Der rosa Wolkenbruch. Dorothea Böhmer
Zur Autorin
Dorothea Böhmer lebt in München. Im tredition-Verlag ist bisher von ihr erschienen „Der Tod der kleinen Katze – Kater Lanzelot packt aus“. Mitteilungen an die Autorin bitte an den Verlag: [email protected] oder [email protected]
„Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
Friedrich Wilhelm Nietzsche
Dorothea Böhmer
Der rosa Wolkenbruch
Ab morgen liebt er Männer
© 2020 Dorothea Böhmer
Umschlag: Dorothea Böhmer, Foto SplitShire / pixabay
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Paperback | ISBN 978-3-7497-3265-4 |
Hardcover | ISBN 978-3-7497-3266-1 |
e-Book ISBN | 978-3-7497-3267-8 |
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1
Wieso hatte sie im Wohnzimmer geschlafen? Julie blinzelte, das Licht kitzelte ihre Wimpern. Langsam wurde sie wach. Sie lag auf dem Gästesofa, sah sich um und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie betrachtete den Jugendstilschrank und die Stereoanlage, als hätte sie beide noch nie gesehen. Die Tür zum Gang war geschlossen, obwohl Julie geschlossene Türen nicht leiden konnte. Und überhaupt, warum lag sie nicht im Bett neben Christian?
Erst verschwommen, dann zunehmend klarer erinnerte sie sich an den vorhergehenden Tag. Sie und Christian hatten beschlossen, ab sofort in getrennten Zimmern zu wohnen. Seit langem wusste sie, dass ein Damoklesschwert über ihrer Ehe schwebte. Christian fühlte sich zu Männern hingezogen.
Draußen war Frühling. Julie hätte den strahlenden Tag als Aufmunterung nehmen können, doch sie bemerkte die Sonne gar nicht. Gegen Frauen hätte sie um ihn kämpfen können, gegen Männer brauchte sie gar nicht erst anzutreten. Es gab keinen Grund aufzustehen. Julie weinte und zog sich die Bettdecke über den Kopf.
***
Fast sieben Jahre war es her, dass Julie Christian in der Kellerbar des Studentenwohnheims, in dem sie damals wohnte, begegnet war.
Wie in einer Bahnhofskneipe, dachte Julie. Sie lümmelte an der Theke. An den Sonntagabenden war der Geräuschpegel besonders hoch. Es schien, als ob alle gleichzeitig redeten, aber keiner zuhörte. Am Tresen war es eng, außerdem war es zugig. Jedes Mal, wenn die schwere Metalltür aufging, schlug sie wenig später krachend ins Schloss. Die einen meldeten sich vom Wochenende zurück, andere verschwanden nach einem Begrüßungsbier oder mit einem Schlummertrunk in der Hand Richtung Zimmer. Mitte der 80er Jahre waren gemischte Wohnheime nicht ungewöhnlich. Doch in diesem lebten junge Frauen und Männer nicht nur auf mehreren Stockwerken gemeinsam unter einem Dach, sondern in denselben Gängen Wand an Wand. Die Bewohner und Bewohnerinnen eines Ganges teilten sich Duschen, Toiletten und eine Gemeinschaftsküche.
Neben Julie stand in aufrechter Haltung Doris. Wie meist hatte sie das Wochenende bei ihren Eltern verbracht. Obwohl Doris schon im sechsten Semester Lehramt studierte, fuhr sie mit ihrem Bruder, der ebenfalls im Wohnheim lebte, spätestens jedes zweite Wochenende nach Hause. Sie hing sehr an ihrer Familie. Ihre Eltern, sie waren Nachbarn von Julies Eltern, hatten ein Häuschen mit Garten und konnten sich jährlich einen Sommer- und einen Winterurlaub leisten. Die Mutter hatte den Vater nie geliebt, ihn aber geheiratet, weil er ihr zur Seite stand, als sie schwer lungenkrank war. Doris fand das in Ordnung.
Julie hatte das Wochenende im Wohnheim verbracht. Sie liebte die Ruhe, die an Samstagen und Sonntagen im Haus herrschte. Ungestört konnte sie lesen und ihre Seminararbeiten schreiben. Manchmal ging sie spazieren oder ins Kino. Julie war zwar gerne unter Leuten, aber mindestens so gerne alleine.
Während Doris auf Julie einredete, überlegte Julie, ob sie in ihr Zimmer gehen sollte. Es interessierte sie weder, wie es der Großmutter von Doris ging, noch welchen Kuchen Doris am Wochenende gebacken hatte.
Sie selbst fuhr ungern nach Hause, weil sie nach einem Wochenendbesuch bei der Familie gerädert ins Studentenwohnheim zurückkam. Ständig wurde sie zu Hause für irgendwelche Arbeiten eingespannt. Julie war in einer Unternehmerfamilie groß geworden und bereits als Kind wurde ihre Mithilfe eingefordert. Kaum ließ sie sich außerhalb ihres Zimmers blicken, hieß es: „Julie, geh einkaufen“, „Julie, bring die Post zum Briefkasten“, „Julie, du sitzt hier noch im Schlafanzug und wir müssen Personal bezahlen“ oder „Julie, komm sofort aus der Toilette, du hast dich wieder mit einem Buch eingeschlossen“.
Lesen galt im elterlichen Betrieb als Nichtstun. Wurde Julie von der Mutter oder dem Vater mit einem Buch erwischt, bekam sie sofort eine so genannte nützliche Arbeit angetragen, wie abspülen oder Wäsche zusammenlegen, obwohl es eine Haushälterin gab. Waren ihre Eltern nicht in der Nähe, konnte Julie sicher sein, dass ihre ältere Schwester Hedwig sie störte und zwang, irgendetwas für sie zu besorgen oder zu tun. Weigerte sich Julie, beschwerte sich Hedwig umgehend bei der Mutter. Hedwig hatte immer die besseren Karten, weil sie alles tat, um den Eltern zu gefallen. Dabei vertrödelte Hedwig ihre Tage regelrecht. Aber kaum waren die Eltern oder ihr Bruder Arnold, er war der älteste von den drei Geschwistern, in der Nähe, begann sie, wie eine Verrückte das Waschbecken zu putzen, Staub zu saugen, einfach irgendeine Tätigkeit, um beschäftigt zu wirken. Sobald die Eltern oder der Bruder außer Sicht waren, musste Julie die Arbeiten zu Ende führen und Hedwig blätterte in Journalen, las Zeitung oder richtete ihre Frisur, eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Hedwig stellte das christliche Weltbild der Eltern nicht in Frage, sondern ging ohne Widerrede am Sonntag mit ihnen und dem Bruder zur Kirche, aus der alle vier nach dem Gottesdienst mit verklärten Gesichtern zurückkamen. Weigerte sich Julie mitzugehen, war es klar, dass das Frühstück fertig sein musste, wenn die anderen vom Kirchgang eintrafen. An Ausschlafen war nicht zu denken, es wurde gezielt verhindert. Zudem war die Stimmung ihr gegenüber den ganzen Sonntag eisig, sofern sie nicht völlig geschnitten wurde. Nur Arnold hielt sich bei Unstimmigkeiten meist heraus. Er tat alles für seine beiden Schwestern, was Hedwig nach Julies Meinung ungeniert ausnutzte. Julie musste an Hedwigs letzten Umzug denken, bei dem Arnold und sie geholfen hatten. Hedwig war aus dem Lastauto ausgestiegen, hatte mit dem Wohnungsschlüssel geklimpert und gezwitschert: „Ich sperre schon mal die Wohnungstür auf.“ Ohne auch nur einen Karton mitzunehmen, wollte sie in den vierten Stock voraus gehen. Julie hatte ihr damals einfach zwei Korbstühle in den Arm gedrückt. „Aber nicht, ohne dass du etwas mit nach oben nimmst.“ Hedwig mied Arbeit, wo sie nur konnte.
***
Die Tür krachte wieder zu. Der Lärm riss Julie aus ihren Gedanken und holte sie in die Kellerbar zurück. Doris erzählte immer noch vom Wochenende. Julie nickte ihr zu. Sie hatte keine Ahnung, wovon Doris gerade geredet hatte, nahm einen Schluck Bier und sann weiter über ihre Familie nach.
Es war keine sechs Monate her, als sie zum Geburtstag ihrer Mutter zu Hause war und tags darauf mit Hedwig gestritten hatte. Hedwig hatte sich im Bad eingeschlossen, obwohl sie wusste, dass Julie bald von Doris und ihrem Bruder abgeholt werden würde, die sie im Auto mit zurück in die Studienstadt nahmen. Da Julie noch packen und sich fertig machen musste, war ihr der Kragen geplatzt. Sie hatte ihre Schwester als rücksichtsloses, egoistisches Monster bezeichnet. Zu laut. Ihre Mutter kam hinzu: „Wenn du uns nur zum Streiten besuchst, ist es besser, du kommst nicht mehr.“ Die Worte ihrer Mutter hatten sie getroffen, zumal diese keine Ahnung hatte, worum es bei dem Streit überhaupt gegangen war. Aber Hedwig konnte ja nicht schuld sein, Hedwig war nie schuld.
Für Julie war es ein Hinauswurf. Weihnachten hatte ihre Mutter getan, als wäre nichts gewesen. Es war für sie selbstverständlich, dass Julie über die Feiertage nach Hause kommen würde. Doch Julie war nur am Heiligen Abend heimgefahren und hatte sich am ersten Feiertag gleich nach dem Frühstück in den Zug gesetzt. Sie war alleine im Wagon gewesen und hatte die Stille genossen.