Langeooger Dampfer. Peter Gerdes

Langeooger Dampfer - Peter Gerdes


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aufziehende Wolken verhüllten mehr und mehr Sterne. Sie orientierten sich am Glitzern des Brandungssaums und an den tiefschwarzen Kernschatten der Dünen. Dann tauchten ebenso schwarze, bizarre Monster vor ihnen auf. Ehe sie erschrecken konnte, lief sie in eine weiche Sperre aus Flatterband.

      »Ab hier ist Baustelle«, sagte der Mann, die Stimme unwillkürlich gedämpft. »Das da sind Baumaschinen. Komisch, so etwas auf einer autofreien Insel.« Er war wirklich gut informiert für einen Festländer.

      Sie hob das Absperrband, lenkte ihn zum Fuß der Dünen. »Siehst du«, hauchte sie, »kein Mensch da.« Sie schob und drehte ihn sich zurecht, ließ ihre Finger über seine Haut, seine Muskeln wandern. Die Vorfreude ließ sie nach Luft schnappen.

      Auch seine Hände waren wieder da, waren überall. Weg war das Tuch, das sie sich umgeschlungen hatte, um ihre Oberschenkel vor der Sonne zu schützen, weg war ihr Top. Und im nächsten Moment auch ihr Bikini. Himmel, wie viele Hände hatte dieser Mann?

      Sie ließ sich in den Sand sinken, der so weich war wie vermutet, ahnte den Mann mehr über sich, als dass sie ihn sah. Wieder waren seine Hände überall. Oh, er kannte sich aus, er wusste, wie das ging!

      Aber nein. So ging das nicht, das war zu schnell, das war noch nicht dran. Und außerdem – warum so kalt?

      »Lass das!«, zischte sie. »Nimm deine Hand da weg!«

      »Was? Wieso?« Er verharrte, die eine Hand auf ihrem Bauch, die andere an ihrer linken Brust.

      Und die dritte, die eiskalte, an der Innenseite ihres Oberschenkels.

      Verdammt, wie viele Hände …

      Ihr schriller Schrei hallte von den Dünen wider. Er wollte kein Ende nehmen.

      2.

      »Abschuss!«

      Ein breiter Schatten fiel vor Marian auf den Schreibtisch. Der Journalist fuhr erschrocken zusammen.

      »Abschuss! Sag mal, geht’s noch?«

      Marian fühlte seinen Herzschlag stocken. Eine böse Ahnung überkam ihn. Doch nicht etwa …? Der Schweiß brach ihm aus.

      »Abschusskundgebung! Abschuss! Nun guck dir das bloß an! Wie konnte das denn passieren?«

      Marian ließ seinen Bürostuhl herumschwingen. Gegen die Morgensonne war nur eine stämmige Silhouette zu erkennen, eine mit Schifferkrause und Schiffermütze, die ihm den einmaligen Blick auf die Randdünen verstellte. Den Ausblick, der einen der Pluspunkte seines Jobs darstellte.

      Diese Silhouette war ein deutlicher Minuspunkt. Ein großer dazu.

      Ein dicker Zeigefinger mit breitem Nagel stieß wieder und wieder auf die gerade ausgelieferte Ausgabe des »Langeooger Inselboten«, dass es knallte und das Zeitungspapier Risse bekam. In Höhe der Aufmacher-Schlagzeile. »Abschlusskundgebung der Umwelttage: Appell gegen Plastikmüll im Meer«, hatte Alleinredakteur Marian Godehau gestern Abend getextet.

      Nein, hatte er nicht. Da stand tatsächlich »Abschusskundgebung«.

      »Das war auf den letzten Drücker«, stammelte Marian. »Du hast den Text sehr spät geliefert, da wurde es knapp mit dem Andruck.«

      »Eine lahmere Ausrede hast du wohl nicht!«Ocko Onken, umtriebiger Insulaner, halbwegs des Schreibens kundig und damit Marian Godehaus wichtigster freier Mitarbeiter, ließ den zerknitterten »Inselboten« fallen, als wäre ein fauler Fisch darin eingewickelt. »Da notiert man sich alles und schreibt, bis einem die Finger abfallen, und was ist? Du legst mir solch ein Ei ins Nest! Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist? Wie stehe ich denn jetzt da!«

      Ja, peinlich, allerdings, dachte Marian, während er sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck bemühte. Peinlich, dass sein Zeilengeld-Etat dermaßen knapp bemessen war, dass er sich qualifiziertere Mitarbeiter als den alten Ocko Onken nicht leisten konnte. Dass er vielmehr froh sein durfte, wenigstens den zu haben, und ihn mit Samthandschuhen anfassen musste, um ihn nicht zu verlieren. Das war peinlich! Ein weiterer dicker Minuspunkt seines Jobs.

      Plus und minus. Als Alleinredakteur war er stets und ständig auf sich allein gestellt, aber er war eben auch sein eigener Herr. Und solange sich Ocko Onken und ein paar andere freie Mitarbeiter seines Kalibers mit wenig Geld und vielen guten Worten zufrieden gaben und sich über Ego-stärkende Namenszeilen über belanglosen Artikeln auf hinteren Seiten zwischen fetten Anzeigen freuten, solange hatte er die Hände frei für Dinge, die ihn wirklich interessierten. Zum Beispiel die engagierten Umweltschützer, die ihre internationale Konferenz auf der Insel abhielten. Über die hatte er zwei schöne Hintergrundberichte verfasst. Die Abschlusskundgebung zum Thema Vermüllung der Meere war reine Formsache gewesen, deshalb hatte er Ocko Onken dort hingeschickt.

      Vielmehr zur Abschusskundgebung.

      »Und wie willst du dich bei unseren Lesern für solch eine Panne entschuldigen?«, polterte Onken weiter. »Eine Richtigstellung ist wohl das Mindeste! Aber komm bloß nicht auf die Idee, dich mit Arbeitsüberlastung oder Zeitdruck rauszureden!«

      Logisch, dachte Marian, das wäre zwar die Wahrheit, aber die geht ja keinen etwas an. Als ob die Arbeitszeiten eines Alleinredakteurs nicht jeden Tarif sprengen würden! Daran würde auch die geplante europaweite Arbeitszeiterfassung nichts ändern. Dafür gab es ja Kunstgriffe. Er konnte seine Chefredaktion auf dem Festland schon hören: »Zu dieser Veranstaltung wären Sie sowieso gegangen, das kann man nicht als Überstunden werten! Dafür gehen Sie doch nächstens wieder mal während der Arbeitszeit zum Friseur.« Na vielen Dank. Wann denn sonst? Etwa nach Feierabend? Dann hatte kein Friseur der Welt mehr geöffnet. Höchstens in Australien.

      »Was grinst du so?«, fragte Onken.

      »Ich dachte nur, ich verpacke die Richtigstellung in eine Glosse«, erwiderte Marian. »Glossen werden gelesen.«

      »Damit’s auch der Letzte mitkriegt«, grummelte Onken. »Und sonst? Womit willst du die Leser in der morgigen Ausgabe davon abhalten, uns ihre Abos vor die Füße zu werfen?«

      »Polizeieinsatz bei Randaleparty in den Dünen«, referierte Marian. »Zwei Leichtverletzte bei Schlägerei vor dem ›Dwaarslooper‹. Und eine Anzeige wegen Zeigens mutmaßlich verfassungsfeindlicher Symbole.«

      »Lauter Polizeimeldungen.« Onken schnaubte verächtlich. »Die könnte Lüppo Buss gleich selber schreiben! Etwa nichts Eigenes dabei?«

      »Doch. Großer Vorbericht über die ›Langeooger Dampfertage‹.« Den Aufmacher hatte Marian sich längst zurechtgelegt: »Die ›Prinz Heinrich‹ erstmals im Langeooger Hafen. Spannende Geschichte über die bewegte Vergangenheit dieses Schiffs. Und darüber, wie eine Gruppe von Rentnern und anderen Freiwilligen in jahrelanger Arbeit aus einem Wrack ein seetüchtiges Schiff gemacht hat.« Er ließ eine Serie von Fotos über seinen Bildschirm laufen. »Zu diesem Thema fällt für dich bestimmt die eine oder andere Geschichte ab.«

      »Soso.« Ocko Onken stampfte in der Redaktionsstube auf und ab und tat so, als mustere er die abgelegten Ausgaben des laufenden Jahres und den Inhalt des Posteingangskörbchens. Dann verabschiedete er sich mit einem Grunzen und rumpelte die Holztreppe hinab zur Geschäftsstelle und zur Anzeigenberatung. Von dort drang der verlockende Duft frisch aufgebrühten Kaffees zu ihm in den ersten Stock. Ob die Kolleginnen diesen Köder bewusst ausgeworfen hatten?

      Marian ignorierte das Kaffeearoma und stellte sich ans halb geöffnete Fenster, sog die herrlich frische, leicht salzige Luft tief ein und genoss den geliebten Ausblick über die Dünen.

      Über die Dünen und einen Teil der Straße. Die Bewegung dort unten drängte sich ganz automatisch in sein Bewusstsein. Was war denn da los?

      Auf den ersten Blick nicht viel; ein Grüppchen Menschen, offenbar gerade am Bahnhof eingetroffen, eilte vorbei. Vier Männer, zwei Frauen, mit Taschen und Aluboxen. Keine Rucksäcke, keine Rollkoffer. Was aber wirklich ungewöhnlich war, waren die Mienen dieser Menschen: angespannt, verkniffen, entschlossen. So guckten keine Urlauber, und auch Leute, die aus dienstlichen Gründen auf die Insel kamen, standen selten so unter Stress – oder stellten ihn jedenfalls


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