Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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kam es vor, dass die Einwohner der Siedlung von Polizisten vorher gewarnt wurden. Mein Großvater Hans entging auf eine solche Weise einmal einer drohenden Verhaftung. Bei einer anderen Haussuchung kamen sie nur durch die Umsicht eines Polizisten mit einem blauen Auge davon. Während die SA-Männer die Wohnung durchwühlten, kam Mutters kleine Schwester Inge mit einem Abzeichen der damals schon verbotenen »Eisernen Front«, einer von Sozialdemokraten dominierten Wehrorganisation zur Verteidigung der Weimarer Republik, auf den an der Tür stehenden Polizisten zu und zeigte es ihm. »Stecken Sie das ganz schnell weg, ich habe das nicht gesehen!«, sagte er leise, nahm das Abzeichen mit den drei Pfeilen auf rotem Grund der Kleinen aus der Hand und gab es meiner erschrockenen Großmutter.

      Großvater hatte in der Mühle in Rutha bei Jena den Müllerberuf erlernt. Dort verlor er bei einem Arbeits­unfall ein Bein, was ihn seelisch schwer belastete. Schließlich kam es auch zu Spannungen mit meiner Großmutter, die sich einem anderen Partner zugewandt hatte. Er nahm sich das Leben. Meine Mutter, die ihren Vater sehr geliebt hatte, verließ nach einer kurzen Lehre als Kontoristin Leipzig und zog mit sechzehn Jahren zu ihrer Großmutter Elsa nach Thüringen. Später holte sie auch ihre Schwester Inge nach Jena. Mutter meinte immer in übertriebener Manier, ich sei meinem Großvater »wie aus dem Gesicht geschnitten«.

      Zu meiner Großmutter entwickelte ich nie eine enge Beziehung, obwohl ich ihr später mehrmals begegnete. Nach dem Tod von Urgroßmutter Elsa kam sie aus dem Westen, um ihr Erbteil abzuholen. Das bestand im Wesent­lichen aus einem Porzellanservice, das sie für besonders wertvoll hielt. Etwas anderes interessierte sie nicht. Der Wäschekorb mit dem verpackten Geschirr stand bei uns einige Tage auf der Treppe. Irgendwann nahm meine Mutter einen großen Kuchenteller mit einem schönen Blumendekor an sich als Andenken an ihre Oma. Dieser Teller steht heute bei mir im Schrank neben einem Buch über die fast vergessene Biologin und Naturforscherin Amalie Dietrich, einer Zeitgenossin Goethes. Das Buch hatte meine Urgroßmutter zur Hochzeit bekommen. ­Später, nach dem Machtantritt der Nazis, verschenkte man lieber Hitlers Mein Kampf an junge Eheleute. Der Amalie-­Dietrich-Band war neben einem »Doktorbuch« wohl das einzige Druckwerk, was sie zeitlebens besessen hatte, die Bibel natürlich ausgenommen.

      Bei ihrem Besuch beschuldigte mich meine Westoma, Westgeld von ihr geklaut zu haben. Sie war etwas klamm, denn man hatte ihr an der Grenze das meiste Geld abgenommen. Das hatte sie vorsorglich in ihren Mantel eingenäht, und sie zeigte dem Grenzer auf Nachfrage ein altes geflicktes Portemonnaie mit ein paar Pfennigen darin. Dem Kontrolleur kam das bei dieser eleganten Frau im Pelzmantel merkwürdig vor. Sie wurde gründlich gefilzt. Die neuen Nähte am Saum des Mantels verrieten, wo das Geld steckte, und damit war es weg. Was das angeblich von mir gestohlene Westgeld anbelangt, so erwies sich ihre Anschuldigung als haltlos. Es handelte sich um ein Fünfmarkstück mit dem Bildnis von Kaiser Wilhelm, das ich von einem Freund gegen irgendetwas eingetauscht – wir sagten »geduggelt« – hatte. Später fiel diese Münze ersten chemischen Experimenten zum Opfer, als ich sie in Salpetersäure auflöste, um dann daraus wieder reines Silber zu gewinnen. Dabei ging der Kaiser Wilhelm verloren. Ich weinte nicht um ihn.

      Die Firma Carl Zeiss Jena benutzte schon sehr früh das von Herman Hollerith in den USA 1889 erfundene Lochkartensystem zur Lohnabrechnung. Hier begann Mutter, 1940 – mit sechzehn Jahren – als Lehrmädchen zu arbeiten. In diesem Betrieb überstand sie auch den letzten großen Luftangriff amerikanischer und englischer Bomber am 19. März 1945 im Keller der Petroleumschleiferei, der mit bis zum Rand gefüllten Petroleumfässern bis an die Decke vollgestapelt war. Petroleum wurde zusammen mit Eisenoxid zum Präzisionsschleifen der optischen Linsen verwendet. Durch die Präzisionsarbeit der amerikanischen Bomberpiloten gelang ein Kunststück, und nur eine Handvoll Bomben fiel auf das Werksgelände in der Innenstadt und richtete dort keinen großen Schaden an, aber das mittelalterliche Stadtzentrum ging im Feuersturm der Phosphor-, Brand- und Sprengbomben unter. Die amerikanische Hollerith-Technologie hatte meiner Mutter gewissermaßen das Leben gerettet. Achthundert Jenenser waren im Bombenhagel umgekommen. Als Anfang der 1970er Jahre das neue Zeiss-Hochhaus gebaut wurde, welches später in den Besitz der Universität kam, grub man den Keller einer Eckkneipe aus, nur wenige Hundert Meter von dem Gebäude entfernt, in dem meine Mutter das Inferno überlebt hatte. Die in dem Keller aufgefundenen Leichen der Verschütteten saßen noch staubbedeckt auf einer Bank an der Wand zwischen Stapeln von Bierkästen.

      Zwischen dem 13. April und dem 1. Juli 1945 nutzten die Amerikaner dann die Gelegenheit, das dank ihrer chirurgischen Bombardierung nahezu unversehrte Werk um alles für sie Nützliche zu erleichtern. Der Maschinen bedurften sie nicht. Sie brauchten Patente, Zeichnungen, Konstruktionsunterlagen und Fachleute. Die Rote Armee fragten sie natürlich nicht um Erlaubnis. Eigentlich gehörte den Sowjets die Kriegsbeute. So hatten sie es gemeinsam im Februar 1945 in Jalta vereinbart. Aber da waren die Interessen noch andere. Eigentlich begann der Kalte Krieg schon am 8. Mai 1945.

      Meine Eltern hatten sich im Dezember 1944 in unserer Dorfkirche in Ammerbach das Jawort gegeben. Das war Tradition. Schon Urgroßmutter Elsa und ihr Mann Richard waren 1903 hier getraut worden und Großmutter Martha und Großvater Hans 1923 ebenso.

      Vater war nach seinen vier Kriegsverwundungen als Ausbilder in die große Wehrmachtskaserne in Jena-Zwätzen abkommandiert worden. Als Feldwebel machte er mit 1,90 Meter Länge eine stattliche Figur, aber das reichte auch nicht mehr für den Endsieg. Nach einem kurzen Hochzeitsurlaub im Sudetenland, eigentlich in Mähren, bei seinen Eltern, brachte ihm eine Befehlsverweigerung eine Strafversetzung ein. Welchen Befehl er verweigert hatte, habe ich nie erfahren. Jedenfalls schickte man ihn an die Oderfront nach Küstrin.

      Es gab nur zwei gestandene Soldaten in der Kompanie – mein Vater und sein Kriegskamerad aus der Kaserne in Zwätzen. Alle anderen waren junge Rekruten. Am 16. April­

       eröffnete die Rote Armee mit einem gigantischen Artilleriefeuer auf die deutschen Stellungen den Angriff auf Berlin. Nach einer halben Stunde war von der Kompanie nur noch eine Handvoll Soldaten am Leben. Mein Vater und sein Kamerad schickten die jungen Soldaten nach Hause. Der Krieg sei für sie beendet. Wenn sie dablieben, würde keiner von ihnen die nächste Attacke überleben. Nun waren sie nur noch zu zweit. Als die Truppen der Roten Armee abermals angriffen, zogen auch sie sich zurück. Mein Vater war erneut verwundet worden. Sie liefen buchstäblich um ihr Leben. Als sie eine Landstraße überquerten, sahen sie ihre Jungs wieder. Die SS hatte sie als Deserteure an den Straßenbäumen erhängt. Das hat meinen Vater für den Rest seines Lebens schwer belastet. Er fühlte sich schuldig am Tod der jungen Rekruten.

      Sein Kamerad und er gelangten schließlich auf der Flucht vor der Roten Armee von Küstrin an der Oder über ein Lazarett in Berlin-Spandau zu Fuß bis nach Hamburg. Am 4. Mai 1945 geriet mein Vater in Travemünde in britische Gefangenschaft. Als Verwundeter wurde er schließlich im Juli 1945 aus dem Internierungslager Eutin entlassen. Um nach Jena zu kommen, musste mein Vater über die Zonengrenze, damals allerdings von West nach Ost. »Wiedereinreise in die britische Zone unerwünscht«, stand auf seinem Passierschein. Im August 1945 kehrte er endlich zurück nach Ammerbach.

      Dem Dorf hatte der Krieg keine sichtbaren materiellen Schäden zugefügt, von einigen zerborstenen Dachziegeln abgesehen, die herabregnende Flaksplitter verursacht hatten. Auf der Coppanzer Höhe oberhalb des Dorfes befanden sich schwere Flakstellungen, die die Aufgabe hatten, die Bombardierung Jenas und der Zeiss-Werke zu verhindern. Besetzt waren sie mit Hitlers letztem Aufgebot: sechzehnjährigen Flakhelfern. Die erste Welle der Bomber kam am 19. März 1945 genau über diese Höhen und pulverisierte in wenigen Minuten diese Stellungen. Eine einzige Bäuerin aus dem Dorf spannte nach dem Luft­angriff auf die Coppanzer Höhen ihre Pferde ein, rumpelte hinauf auf den Berg, holte die jungen Kerle, die überlebt hatten, aus den zerstörten Stellungen und versteckte sie in ihrer Scheune. Später suchten diese dann – von ihr mit Zivilkleidern versorgt – das Weite. Das war ein lebensgefährliches Unterfangen. Irgendwann, als es wieder ruhiger war, machte sich auch der Schuster des Dorfes auf den Weg hinauf. Seine Beute waren blau-weiß karierte Federbetten, ein Spind und zwei Feldtelefone mit Zubehör. Mehr passte nicht auf sein Wägelchen. So zumindest hat es mir meine Mutter später erzählt. Die Frau des Schusters, von allen »die Schustern« genannt, war ihre Großtante.

      Die Wälder um Ammerbach waren noch lange unsicher. Bauernjungen aus dem Dorf fanden beim Holzeinfahren im Wald eine Panzerfaust,


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