kohlenhof und bewältigten den mindestens fünf Kilometer langen Fußmarsch mit der schweren Last auf einer rumpligen Straße. Vater zog vorn, Mutter schob hinten. Nach einer Weile stieg ihr ein komischer, brenzliger Geruch in die Nase. Als sie aufblickte, sah sie, dass ihrem Mann das halbe Hosenbein fehlte. Kurz unter dem Knie qualmte es wie ein feuchter Docht. Es war seine alte umgefärbte Wehrmachtshose. Mein Vater hatte als Raucher die Angewohnheit, seine Zigaretten so lange zu rauchen, bis der Stummel nur noch wenige Millimeter lang war. Die Kippe hatte er lässig im Mundwinkel – er musste ja den Handwagen ziehen. Offensichtlich war ihm die Glut der Zigarette in den Hosenumschlag gefallen. Meine Mutter lachte sich halb kaputt. Je wütender mein Vater wurde, desto schallender musste sie lachen. Humor war nicht seine starke Seite, trotzdem baten wir Mutter immerzu, uns diese Geschichte zu erzählen, obwohl wir sie schon auswendig kannten. Sie war eine vorzügliche Erzählerin, konnte sich aber bei dieser Geschichte nie das Lachen verkneifen. Vater war jedes Mal schon vorher verschwunden, um sich nicht erneut ärgern zu müssen.

      Die Abende verbrachte unsere Familie häufig mit zwei wesentlichen Beschäftigungen. Zum einen: unsere Klebearbeiten. Da fast alle Lebensmittel rationiert waren und nur gegen entsprechende Bezugsmarken verkauft wurden, mussten diese beim Einkauf im Dorfkonsum von meiner Mutter abgeschnippelten und eingesammelten Marken für die Abrechnung wieder in eine brauchbare Form gebracht werden. Sie wurden auf Papierbögen mit einem übelriechenden Büroleim aufgeklebt. Mein Vater, der seine Stelle als E-Lokfahrer aufgegeben hatte und inzwischen auch beim Konsum im benachbarten Dorf Oßmaritz arbeitete, war der Anführer dieser »Klebefeste«. Er war ziemlich pedantisch und hatte immer einen Kopierstift hinter dem Ohr, den er bei Benutzung auch vor dem Schreiben


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