Ostfriesen morden anders. Peter Gerdes

Ostfriesen morden anders - Peter Gerdes


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Seinen Einwand, dass es in der Nachsaison doch nur wenige Übernachtungsgäste auf Helgoland gab, hatte sie vom Tisch gewischt. Nur eine schnelle Tasse Kaffee hatte er durchsetzen können.

      »Die andere Richtung! Die andere! Rechts herum!« Stahnkes Stimme wurde vom Wind ebenso gründlich verweht wie Sinas ehedem straff gezurrte Frisur, und sein Gefuchtel beantwortete Sina mit erneutem Winken. Dann lief sie weiter in die falsche Richtung. Stahnke sah seine Hoffnung auf ein baldiges Frühstück entschwinden und stöhnte.

      Dann blieb Sina plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Arme hielt sie einen Moment lang unnatürlich abgespreizt, ehe sie sich beide Hände vors Gesicht schlug.

      Eine böse Ahnung ergriff den Hauptkommissar. Fast wäre er die letzten Stufen hinab gesprungen. Den Slalom zwischen den Steinen am Strand absolvierte er mit einer Trittsicherheit, die ihm nur unter Adrenalin zu Gebote stand. Als Sina ihn kommen hörte, trat sie einen Schritt beiseite.

      Zwischen den Sandsteinblöcken lag jemand. Ein Mann, ein großer Mann, ein Kerl mit schmalen Hüften, breiten Schultern und flachsblondem Haar auf der linken Seite seines Kopfes. Die rechte Seite allerdings war mehr rot, und die Haare dort hatten sich mit anderen Substanzen vermengt, die zuvor vermutlich Haut, Knochen und Hirn gewesen waren. Auch der Hals des Mannes war links voller Blut. Seine Augen standen offen und seine Gliedmaßen waren unnatürlich verrenkt.

      Trotz allem tastete Stahnke nach einem Puls. Erwartungsgemäß gab es keinen. Dafür war noch ein Rest Körperwärme zu spüren. »Lange liegt der hier noch nicht«, sagte er.

      »Erkennst du ihn denn gar nicht?«, fragte Sina. Sie war bleich, hatte sich jedoch im Griff. Die Jahre mit Stahnke hatten sie ziemlich abgehärtet.

      »Erkennen?« Der Kriminalbeamte beugte sich erneut über die Leiche, während er in seiner Hosentasche nach dem Handy kramte. »Richtig, das ist doch der Typ, der sich gestern am Kai mit der kleinen Schwangeren rumgestritten hat. Und später haben wir ihn auch noch in unserem Hotel gesehen.«

      »Das ist der Manager vom Hotel Hallund«, präzisierte Sina. »Offenbar auch der Besitzer. Seine Frau, die mit der rotblonden Walle-Mähne, leitet den Service, er machte den Hotelchef. Obwohl diese Rolle irgendwie nicht zu ihm gepasst hat. Er wirkte deplatziert, fandest du nicht?«

      Stahnke zuckte die Achseln. »Tja, etwas unbeholfen war er schon. Aber dabei hab ich mir nun wirklich nichts gedacht. Typischer Nordfriese eben.« Er drückte den Notruf. »Außerdem wirkt er hier noch viel deplatzierter.«

      Sina schüttelte den Kopf. So ein Spruch konnte wohl nur von einem Ostfriesen kommen.

      *

      »Entschuldigung – Frau Gersema? Herr Hauptkommissar? Dürfte ich Sie beide kurz stören?«

      Aha, die Inselkollegen hatten ihre Arbeit aufgenommen. Zeit wurde es ja. Noch kauend, nickte Stahnke bestätigend, ehe er hochblickte – und konnte nur mit Mühe verhindern, den Inhalt seiner Mundhöhle quer über den Tisch zu prusten. Denn der schmalbrüstige Typ in dunkelblauer Uniform, der sich da in Habachtstellung aufgebaut hatte, sah mit seinen Hasenzähnen und seiner goldumrandeten Brille einfach zum Schießen aus. Die Krönung aber war sein Fahrradhelm, den abzunehmen er wohl vergessen hatte. Der Farbe nach gehörte das Ding sogar zur Uniform. Sowas bekämpfte auf Helgoland also Verbrecher! Die sollten sich wohl totlachen.

      »Sie gestatten?« Das Männlein griff nach einer Stuhllehne. »Oberkommissar Battermann. Sie beide haben also den Toten entdeckt?«

      Ein unauffälliger, grauhaariger und grau gekleideter Mann mit dunkelbraun gegerbtem Gesicht erschien an der Schmalseite des Tisches wie aus dem Boden gewachsen. »Moin, Helmut«, grüßte er den Polizisten und nickte dann in die Runde. »Darf es noch etwas sein? Frischer Kaffee vielleicht?«

      »Das wäre nett«, erwiderte Stahnke, der seinen Brötchenbissen inzwischen hinuntergeschluckt hatte. Unauffällig schaute er auf seine Uhr – fast zwölf. »Überhaupt sehr nett von Ihnen, dass wir um diese Zeit noch frühstücken dürfen.«

      »Ich bitte Sie.« Der Grauhaarige hob abwehrend die Hände. »Das sind doch außergewöhnliche Umstände heute. Nach dieser schlimmen Sache mit Immo …« Er nickte noch einmal verbindlich und entfernte sich Richtung Küche.

      »Nette Bedienung«, sagte Sina. »Sehr verständnisvoll.«

      »Das ist Nummel Hamkens«, erklärte Battermann. »Immos Onkel. Ist freundlicherweise für Carla eingesprungen. Carla, das ist Immos Frau. Vielmehr Witwe. Sie kann derzeit nicht hier sein.«

      Stahnke wiegte den Kopf. »Vollauf verständlich. Nach solch einem Schock wäre ich wohl auch nicht dazu in der Lage, meinen Dienst ganz normal …« Er brach ab. Etwas in Battermanns Miene sagte ihm, dass er auf dem Holzweg war. »Oder hat sie etwa gar keinen Zusammenbruch erlitten? Was hält sie denn dann von ihrer Arbeit fern?«

      »Wetten, die Dame sitzt bei Ihren Kollegen auf der Polizeistation?«, warf Sina wie beiläufig ein. »Zur Vernehmung? Als Tatverdächtige?«

      »Also das … dazu kann ich gar nichts …« Battermann schien sich endlich seines Fahrradhelms zu entsinnen und zog ihn sich umständlich vom Kopf. Nach vorn, wie um sich dahinter zu verstecken.

      »Fangen Sie bloß nie das Pokern an, Herr Kollege. Bluffen liegt Ihnen nicht.« Auch bei Stahnke war jetzt der Groschen gefallen. »Hab mir gleich gedacht, dass das kein Unfall gewesen ist. Obwohl es natürlich auf den ersten Blick so ausgesehen hat. Absturz vom Oberland, die Steilküste runter und hinein in die dicken Felsbrocken und so. Aber was ein echter Insulaner ist, der kennt seine Insel, dem passiert das nicht. Da hat einer nachgeholfen. Stimmt’s?«

      Battermann wand sich auf seinem Stuhl. »Sie werden verstehen, dass ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar keine Auskünfte geben kann. Die Ermittlungen laufen erst an. Unser Doktor ist ja gerade erst mit der Inaugenscheinnahme des Toten fertig.«

      »Das Blut am Hals«, warf Sina ein. »Alles andere – der zerschmetterte Schädel, die Knochenbrüche, die Verrenkungen – sind potentielle Sturzverletzungen, die auch Folgen eines unfallbedingten Absturzes gewesen sein könnten. Woher aber sollte das Blut am Hals gekommen sein? Vom Kopf her nicht, da war die andere Seite blutig, und so wie der Tote lag, ist nichts rübergetropft. Und aus der Nase kann es auch nicht gekommen sein.«

      »Vermutlich also eine Stichverletzung«, nahm Stahnke den Faden auf. »Linksseitig, das passt auf einen Rechtshänder. Oder?«

      Battermann seufzte. »Ach, wenn Sie sowieso schon alles wissen …« Er räusperte sich. »Jedenfalls fast.«

      »Wieso fast?«, fragte Sina.

      »Es war nicht eine Stichverletzung«, sagte Battermann.

      »Kein Stich?«, fragte Stahnke erstaunt.

      »Doch«, erwiderte Battermann.

      »Was denn nun?«

      »Nicht einer, sondern vier.«

      »Vier Stiche.« Stahnke pfiff durch die Zähne. »Das ist heftig.«

      »Wo ist es denn überhaupt passiert?«, fragte Sina.

      »Oben, in den Kleingärten«, antwortete der Inselpolizist.

      »Kleingärten? Sowas gibt es hier?« Stahnke staunte.

      »Oh ja!« Battermann lächelte. »Die Kleingartenanlage mit dem schönsten Ausblick Deutschlands! 75 Gärten gibt es da. Das sind begehrte Fleckchen Erde. Hier, wo es fast nur Sand und Felsen gibt, sind diese Parzellen natürlich etwas ganz Besonderes. Die Leute ziehen sich ihr Gemüse, ihre Kartoffeln und Mohrrüben selbst. Frisches Grünzeug ist hier sehr begehrt.«

      »Ist ja auch sehr gesund«, sagte Stahnke, ohne nachzudenken.

      »In diesem Fall aber tödlich«, murmelte Sina. »Vitamine am Abgrund …«

      Zwei weitere Männer betraten den Frühstücksraum, der eine ebenso uniformiert wie Battermann, der andere in legerer Sportkleidung. »Dr. Hinrichs, der Inselarzt«, stellte er sich vor, als er sich zu den anderen setzte. Der zweite Polizist beugte sich zu Battermann und


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