Tausend Monde. Sebastian Barry
auf den andern – wie ein Pferd im Stall, das das Bedürfnis verspürt, sein Gewicht zu verlagern.
»Ich bin erst vierzig«, sagte Thomas McNulty, obwohl er in Wahrheit gar nicht genau wusste, wie alt er war. »Und ich glaube, ein niederträchtiger Mensch …«, fuhr er fort, doch dann fehlten ihm die Worte.
»Sie glauben was?«, fragte der Anwalt Briscoe scharf.
»Ich glaube, ein niederträchtiger Mensch muss für das, was er Winona angetan hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte Thomas, »wo Sie schon danach fragen.« Plötzlich hatte er die Worte wiedergefunden.
»Das glaube ich auch«, sagte Rosalee Bouguereau. Der Anwalt Briscoe starrte sie einen Moment lang an. War er überrascht? Nein. In diesem Augenblick hatte Rosalee endlich den Kaffee zu ihrer Zufriedenheit aufgebrüht und die Kanne samt einem Becher, dessen Henkel sie sich an den Finger gehängt hatte, zu ihm gebracht.
»Ich denke, wir finden heraus, wer die Tat begangen hat, und erschießen den Mann«, sagte John Cole.
Thomas McNulty und Rosalee sahen einander zustimmend an. Thomas McNulty öffnete die Hände, wie um zu fragen: Wie wär’s damit, Mr Briscoe?
»Trinkt sonst keiner Kaffee?«, fragte der Anwalt Briscoe. Niemand antwortete, und so erlaubte er Rosalee, seinen Becher zu füllen.
»Haben Sie Melasse da?«, fragte er sie leise, als wäre er plötzlich an einem anderen Ort mit ihr, als wären wir anderen gar nicht vorhanden.
»Haste nich’ noch was von der Melasse aus New Orleans?«, sagte Lige Magan zu Thomas McNulty, trotz allem bestrebt, seinem Besucher zu gewähren, wonach es diesen verlangte.
»Hab sie weggeschüttet«, sagte Thomas McNulty grob.
»Mögen Sie Rohrzucker, Herr Richter?«, fragte Rosalee.
»Ja doch, ja«, antwortete der Anwalt Briscoe. »Und ich danke Ihnen, Miss Bouguereau. Übrigens bin ich kein Richter.«
Dann holte Rosalee den Zucker, tat etwas davon in den Becher, und der Anwalt Briscoe trank seinen Kaffee.
Solange er trank, sprach er nicht. Das tat auch sonst niemand. Jeder von uns drehte und wendete in seinem Gehirn, was gesagt worden war und was nicht.
Ich wusste nicht, was ich hören wollte. Wenn Hochwasser eine Farm überschwemmt, stürzen zahlreiche Bäume um, und die Pflanzen, sofern sie bereits hoch stehen, werden niedergedrückt. Die ärgste Überschwemmung wird noch das letzte Feld, ein ganzes Königreich, verheeren; es muss von neuem gepflügt und von neuem geeggt werden, und vielleicht ist es schon zu spät, um in dem betreffenden Jahr noch eine weitere Aussaat vorzunehmen. Hat man nach der Überschwemmung erst einmal seine Kleidung getrocknet, merkt man womöglich, dass man im kommenden Jahr nicht so viel zu essen haben wird wie in diesem. Aber es ist klar wie der Tag, dass man der Stärke der Flut, des Tornados oder des heftigen Sturms mit ebenso großer Stärke begegnen muss. Um aufzubauen, was zerstört wurde, um das, was aus seiner Verankerung gerissen und von seinem Haken getrennt wurde, wieder an seinen Platz zu tun.
Ruhig trank der Anwalt Briscoe weiter seinen Kaffee.
Sechstes Kapitel
Ich muss ein paar Dinge über Tennyson Bouguereau sagen. Denn der wurde zusammengeschlagen. Was damit zu tun hatte, dass er es war, der Jas Jonski eine Weile gefangen gehalten hatte. So wurde später geredet: ein Schwarzer, der Herr über einen Weißen gewesen sei. So etwas bezeichneten diese dummen Leute als aufmüpfig. Im Henry County gab es viele Leute, die dergleichen nicht hören konnten, ohne ihn bestrafen zu wollen. Die wussten, wie man’s anstellt.
Ich war mir sicher, dass Jas Jonski sich nicht scheute, in der Stadt seine Unschuld zu beteuern. Er gehörte zu einer Gruppe junger Männer in seinem Alter, die alles ausposaunten. Ausposaunten und Blech redeten.
Ich weiß noch, wie in den alten Tagen in der Prärie auch die jungen Lakota-Burschen gemeinsam unterwegs waren. Ich vermute, junge Weiße sind genauso. Ein Mädchen bleibt mehr für sich. Dennoch erinnere ich mich an die drei Tage Tanz, wenn ein Mädchen endlich ihren Mond bekam. An das Lakota-Wort kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es bedeutete »Mond«. Ich erinnere mich an das Singen und Tanzen und daran, wie stolz man auf die junge Frau war. Als ich meinen Mond bekam – ich muss wohl zwölf oder so gewesen sein –, war ich schon nicht mehr bei meinem Volk, ich war beim Dichter McSweny in Grand Rapids, während Thomas McNulty und John Cole in Kriegsdingen unterwegs waren. Der Dichter McSweny war dunkelhäutig, genau wie Rosalee, und ein berühmter Türsteher am dortigen örtlichen Theater. Als ich meinen Mond bekam, glaubte ich, ich müsse sterben, und er glaubte es auch. Damals war er an die neunzig Jahre alt, hätte es also besser wissen sollen. Aber wir zwei da in seinem Haus waren unwissende Geschöpfe. Er rannte zu Doc Ganley, der ein paar Türen weiter wohnte, und der Doc kam mit ihm zurückgerannt, und als er sah, wie’s um mich bestellt war, musste er lachen. Der Dichter McSweny wurde über die Tatsachen des Lebens aufgeklärt und musste eines seiner alten Bettlaken zu Binden schneiden. Das war’s aber auch schon. Kein Tanz, kein Gesang und keine Frauen, die wussten, was zu tun war.
Jas Jonski war jung wie alle anderen jungen Männer, die je gelebt haben, ob weiß, ob schwarz, ob rot. Damals wusste ich nicht, ob er es war, der Tennyson Bouguereau in der Stadt gesehen hatte. Denkbar wäre es. Unser Pferdewagen wurde halb umgestürzt im Wald aufgefunden, und die arme, noch angeschirrte Jakes, unsere beste Stute, zitterte traurig. Wenn ich mich recht erinnere, war die Stelle nicht allzu weit vom Haus des Anwalts Briscoe entfernt, und so führten einige Männer Pferd und Wagen dorthin, und ich denke, sie waren der Meinung, ihrer Pflicht damit Genüge getan zu haben. Dem armen Schwarzen, der bewusstlos auf der Straße lag, schenkten sie nicht die geringste Beachtung.
Falls Sie sich je ein Bild des Leidens gewünscht haben sollten – ein reisender Fotograf hätte eine Daguerreotypie von Rosalee Bouguereaus Gesicht anfertigen können, als sie die Nachricht erhielt. Ich stürzte auf sie zu und zog sie an mich. Sie weinte ohne Unterlass.
»Schon gut, Rosalee, sei still«, sagte Lige Magan, »wenigstens isser nich’ tot.«
Später in jener Nacht kamen John Cole und Lige Magan mit Rosalees Bruder zurück. Nachdem sie von den Brüdern Sugrue die schlimme Nachricht vernommen hatten, waren sie auf Maultieren losgeritten, und jetzt kamen sie mit denselben Maultieren zurück, hinten an den Wagen gebunden, und die große Blechlampe warf auf alles ihr Licht. Jakes, die Stute, zitterte noch immer. Ein Pferd ist ein kundiges Geschöpf. Und auf der Ladefläche des Wagens lag Tennyson Bouguereaus armer, zerschundener Körper. Sein hübsches Gesicht war voller Schrammen, blutig und geschwollen, und seine Kleider, die er immer so in Ordnung hielt, glichen den Lumpen eines Bettlers.
Deshalb wollte ich ein paar Dinge über Tennyson sagen. Tennyson Bouguereau war – zumindest bei uns – berühmt für seinen geschickten Umgang mit dem Gewehr. Lige Magan erzählte uns oft, wie Tennyson einmal einen Grashalm aufgerichtet hatte, fünfzehn Meter zurückgegangen war, sich dann umgedreht und den Grashalm mit seinem Spencer-Karabiner in zwei Teile zerschossen hatte. Lige Magan wusste diese Fertigkeit zu würdigen, war er doch in der Armee selber Scharfschütze gewesen, wenn auch kein so scharfer wie Tennyson. Tennyson Bouguereau hatte eine natürliche, gottgegebene Befähigung. Als ehemaliger Sklave durfte er natürlich nur bei sich zu Hause Waffen tragen. Für kurze Zeit hatte es für diese Sklaven etwas besser ausgesehen. Auf Farmen, für die sie nicht mehr arbeiten wollten, hatten sie ihre Werkzeuge niedergelegt. Sie hatten das Stimmrecht erhalten, nun ja, zumindest die Männer. Sie konnten einem Weißen in die Augen sehen und offen mit ihm reden. Für kurze Zeit. Jetzt schwang das Pendel wieder zurück. Wenn die schwarzen Landarbeiter nicht blieben, hatten die Farmer niemanden, der ihre Felder bewirtschaftete. Sie drehten durch. Von großen Gewaltausbrüchen war die Rede, Böses wurde gesagt und getan. Tennyson Bouguereau war ein Fürst von einem Mann. Wenn jemand Hilfe gebraucht oder ihn um Hilfe gebeten hätte, er hätte jedem geholfen.
Er konnte nicht lesen oder schreiben, aber auf Rosalees hübschem Papier konnte er dein Gesicht zeichnen. Er zeichnete gern die Rotkehlchen im Hof, und wie eine Nachtschwalbe aussah, wusste ich nur deshalb, weil Tennyson eine eingefangen hatte – auf dem Papier.
Die