Der Sonderermittler. Hans Becker

Der Sonderermittler - Hans Becker


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diesen Gedanken immer wieder verdrängt haben und stets wieder ihren Todeswunsch im Sinn gehabt haben, aber auch andauernd wieder ihre Angst vor dem Tod oder dem kalten Wasser in den Hintergrund gedrängt haben, mit dem festen Entschluss, ich gehe in den Fluss, wenn der Rucksack gefüllt ist. Wegen dieser Gedanken kann sie ihren Tod vom Füllstand des Rucksackes abhängig gemacht haben und deshalb immer kleinere Steine gesammelt und oben in den Rucksack gelegt haben.«

      Diese Deutung überraschte mich. Ich hatte noch nie eine solche Interpretation der Fakten erlebt. Einmal hatte ich einen Film gesehen, wo aus der Deutung einer Zeichnung eines ermordeten Kindes die von ihm abgebildeten Igel als das Lockmittel ihres Mörders »Schokoladentrüffel« gedeutet worden waren. Der Film mit Gert Fröbe heißt Es geschah am helllichten Tag.

      Ich sagte ihm sofort, dass ich diese Deutung schlüssig fand. Auch der anwesende Staatsanwalt und der Assistenzarzt Dr. Bunk äußerten sofort Zustimmung. Wir besprachen noch mehrere Minuten diese Theorie und suchten nach anderen Varianten. Aber wir fanden keine andere Hypothese.

      Damit hatten wir die Vermisstensache als sehr wahrscheinlichen Suizid erkannt. Wir wussten aber nicht, warum ein junger Mensch ohne einen bisher von uns erkennbaren Grund aus dem Leben geschieden war. Deshalb beschlossen wir sofort, nochmals Ermittlungen in diese Richtung aufzunehmen. Jetzt gleich nach der Diskussion, buchstäblich noch an der Leiche der jungen Frau stehend.

      Nun hatten wir einen schweren Gang vor uns. Wir mussten die Eltern vom Auffinden ihres toten Kindes verständigen. Das waren immer sehr ergreifende, emotionsgeladene Gespräche, welche oft über Stunden verliefen. Wie sollten die Eltern begreifen, warum das alles geschehen war? Auf dieses Warum hatten auch wir keine Antwort. Obwohl wir schon mehrmals solche Gespräche mit Angehörigen in einem Selbsttötungsfall geführt hatten, waren wir auch diesmal wieder erschüttert von der Tatsache, dass etwas geschehen war, das keiner begreifen und verstehen konnte.

      Hauptmann Grothe und ich gingen, wenn es unsere berufliche Situation ermöglichte, immer gemeinsam mit dieser Nachricht zu den Angehörigen. Nie hat er mich als Vorgesetzter allein in eine solche schwierige Situation geschickt, wie er es durchaus auch gekonnt hätte. Wir untersuchten gemeinsam und gingen auch die schwierigen Schritte gemeinschaftlich.

      Nach langer Zeit unter Tränen und Fragen, die wir nicht beantworten konnten, sicherten wir den Eltern zu, ihre Tochter zu einer Verabschiedung vor der Beisetzung herrichten zu lassen und sie dann zu ihr zu begleiten. Eine persönliche Identifizierung der Leiche war aufgrund der Übereinstimmung der Bekleidung und des Rucksackes nicht nötig. Wir sicherten aber zu, sie auch beim Abschied von ihrem Kind zu begleiten und sie auch in dieser schweren Stunde nicht allein zu lassen. Dieses Versprechen gaben wir Angehörigen immer. Wir wussten, wie furchtbar es war, sich von Angehörigen zu verabschieden, egal ob sie durch Unfall, Suizid, natürlichen Tod oder Verbrechen zu Tode gekommen waren. Unsere Teilnahme an Verabschiedungen war ein Teil unseres schwierigen Berufes. Aber wir wussten auch, wie dankbar die Angehörigen waren, wenn wir sie in dieser schweren Stunde nicht allein ließen.

      Die Eltern waren fassungslos über die Erkenntnis, dass ihre Tochter freiwillig aus dem Leben gegangen war. Sie hatten keine Erklärung. Als wir in den folgenden Tagen, in der Zeit vor der Verabschiedung von ihrer Tochter, im studentischen Kreis wieder nach einem Hinweis auf ein Motiv forschten, begegnete uns nur Fassungslosigkeit. Keiner konnte einen Hinweis geben. Leider blieb es so bis zur Beisetzung, und auch danach kam nirgendwo eine Vermutung für den Grund des Geschehens auf. Das Geheimnis ihres Todes blieb ihr Geheimnis.

      In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Kriminalist habe ich nie wieder von einem vergleichbaren Phänomen gehört, gelesen oder gesehen. Vielleicht ist hier die uralte Erkenntnis, alles geschieht irgendwann und irgendwo zum ersten Mal, bestätigt worden.

      Doch gelegentlich erleben wir, dass es zwischen Himmel und Erde Geschehnisse gibt, von denen wir nichts oder nur wenig wissen und keine Möglichkeit haben, dabei unsere kriminalistischen Erkenntnisse zu optimieren.

      Mord im Hotel Radeburg

      Ich möchte eine weitere Morduntersuchung schildern, nicht nur wegen der Schwierigkeit bei der Aufklärung, sondern vorrangig deshalb, weil im Gefolge der Mordaufklärung eine Idee geboren wurde, welche noch heute in der Arbeit der Kriminalpolizei fest verankert und nicht mehr wegzudenken ist.

      Am 5. November 1964 wurden wir, die gesamte MUK der Bezirksbehörde Halle, befehlsgemäß nach Radeburg bei Dresden in Marsch gesetzt. Es war erstmalig, dass wir außerhalb der Grenzen des Bezirks Halle eingesetzt wurden.

      Der unmittelbare Einsatzort war ein Hotel in Radeburg. Wir wurden vom Leiter der MUK Dresden vor Ort empfangen, begrüßt und mit der Lage vertraut gemacht. Die Eigentümer und Betreiber dieses Hotels waren, nachdem sie zunächst mehrere Tage als vermisst galten, es dann aber konkrete Anhaltspunkte in großer Zahl für ein an ihnen begangenes Tötungsverbrechen gab, nach tagelangen Suchmaßnahmen ermordet aufgefunden worden.

      Das Hotel verfügte nicht nur über viele Zimmer, sondern auch über eine Bar, eine Gaststätte und einen Tanzsaal. Das gesamte Gebäude war unterkellert. Hier lagen große Mengen Lebensmittel, Spirituosen und Rauchwaren. Die Eigentümer Elsa und Paul T. hatten eine eigene Wohnung im Hotel.

      Der Leiter der MUK Dresden, Hauptmann Wolf, führte uns durch alle Räumlichkeiten. In der Wohnung der Opfer war ersichtlich, dass beide offensichtlich im Schlaf überrascht und auch getötet wurden. Das Bettzeug und auch die Bettvorleger waren massiv mit Blut behaftet. Vor der Wohnungstür endeten die deutlich erkennbaren, mit Blut gezeichneten Schleifspuren. Der Täter hatte beide Leichen in ein unbekanntes Versteck gebracht.

      Die Durchsuchung aller Räumlichkeiten führte zunächst nicht zum Auffinden der Leichen. Aber dann waren die Einsatzkräfte auf eine unscheinbare Brettertür, etwa halb so groß wie eine normale Tür gestoßen, die an der rechten Seite der Treppe, die in den Keller führte, angebracht war. Von der Wohnung oben im Gebäude bis an die Brettertür waren keine Blutspuren vorhanden. Diese Tür war der Zugang zu einem Hausbrunnen, wie er früher in vielen Gebäuden vorhanden war. Tief unten, etwa sechs bis acht Meter tief, war Wasser zu sehen, wenn mit einer Lampe hineingeleuchtet wurde. So konnte aus dem Brunnen mit einem Eimer Wasser nach oben gezogen werden. Eine Spindel war nicht vorhanden.

      Bei der Durchsuchung des Gebäudes hatte man zwar die Tür geöffnet und hineingeleuchtet, aber nur die Wasseroberfläche gesehen. Da die Durchsuchung des Hotels keine Anhalte bot, wo beide Leichen sein konnten, wurde mit Einsatzkräften der Feuerwehr der Brunnenschacht unterhalb der Wasserfläche untersucht. Es hatte sich herausgestellt, dass etwa einen halben Meter unter der Wasseroberfläche ein Holzgitter vorhanden war. Dort fanden sich schließlich die beiden Leichen, deren Bergung dann eine komplizierte Aktion erforderlich machte. Die Leichen hatten das Holzgitter zertrümmert und die Holzteile hatten sich dabei in die Körper gebohrt.

      Nach mehreren Stunden schwerster Arbeit hatte die Feuerwehr endlich die Leichen geborgen. Bei der sofort erfolgten Besichtigung wurde erkannt, dass beide Opfer offensichtlich mit einem hammerähnlichen Werkzeug durch viele Schläge auf den Kopf getötet worden waren.

      So schwierig die Bergung der Leichen war, so wichtig war dieser Brunnen als Hinweisgeber auf den unbekannten Mörder: Er musste mit den Örtlichkeiten des Hotels sehr vertraut sein. Ein zufällig handelnder Mörder hätte diesen Brunnen nicht gekannt.

      Aber hier begannen auch schon die Schwierigkeiten der Aufklärung. Jeder Kellner oder jeder Lieferant von Lebensmitteln oder Getränken, die im Keller lagerten, konnte Kenntnis vom Brunnen haben. In zweiter Reihe natürlich jede Kontaktperson des Personals oder der Zulieferer. Die Vorbesitzer schieden aus biologischen Gründen aus. Natürlich war denkbar, dass auch mancher Besucher des Hotels oder der Gaststätte irgendwie Kenntnis über den Brunnen erlangt haben könnte.

      Hauptmann Wolf, der MUK-Leiter aus Dresden, bat uns, gemeinsam mit ihm und seinem Techniker jeden Raum des Hauses, jeden Einrichtungsgegenstand zu besichtigen, um daktyloskopische Spuren (Finger- oder Handabdrücke) zu finden.

      Und wir hatten Glück: In der Bar und am Tresen in der Gaststätte fanden wir mehrere Tassen mit in Blut gegriffenen Fingerabdrücken. Diese waren teilweise verwischt, aber viele waren ganz klar. Wir vermuteten, dass der Täter seine Handschuhe


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