Tausend Monde. Sebastian Barry

Tausend Monde - Sebastian  Barry


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Anwalt Briscoe zufolge lag Tennessee genau dort: zwischen dem Mississippi und den Appalachen. Das traf ja auch zu. »Zwischen den beiden Flüssen« war ein Ausdruck für West Tennessee, denn das lag zwischen dem Tennessee River und dem Mississippi.

      Der Anwalt Briscoe hatte, so konnte man es wohl bezeichnen, große Ideen über die Welt im Allgemeinen. Er begeisterte sich für »aus der Mode gekommene Anliegen«, wie er es nannte. Eines davon muss wohl ich gewesen sein. Er glaubte, vor langer Zeit habe der frühere Präsident Andrew Jackson den Chickasaw großes Unrecht zugefügt, indem er sie ins Indian Country vertrieb. Was Ulysses S. Grant, den jetzigen Präsidenten, betraf, so seufzte er oft über ihn. Der mochte ein guter Soldat gewesen sein, aber war ein guter Soldat auch ein guter Präsident?

      Der Anwalt Briscoe war mit einer Frau aus Boston verheiratet und hatte sieben Kinder, seine Frau hatte die Kinder jedoch wieder nach Boston mitgenommen. Dafür hatte er Lana Jane Sugrue, die ihm den Haushalt führte, und ihre beiden Brüder Joe und Virg, die mich damals zur Farm von Lige hinausgefahren hatten. Lana Jane kam aus Louisiana und benutzte Wörter wie couture und coiffure. Sie war sehr klein und trug, weil sie fast keine Haare mehr hatte, drinnen wie draußen einen Hut.

      Ich saß an meinem kleinen Tisch und führte die Bücher. Und um sechs Uhr kam John Cole mit dem Pferdewagen und holte mich ab, denn das Haus des Anwalts Briscoe lag am südlichen Ende von Paris, und es bestand keine Notwendigkeit, quer durch die Stadt Spießruten zu laufen. Angeregt durch die Stille der Fahrt, sprach John Cole von Neuengland, wo er geboren war, und von all den Abenteuern, die er in der weiten Welt gemeinsam mit Thomas McNulty bestritten hatte. Manchmal war er recht fröhlich und erzählte mir humorvolle Geschichten, meist aber war John Cole jemand, der nur ernste Dinge von sich gab.

      »Das ist das Wichtigste in der Welt«, sagte er. »Wer dir was antut, der hat nicht mehr lange zu leben.«

      Die Jahreszeiten gaben die Kulisse zu seinen Worten ab, und wenn es Winter war, hatte er den Mantel fast bis zu den schwarzen Funken seiner Augen zugeknöpft, genau wie ich, aber irgendwie hielt er das Gespräch stets in Gang, selbst an eiskalten Tagen.

      Wenn er sich in Thomas McNultys Nähe aufhielt, was er so oft tat, wie er es nur einfädeln konnte, sprach er kaum ein Wort.

      Thomas blieb immer ganz er selbst, sogar wenn er sich als meine Mama kleidete. Seine Stimme veränderte sich nicht, eigentlich auch sonst nichts. Nachdem er aus Kansas zurückgekehrt war, zog er nicht mehr so oft Frauenkleider an. Wenn der Anwalt Briscoe ein ’riginal war, dann war auch er eins. Thomas McNulty sagte immer, er komme aus dem Nichts. Das meinte er wörtlich. Alle seine Familienangehörigen waren in Irland gestorben, in weiter Ferne, genau wie meine in Wyoming. Sie waren verhungert, und viele Indianer waren an demselben Leiden zugrunde gegangen. Er sagte, er komme aus dem Nichts, jetzt aber lebe er unter Königen und Königinnen. Es kam ihm nie in den Sinn, dass auch wir ein Nichts waren.

      Wenn er von John Cole sprach, hatte er eine bestimmte Art, das Gesicht vorzustrecken, dann bewegte sich sein Kinn auf und ab wie der Kolben einer Maschine. John Cole war bei Thomas McNulty immer gut angeschrieben. Wenn er Dinge über ihn sagte, errötete er. Zwar waren es nur ganz gewöhnliche Dinge, doch sobald er sie äußerte, verfärbten sich seine Wangen.

      »Schätze, da müssen wir John Cole fragen«, sagte er, wenn es mal eine Auseinandersetzung gab. Dabei streckte er das Gesicht vor. Das meinte er gar nicht lustig, und doch musste ich immer lachen. Ich bin sicher, dass er mich lachen sah, aber er schenkte mir keine Beachtung. Jedenfalls fragte er nie, was mich denn so belustige. Und hätte er’s getan, hätte ich nicht antworten können.

      Mit Thomas McNulty konnte ich immer mühelos über alles reden – bis ich herausfand, wo meine Grenze war.

      Vielleicht war auch Rosalee Bouguereau traurig, als das Kleid beiseite gelegt wurde, war sie es doch, die als Königin im Hintergrund sämtliche Arbeitsschritte geleitet und sich zudem die Mühe gemacht hatte, hundert weiße Stoffstücke zurechtzuschneiden, sie zu kleinen Rosen zu drehen und am Ausschnitt anzunähen. Rosalee Bouguereau war, wie gesagt, bis vor kurzem eine echte Sklavin gewesen, doch falls der Gedanke daran sie quälte, ließ sie sich nichts anmerken, sie zeigte nur ihre Begabung für das, was man Glück nennen könnte.

      An dem Tag, als ich voller Blutergüsse nach Hause kam, war sie gar nicht glücklich. Tief erschüttert war sie, als sie mich säuberte. Sie musste mir zwischen die Beine greifen. Als Sklavin dürfte sie bei Frauen schon reichlich Verletzungen gesehen haben.

      Natürlich mochte man in West Tennessee keine Schwarzen, weder vor noch nach dem Krieg.

      »Die mögen’s nich, wenn ’n Schwarzer auf die Füße kommt«, sagte Lige Magan. »Is’ halt das Land der Grauröcke.«

      Lige hatte den unbekümmerten Humor des siegreichen Soldaten, dem die Tücken des Sieges aufgegangen sind.

      »Im Krieg«, sagte er, »war East Tennessee Lincoln-Land, die haben im Blau der Union gekämpft, genau wie wir – aber dieses West Tennessee? Nichts als Baumwollfelder und Konföderiertenröcke.« Er schüttelte den Kopf über dieses Stück Geschichte, als wäre es verwirrend und verworren, was es ja auch war.

      »Schätze, Grant is’ gar nich’ so übel«, sagte Thomas McNulty. »Kein Freund der Grauröcke.«

      Ulysses S. Grant war Rosalee Bouguereau herzlich egal, und so wie die Dinge sich entwickelten, hatte sie vielleicht recht damit. Sie wollte nur, dass ihre Pasteten genau so aus dem Backofen kamen, wie sie sich das wünschte, und dass wir uns an den Winterabenden, wenn die Witterung alle Träume ins Haus verbannte, wohlfühlten, und was sie ganz gewiss nicht wollte, war, mich nach allem, was ich durchgemacht hatte, säubern zu müssen, darauf würde ich gutes Geld wetten.

      Ihr Bruder Tennyson versuchte, ein eigenes Feld zu bestellen, und arbeitete ansonsten für Lige, und Lige zahlte Rosalee einen Lohn für ihre Tätigkeit im Haushalt, und so glaubte Rosalee, ihr eigener Herr zu sein. Oder doch so gut wie.

      Nach all den Jahren kann ich nicht berichten, dass sie in Paris willkommener gewesen wäre als John Cole oder ich; wenn sie in Paris durch die Straßen ging, musste sie die Augen niederschlagen. Doch sie nahm es auf sich, betrat die Kurzwarenhandlung allerdings so leise wie möglich durch die Hintertür. Ich behaupte, mit Bändern kannte sie sich besser aus als Ma Cohen, die Frau des Kurzwarenhändlers.

      An jenem Tag säubert sie mich mit der Anmut und dem sanften Gemurmel einer Mutter.

      Für eine Frau, die nie verheiratet war, wusste sie über die Ehe in mancher Hinsicht besser Bescheid als Thomas McNulty. Ich wusste in keinerlei Hinsicht Bescheid. Ich schätze, ein Pastor der Weißen hätte ein Mädchen auf die Ehe vorbereiten können; ich aber hätte eine derartige Unterweisung bestimmt nicht erhalten, da man mir als kleinem Mädchen verwehrt hatte, die Schule zu besuchen. Allerdings spielte das alles überhaupt keine Rolle, denn darum hatte sich Rosalee gekümmert. Sie erklärte mir, wie die Mechanik der Liebe funktionierte und was wohin gehörte und wie man das alles ertrug, und sie erklärte mir, was Männer höchstwahrscheinlich mochten und was höchstwahrscheinlich nicht. Damit war sie an den Grenzen ihres Wissens angelangt, dafür verbürge ich mich. Ihre Weisheit verdankte sie niemandem, eher der Tatsache, dass sie selbst eine Frau war und, wie gesagt, in ihren frühen Jahren in den alten Sklavenhütten gelebt hatte, die noch immer nordwestlich des großen Ackers auf Liges Farm standen und allmählich dem Unkraut und dem Wetter zum Opfer fielen. Früher hatten dort drei Dutzend Sklaven gehaust. Da drinnen, sagte sie, sei die Menschheit ein Buch ohne Deckel gewesen.

      Sie hatte eine kleine Emailleschüssel mit heißem Wasser und einen sauberen Lappen geholt und mich abgetupft. O Erbarmen! Sie wusste genau, was vorgefallen war, aber wenn ich mich recht erinnere, hatte keine von uns beiden Worte dafür. Die Sprache, die sie benutzte, war Sanftmut. Sie säuberte mich, dann legte sie beide Arme um mich, wiegte mich und sagte, ich sei ein so braves Mädchen und ich solle mir nichts daraus machen. Aber natürlich machte ich mir etwas daraus, schrecklich viel sogar. Was sie auch genau wusste. Rosalees Augen hatten die sonderbare halb gelbe, halb orange Farbe des Erntemonds; nie wieder habe ich bei irgendjemandem noch einmal solche Augen gesehen. Sie war eine gütige Frau, die lange Zeit so behandelt worden war, als wäre sie ein Nichts. Lige hatte die verstiegene


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