Der Fälscher. Günter Pelzl

Der Fälscher - Günter Pelzl


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Kapitel

      Ich werde Chemiker • Ein Freund fürs

      Leben • Die Sphäre Gottes • Brennende Probleme • Der Rosenkeller • Bierfassrollen und Jazz • Dersu Usala am Ropotamo • Der Prager Frühling in Budapest

      Am 1. September 1967 nahm ich mein Chemiestudium auf. Wir waren knapp hundert Studienanfänger. Zusammengefasst waren wir in Seminargruppen mit je einem Assistenten. In diesen Gruppen fanden auch die Seminare zur Vertiefung des Stoffs der Vorlesungen statt. Diese Lerngemeinschaften blieben das ganze Studium organisatorisch zusammen, was durchaus den Vergleich mit der gerade beendeten Schule zuließ und später als »Verschulung der Universität« kritisiert wurde. Wir sahen das aber nicht so, sondern begannen unverzüglich, unsere regelmäßigen Seminargruppenfeten zu organisieren. Inhalte und Methoden wurden von den oberen Studienjahren übernommen. Wenn es Traditionen gab, musste man nicht unbedingt etwas Neues erfinden.

      Die relativ hohe Zahl an Chemiestudenten ergab sich aus dem Plan der Regierung, in verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften Großforschungszentren zu errichten. Das Zentrum für Chemie sollte in Leuna entstehen. Da das Chemiestudium fünf Jahre dauerte, war es erforderlich, die entsprechende Zahl von Wissenschaftlern langfristig vorher auszubilden. Regierungschef war zu der Zeit Walter Ulbricht, und es war wohl dem Grunde nach seine Idee.

      Eingebettet war das Ganze in die Dritte Hochschul­reform der DDR. Sie strebte eine umfassende Umgestaltung der Hochschulen an. Alle bürgerlichen Zöpfe sollten abgeschnitten werden. Das Studium wollte man im Rahmen der Hochschulreform von fünf auf vier Jahre verkürzen. Wir waren als Studenten daran nicht unbeteiligt und wurden aufgefordert, mitzumachen. Stundenlang diskutierten wir mit Professoren und Hochschullehrern über Studienpläne und Praktika.

      Mit vertreten war die damals jüngste Professorin der DDR, Prof. Dr. Helga D. Das imponierte mir, denn sie war nicht viel älter als wir. Man erzählte sich von ihr, dass sie auf einer Dienstreise nach Berlin bei einer Reifen­panne aktiv beim Radwechsel mit zupackte, was sichtbare Spuren an ihrer festlichen Garderobe hinterließ. Damals ahnte ich noch nicht, dass sie wenige Jahre später meine Gutachterin für die Promotion sein und ich vorher mit ihr in einen heftigen politischen Streit geraten würde.

      Wir Studierenden freuten uns, dass wir gefragt wurden und man Wert auf unsere Meinung legte. Im November 1967 hatten Studenten der Uni Hamburg bei der Einführung eines ungeliebten neuen Rektors ein Transparent enthüllt: Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren! Wir waren sicher, dass wir es besser konnten. Einige Zeit nach der Wende hatten wir ein Studienjahrestreffen und besuchten auch das »Traditionskabinett« der Universität. Angesichts der dort ausgestellten Devotionalien raunte mir unser alter Professor Egon U. eben diesen Satz über den Muff unter den Talaren zu. Er wusste, wovon er sprach.

      Für jedes Studienfach in der DDR gab es feste Zulassungszahlen. Zugelassen wurde in der Regel nach den Ergebnissen der Aufnahmeprüfungen. Wir hatten also auch Pfarrerskinder und christlich orientierte Studenten im Studienjahr. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an zwei Mitschülerinnen aus der Erweiterten Oberschule. Die eine hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt Arabistik zu studieren. Dieses Fach gab es damals nur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aufgenommen wurden aber nur zwei Bewerber. Sie schaffte das tatsächlich und arbeitete später in Kairo. Die andere hatte mich einmal mitleidig wegen meines arg ramponierten Portemonnaies angeblickt: »Wenn ich einmal Opernsängerin bin, kaufe ich dir von meiner ersten Gage ein neues!« Auch sie schaffte ihr hochgestecktes Ziel. Auf das Portemonnaie warte ich noch heute. Meinetwegen hätte es auch leer sein können.

      Wer jemals das Industriegebiet Leuna in den 1960er Jahren gesehen hat, wird bestätigen können, dass diese Gegend nicht zu den landschaftlich schönen Gebieten gezählt werden konnte. Als wir einmal als Studenten eine Informationsreise nach Leuna unternahmen, besichtigten wir auch die chemischen Labors. Sie hinterließen auf mich einen niederschmetternden Eindruck. Meine Vorstellung von der Arbeit eines Chemikers in der Industrie war wohl zu romantisch. Aber noch war es nicht so weit mit diesen Forschungszentren.

      In meiner Seminargruppe freundete ich mich mit einem Studenten an. Er war lang und dünn und ein begeisterter Basketballspieler. Albrecht war sehr klug und stand gewissermaßen über dem Stoff. Die Gegend, aus der er kam, war die Lausitz, und im Vergleich dazu war Jena eine Großstadt im Gebirge. Wir hatten beide genügend Zeit und viele gemeinsame Interessen. Ich wohnte zu Hause bei meinen Eltern, er im Studentenwohnheim. An den Wochenenden blieb er häufig in Jena. Die anderen Studenten fuhren nach Hause. Seine Bindungen an die Familie waren wohl nicht so eng, aber darüber schwieg er sich aus. Meine Mutter mochte ihn auch und lud ihn oft am Wochenende zu uns zum Mittagessen ein.

      Alle Studenten – auch die *innen – bekamen 180 Mark ­Stipendium unabhängig von der Vermögenslage der Eltern. Davon konnte man locker die 10 Mark für das Wohnheim und die Essenmarken für die Mensa begleichen. Ein kleines Bier kostete 49 Pfennige und eine Bratwurst mit Brötchen 1,05 Mark. Relativ teuer waren die Fachbücher, vor allem dann, wenn sie aus dem Westen kamen. So kostete zum Beispiel der sogenannte Cotton/Wilkinson, ein Lehrbuch mit dem Titel Anorganische Chemie, um die 50 Mark. Das Lehrbuch für die Organik des US-amerikanischen Chemiker-Ehepaars Fieser war ebenso teuer. Das war aber auch noch erträglich, zumal Anorganische Chemie und Organische Chemie zeitlich auseinanderliegend gelehrt wurden. Oft wurden dann die Bücher von älteren Semestern an jüngere zu günstigeren Preisen verkauft.

      Die Fiesers waren mir von Anfang an als Erfinder des Napalms suspekt. Napalm warf die US-Armee gerade über Vietnam ab, um die gooks auszuräuchern. gooks ­waren in den Augen der Amerikaner auch die Vietnamesen des Südens, die um ihre Freiheit kämpften. Die deutschen Nazis hatten sich da verständlicher ausgedrückt. Sie nannten Menschen, die nicht ihren rassistischen Maßstäben entsprachen, einfach »Untermenschen«. Wissen­schaftlich war an dem Buch der Fiesers nichts auszusetzen, Poli­tisches stand nicht drin. Trotzdem kaufte ich mir das Buch nicht, das mit dem Napalm nahm ich den Fiesers übel.

      Dass Wissenschaftler sich an verantwortlichen Stellen an Kriegen beteiligten, war mir nicht neu, und eine ­Liste dieser Berühmtheiten wäre lang. Ich will nur an den ­Nobelpreisträger Fritz Haber erinnern, der so nebenbei für das Deutsche Reich den Giftgaskrieg erfand. Da war ich aber inkonsequent. Die Haber-Bosch-Synthese zur Herstellung von Ammoniak aus Luftstickstoff lernte ich auswendig.

      Etwas anderes war es dagegen mit dem Lehrbuch der Anorganischen Chemie des Duos Holleman-Wiberg aus dem Westen. Ganz zum Schluss gab es ein kleines Kapitel über die Chemie der radioaktiven Elemente. Die Autoren beschlossen es mit dem Satz: »Man hüte sich aber, weiter in die Geheimnisse der Radioaktivität einzudringen, da man dann die Sphäre Gottes verletzt.« Damit schossen sich die Herren Chemiker freiwillig ins Bein. Mir ist es heute noch unverständlich, wie man als Wissenschaftler auf eine solche Idee kommen kann. Sonst aber war das Buch ohne Tadel. Klugheit, auch wenn sie noch so groß ist, schützt also nicht vor kapitalen Irrtümern.

      Nicht einmal vier Wochen nach Studienbeginn wurde ich aus dem Labor zum Fachbereichsleiter gerufen. Er kam ohne Umschweife zur Sache und fragte mich nach meiner Reise nach Polen. Ich erzählte ihm, wie ich in diese missliche Lage gekommen war. Ich hatte den Eindruck, dass er der Sache keine große Bedeutung beimaß – und so war es auch. Er teilte mir mit, dass das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden sei. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Seine Ermahnungen, in Zukunft besser vorher nachzudenken, quittierte ich mit einem Kopfnicken. Nach nicht einmal zehn Minuten war ich wieder im Labor.

      Das erste Studienjahr verging schnell, es gab viel Neues, und das Arbeiten im Labor machte Spaß. Das Institut für Anorganische Chemie war vor 1945 Amtsgericht gewesen. Das nebenan gelegene Untersuchungsgefängnis hatte seine Funktion behalten. Das führte manchmal zu Irritationen, da sich die Einsitzenden über den Gestank beschwerten, der aus den Abflüssen in ihren ­Zellen aufstieg. Die Gebäude hatten wohl ein gemeinsames Abwasser­system.

      Benötigten wir im Labor einmal eine längere Pause, reichte es, drei Bunsenbrenner unter die Brandmelde­anlage zu stellen. Ertönte die Sirene, stellten wir sie wieder an ihren alten Platz und uns dumm. Das Haus wurde evakuiert, und wir hatten unsere Rauchpause.

      Einmal geriet mein Freund Albrecht in Brand. Er hatte sich zu nahe an einen Brenner


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