Tausend Monde. Sebastian Barry
Sebastian Barry
TAUSEND MONDE
Roman
Aus dem Englischen von
Hans-Christian Oeser
Steidl
Für C
Manchmal ist sogar das Leben ein Akt des Mutes.
Seneca
Erstes Kapitel
Ich bin Winona.
In meinen ersten Lebensjahren war ich Ojinjintka, das bedeutet »Rose«. Thomas McNulty hatte sich ordentlich bemüht, diesen Namen auszusprechen, aber es wollte ihm nicht gelingen, und so gab er mir den Namen meiner toten Cousine, weil der ihm leichter von der Zunge ging. Winona bedeutet »Erstgeborene«. Die Erstgeborene war ich nicht.
Meine Mutter, meine ältere Schwester, meine Cousinen, meine Tanten, sie alle wurden getötet. Sie waren Angehörige des Stammes der Lakota, der einst auf den Prärien lebte. Ich war nicht etwa zu jung, um mich daran zu erinnern – vielleicht sechs oder sieben –, trotzdem konnte ich mich nicht erinnern. Ich wusste, es war geschehen, weil mich die Soldaten danach ins Fort brachten und ich ein Waisenkind war.
Ein kleines Mädchen macht so manche grundlegende Veränderung durch. Als ich zu meinem Volk zurückkehrte, konnte ich mich mit niemandem unterhalten. Ich weiß noch, wie ich mit den anderen Frauen im Tipi saß und ihnen nicht antworten konnte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mindestens schon dreizehn. Nach ein paar Tagen fand ich die Worte wieder. Die Frauen stürzten mir entgegen und umarmten mich, als wäre ich erst in diesem Augenblick bei ihnen angekommen. Wirklich sehen konnten sie mich nur, wenn ich unsere Sprache sprach. Dann holte Thomas McNulty mich wieder ab und brachte mich zurück nach Tennessee.
Selbst wenn du Blutbäder und Katastrophen überstanden hast, am Ende musst du lernen zu leben. Du musst dich umtun, schauen, wie’s um die Dinge steht, Dinge anbauen oder Dinge kaufen – wie’s gerade kommt.
Paris, Tennessee hieß das Städtchen in unserer Nähe. Lige Magans Farm lag etwa sieben Meilen außerhalb. Es war bereits etliche Jahre nach dem Krieg, doch in der Stadt lungerten noch immer raue Unionssoldaten herum, und die besiegten Grauröcke waren eine Art geheimer Präsenz, dabei steckten sie gar nicht mehr in ihren Uniformen. Vagabunden auf jeder noch so kleinen Nebenstraße. Und die Staatsmiliz, die ein wachsames Auge auf diese Vagabunden hatte.
Überhaupt war es eine Stadt mit vielen Augen, die einen beobachteten, ein unbehaglicher Ort.
Wenn du in einem Geschäft für Trockenwaren vorsprichst, um etwas zu erstehen, musst du dich des allerbesten Englisch befleißigen, oder es passiert etwas. Meine ersten englischen Wörter hatte mir Mrs Neale im Fort beigebracht. Später besorgte mir John Cole zwei Grammatikbücher. Die habe ich von vorn bis hinten durchstudiert.
Es ist schlimm genug, Indianerin zu sein, auch ohne dass man krächzt wie ein Rabe. Die Weißen in Paris konnten sich auch nicht alle gut ausdrücken. Einige stammten von weit her, waren Deutsche oder Schweden. Andere, wie Thomas McNulty, waren Iren und kamen erst, als sie nach Amerika gelangten, mit Englisch in Kontakt.
Aber als junge indianische Frau war es wohl nötig, so vornehm zu reden wie eine Kaiserin. Natürlich hätte ich auch die Einkaufsliste vorlegen können, die mir Rosalee Bouguereau, die auf Liges Farm arbeitete, zusammengestellt hatte. Aber besser war’s, den Mund aufzutun.
Andernfalls wäre ich jedes Mal, wenn ich in die Stadt kam, verprügelt worden. Was mich davor schützte, war die englische Sprache. Irgendein verzottelter Landarbeiter mochte einen Blick auf dich werfen, deine dunkle Haut und dein schwarzes Haar bemerken und der Meinung sein, das gebe ihm das Recht, dich zu schlagen und zu treten. Niemand hätte sich getraut, etwas zu sagen. Nicht einmal ein Sheriff oder Hilfssheriff.
Eine Indianerin zu schlagen war kein Verbrechen, ganz und gar nicht.
Auch John Cole, der doch als Soldat gedient hatte und ein anständiger Farmer war, wurde in der Stadt schlecht behandelt, weil seine Großmutter oder die Frau vor seiner Großmutter Indianerin gewesen war. Das stand ihm ein bisschen ins Gesicht geschrieben. Ihn schützte nicht einmal die englische Sprache. Er war ein großer, erwachsener Mann, vielleicht konnte er deshalb nicht immer auf Gnade hoffen. Wie die Leute, im Besonderen Thomas McNulty, immer wieder bekräftigten, hatte er zwar ein hübsches Gesicht, aber ich denke, manchmal konnten die Stadtbewohner eben doch das Indianische darin entdecken. Sie schlugen ihn grün und blau, und dann war er nur noch eine Planke des Leidens im Bett, und Thomas McNulty fluchte, er werde in die Stadt fahren und jemanden umbringen.
Doch Thomas McNulty hatte den Nachteil, arm zu sein. Wir waren alle arm. Selbst Lige Magan, dem doch die Farm gehörte, war ziemlich arm, und wir, die wir unter Lige arbeiteten, waren es erst recht.
Viel ärmer als Lige.
Wenn ein armer Mensch etwas tut, muss er es lautlos tun. Wenn ein armer Mensch zum Beispiel tötet, muss er es lautlos tun und so schnell davonlaufen wie die kleinen Rehe, die sich aus den Wäldern hervorgewagt haben.
Außerdem hatte Thomas wegen Fahnenflucht im Gefängnis von Fort Leavenworth gesessen, deshalb machten ihn die Uniformen in der Stadt nervös, obwohl er immer wieder beteuerte, er liebe die Armee.
Ich selbst stand gesellschaftlich unter Rosalee Bouguereau. Sie war eine schwarzhäutige Heilige von einer Frau, das kann ich Ihnen versichern. Sie ging immer mit dem Gewehr ihres Bruders los, um in dem Waldstück hinter Liges Farm Kaninchen zu schießen. In dem denkwürdigen – jedenfalls in unseren Augen denkwürdigen – Gefecht mit Tach Petrie, als der und seine Komplizen uns ausrauben wollten und unerbittlich auf unsere Farm vorrückten, hatte sie sich laut John Cole dadurch ausgezeichnet, dass sie die Gewehre so schnell nachlud wie niemand sonst.
Doch vor dem Krieg war sie eine Sklavin gewesen, und in den Augen der Weißen stehen Sklaven natürlich sehr tief.
Also stand ich noch viel tiefer.
In den Augen der Stadt war ich nur die verlöschende Glut eines Indianerfeuers. Der Großteil der Indianer war aus dem Henry County längst verschwunden. Cherokee. Chickasaw. Die Leute mochten es nicht, wenn glühende Asche zu ihnen zurückwehte.
In den Augen des Großen Mysteriums waren wir alle gleich. Versuchten, unsere Seelen so klein zu machen, dass sie ins Paradies passten. Das hatte meine Mutter gesagt. Was ich von meiner Mutter noch weiß, trage ich bei mir, wie ein Kind einen kleinen Beutel mit Dingen bei sich trägt, die ihm kostbar sind. Wenn eine solche Liebe vom Tod berührt wird, dann wächst in deinem Herzen etwas, das ungleich tiefer ist als der Tod. Meine Mutter machte viel Aufhebens um uns, um mich und meine Schwester. Sie interessierte sich dafür, wie schnell wir rennen und wie hoch wir springen konnten, und wurde nie müde, uns zu sagen, wie hübsch wir seien. Wir waren einfach nur kleine Mädchen, dort draußen in der Prärie, unterm Sternenzelt.
Manchmal sagte mir Thomas McNulty, ich sei so hübsch wie die Dinge, die er hübsch fand – Rosen, Rotkehlchen und dergleichen. Es waren mütterliche Reden, die er im Munde führte, denn damals hatte ich schon keine Mutter mehr. Seltsam, dass er als Soldat in den alten Kriegen viele Angehörige meines Volkes getötet hatte. Vielleicht hatte er ja sogar einen Teil meiner Familie getötet, er wusste es nicht.
»Ich war zu klein, um mich noch daran erinnern zu können«, sagte ich ihm dann. Natürlich stimmte das nicht, aber es lief auf dasselbe hinaus.
Früher war mir immer ganz sonderbar zumute, wenn ich ihn davon reden hörte. Dann begann ich, aus der Mitte meines Körpers heraus zu brennen. Ich hatte meine eigene kleine Damenpistole mit Perlmuttgriff, die mir der Dichter McSweny in Grand Rapids geschenkt hatte. Mit der hätte ich Thomas erschießen können. Manchmal dachte ich, ich sollte wirklich jemanden erschießen. Tatsächlich habe ich ja auch einen von Tach Petries Männern erschossen, nicht während des berühmten Gefechts, sondern ein andermal, als sie uns auf der Straße auflauerten – mitten durch die Brust. Und er hat auch auf mich geschossen, aber es war nur eine Prellung, keine Wunde.
Ich hatte eine Wunde – die, ein verlorenes Kind zu sein. Und sie waren es, die mich heilten, Thomas McNulty und John Cole.