Das Corona-Buch. Mathias Scheben
Unsere Wohnung: Schön haben wir es hier, und so geräumig!
Wenn wir uns eine Wohnung leisten können, die größer ist als nötig, dann sollten wir nicht mehr Möbel als notwendig hineinstellen. Überflüssiges Mobiliar nimmt uns Lebensraum, und es bietet sich an – es biedert sich geradezu an –, mit fragwürdigem Dekomaterial zwischen Kitsch und Kunst drapiert und mit anderen spontan gekauften Entbehrlichkeiten bestückt zu werden. Schauen wir uns einmal zur Übung in den Wohnungen anderer Leute um und identifizieren wir dort, leise vor uns hin, alle Wegwerfartikel um uns herum. Dann fällt uns im Anschluss das Aufräumen daheim etwas leichter.
Es tut gut, sich zu befreien. Während der Corona-Pandemie standen wir vielerorts Schlange vor den Toren der Wertstoffhöfe. Wartezeiten von mehreren Stunden waren keine Seltenheit, wenn wir den plötzlich als unnütz erkannten Kram seriös und nicht am Waldesrand loswerden wollten. Nun freuen wir uns über die Abwesenheit der Dinge, die beim Staubwedeln und Putzen nicht mehr im Wege stehen. Wir hüpfen vor Freude über die Befreiung von selten oder nie benutzten Elektrogeräten, wir atmen durch bei der Entsorgung von Einrichtungspetitessen, die uns geschenkt, also aufgezwungen wurden. Apropos Entsorgung: Fällt uns bei diesem Wort auf, dass es für die Befreiung von Sorgen steht?
Überlassen wir unseren Kram also bitte nicht erst dem professionellen Haushaltsauflöser, der auf Anruf unserer Kinder nach uns kommt. Entrümpeln wir, falls noch nicht geschehen, schon recht bald, zumindest zu Lebzeiten, unseren Lebensraum. Machen wir ihn zum Freiraum für physische und psychische Bewegung. Psychologen wissen: Wer in überladenen Wohnungen lebt, wer seinen Keller, den Speicher und die Garage voll Gerümpel hat, der überfordert sich rasch, in jeder Beziehung. Das können wir wörtlich nehmen. Es ist schön, mit Verweis auf die körperliche Unversehrtheit der Angehörigen behaupten zu können: „Bei uns zu Hause wird nur die Sahne geschlagen.“
Ob es nach Corona in Deutschland mehr Scheidungen gibt oder mehr Geburten, das wird sich zeigen. Für die Entwicklungsländer sagt die britische Hilfsorganisation Marie Stopes International im Evangelischen Pressedienst bis zu drei Millionen ungewollte Schwangerschaften und fast ebenso viele unsichere Abtreibungen voraus: Weil es bis zu 9,5 Millionen Mädchen und Frauen alleine in den 37 von dieser Organisation betreuten Ländern wegen unterbliebener Lieferungen an Verhütungsmitteln fehlt. Auch „die Lieferketten für Kondome sind unterbrochen“, fügt der Geschäftsführer der Stiftung Weltbevölkerung, Jan Kreutzberg, hinzu. Auch das sind Folgen der Corona-Krise, die bei den unmittelbar Betroffenen und den für die Bevölkerungspolitik Verantwortlichen lange nachwirken werden.
Psycho-Altlasten: Glaubenssätze sind für die Tonne
Mentale Stolpersteine können wir ohne fremde Hilfe zur Seite räumen. Die Rede ist von unseren sogenannten „Glaubenssätzen“. Das sind die Rahmenbedingungen unseres Denkens und Handelns, die uns zugetragen wurden, die wir uns angeeignet haben. Es sind die angeblichen „Wahrheiten“, nach denen wir uns richten beim Denken, Fühlen, Entscheiden, Handeln und Beurteilen.
Glauben ist aber nicht Wissen, Glaubenssätze sind Meinungen und Überzeugungen aus eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, auch aus denen anderer. Wir verfestigen sie aus unbewusster Unsicherheit zu unseren Lebensregeln und landen dann rasch bei Gemeinplätzen: „Linke können nicht mit Geld umgehen.“, „Keiner liebt mich.“ oder „Natürlich überholen Mercedesfahrer auf der Autobahn immer rechts.“, „Das hat schon meine Mutter gewusst.“ und andere Killerphrasen gegen freie Meinungsbildung.
Kein Wunder, dass viele von uns meinen, „ihr Drehbuch“ zu leben. Stattdessen aber folgen wir, auch aus Bequemlichkeit, den Drehbüchern und Regieanweisungen früherer Jahre, oder sie stammen von anderen Menschen. Vielleicht sind die schon längst verstorben, haben in einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen gelebt – und von unserem Leben ohnehin keine Ahnung.
Durch kritiklos übernommene Glaubensätze sind wir also möglicherweise falsch konditioniert. Wir meinen, weil uns immer wieder etwas angeblich „Typisches“ passiert, dass unsere Grundeinstellungen, also unsere Vorurteile und Vorverurteilungen, für die Zukunft richtig sind. Wir fühlen uns bestätigt und verdrängen den weitaus größeren Teil aller anderen Erfahrungen, die nicht unserem vorgefassten Weltbild entsprechen. Wir laufen Gefahr, ein Leben lang im falschen Film zu spielen, und das auch noch in einer Neben- oder Statistenrolle.
Weil unsere Glaubenssätze nicht wahr sein müssen, sollten wir sie infrage stellen. Entrümpeln wir also nach Keller, Speicher und Garage unser Gehirn und unsere Seele für einen frisch-fröhlichen Neuanfang. Halten wir doch dazu in den nächsten Wochen getroffene Aussagen, die wir für unverrückbar halten, obwohl wir wissen, dass es „alternativlos“ nicht gibt, einmal schriftlich fest. Wenn wir in Sätzen die Wörter „alle“ oder „immer“ verwenden, notieren wir uns diese ebenfalls.
Schreiben wir einmal eine Liste unserer Überzeugungen auf, die mit Wörtern wie „jeder“ und „grundsätzlich“ beginnen. Erinnern wir uns, von wem wir diese Aussagen, diese Glaubenssätze übernommen haben. Was haben wir immer von der Oma gehört, vom Lehrer gelernt, was weiß doch jedes Kind? Kennen wir noch andere Sprichwörter als: „Aller Anfang ist schwer.“?
Nach zwei oder drei Wochen schauen wir uns die Notizen an und fragen uns im stillen Kämmerlein, was uns diese Sätze im Leben bringen. Sind es Sicherheit, Bestätigung, Einengung, Ablehnung? Machen die Glaubensätze für uns einen Sinn, helfen sie uns, machen sie uns zufrieden oder gar glücklich, oder gibt es sinnvolle Alternativen? Es gibt sie ganz bestimmt.
Stellen wir also mögliche Alternativen zusammen, indem wir das Gegenteil unseres Glaubenssatzes aufschreiben. Oder wir hinterfragen, ob die Behauptung wirklich zutrifft. Gilt das heute noch, gilt das für mich noch? Was denken andere zu diesem Thema? Was passiert mit mir, wenn ich zum Spaß mal die gegenteilige Ansicht vertrete?
Zur Corona-Zeit haben wir vielerlei „gemusst“ und weniger „gedurft“. Nach Corona ist es Zeit, den aufgestauten Freiheitsdrang zu nutzen, um auch eigene, selbst gebastelte Fesseln zu sprengen. „Geht nicht, gibt’s nicht“ ist auch ein Glaubenssatz. Versuchen wir herauszufinden, ob er die Wahrheit sagt.
Wir werden uns an allen Ecken und Kanten korrigieren und nachjustieren müssen, und zwar rasch und gleichzeitig. Vielleicht machen wir künftig das Gegenteil von dem, was bislang bei uns üblich war. Wenn es persönliche Prioritäten gibt, dann kennt die jeder von uns selbst am besten, und nur jeder selbst kann sie neu sortieren.
Fahren wir fort mit einer Nebensache, die vielen von uns einmal ganz wichtig war – mit dem fahrbaren Untersatz.
Mobilität von heute auf morgen: Bitte umsteigen
Einige Städte, darunter Berlin, München und Düsseldorf, aber zum Beispiel auch Brüssel, Paris, Mailand und Bogotá, haben in den ersten Monaten der Krise innerstädtische Fahrbahnen für den Autoverkehr gesperrt und zu Radwegen umgewidmet. Solche „pop-up-Radwege“ waren plötzlich weltweit ein Thema. In zögerlichen Städten gab es Demonstrationen, in denen ebenfalls derlei Sonderwege für Radler gefordert wurden. Zum Teil wurden über Nacht auch ganze Straßenzüge zu Fußgängerzonen erklärt. Droht den Autofahrern Ungemach?
Welche Entwicklung nimmt nach Corona die Automobilindustrie? Die Nachfrage nach Personenkraftwagen ist in den ersten Monaten der Pandemie weltweit kräftig gesunken. Der schon vor Corona eher müde Automarkt wurde durch die zusätzliche Verunsicherung der Verbraucher weiter nach unten gedrückt. Mit der plötzlichen Angst um den Arbeitsplatz, um die Gesundheit oder gar die Existenz schoss die Kauflust der Deutschen in den Keller.
Die Zeiten sind schon lange vorbei, in denen wir uns alleine deshalb ein neues Auto kauften, weil der Nachbar sich einen Neuwagen vor die Türe stellte. Laut Zulassungsstatistik des Kraftfahrtbundesamtes sind fast ein Viertel (23,4 Prozent) der Autos in Deutschland älter als 15 Jahre, das sind mehr als 11 Millionen Fahrzeuge. Ein knappes Zehntel des Gesamtbestandes ist älter als 20 Jahre und jedes 50. Fahrzeug hat mehr als 30 Jahre auf dem Buckel. Viele Bewohner großer Städte kommen inzwischen praktischerweise gut und gerne sogar ohne eigenen Wagen aus. Das Fahrrad ist dem Pkw zweckmäßige