Der rosa Wolkenbruch. Dorothea Böhmer
aus dem Büro käme, sie hatte das gesamte Personalwesen und die Buchhaltung der Firma in der Hand. Nein, doch keine Zeit, sie hatte sich Arbeit mit in die Wohnung genommen. Wenn sie damit fertig wäre, dann hätte sie Zeit für Julie. Auch nicht. Nach dem Abendessen. Meist schlief ihre Mutter am Tisch vor Erschöpfung ein.
Christians Mutter hatte die Angewohnheit, seine Briefe zu öffnen, mit der Begründung, es könnte etwas Wichtiges sein. Er war zu schüchtern, um sich zu wehren. Schon früh hatte er sich in sich zurückgezogen und ging Streitereien aus dem Weg.
Die ganze Zuneigung, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die Christian und Julie in der Kindheit vermisst hatten, suchten sie jetzt beieinander. Sie konnten nicht oft genug und nicht eng genug zusammen sein.
8
In dicken Wollpullovern, die Julie gestrickt hatte, und eingemummt in Schals und Mützen stapften beide durch den verschneiten Park, die Hosen in die Stiefel gestopft, weil der Schnee hoch lag. Fast eineinhalb Jahre kannten sie sich inzwischen.
So beiläufig wie möglich sagte Christian: „Was hältst du davon, wenn ich ab März an deiner Uni studiere?“
Abrupt blieb Julie stehen. „Ist das dein Ernst?“
Er schob sie weiter. „Ja. Ich denke seit längerem darüber nach.“
„Und deine Eltern, was werden die sagen?“
„Das ist mir egal. Ein Wechsel ist kein Problem. Alle bisher abgelegten Prüfungen werden anerkannt, ich habe mich erkundigt. Es geht nur noch um die Diplomarbeit. Also … was hältst du von dem Plan?“
„Ein wunderbarer Plan! Ich kann dir gar nicht sagen wie wunderbar!“
Umschlungen stampften sie sich einen Weg durch die Winterlandschaft.
„Ich habe nur Angst davor, dass du mich bei irgendeinem Streit vor die Tür setzen wirst, meine Prinzessin.“
„Wie kommst du auf die Idee?“
„Na ja, manchmal bist du ein bisschen impulsiv.“
„Ich und impulsiv?“ Julie bückte sich, pappte einen Schneeball zusammen und warf ihn Christian hinterher, der rannte, so schnell es im tiefen Schnee nur ging.
***
Christian meldete sich an seiner alten Uni ab, lieh sich von einem Freund dessen roten VW-Bus für den Umzug und stellte, nachdem alles geregelt und nichts mehr rückgängig zu machen war, seine Eltern bei einem sonntäglichen Mittagessen vor vollendete Tatsachen.
„Übrigens ziehe ich ab März zu Julie.“
Seinen Eltern verging der Appetit schlagartig. Der Vater legte das Besteck zur Seite. Seine Stimme klang heftig.
„Das geht nicht, so kurz vor dem Abschluss. Du verlierst Zeit. Und was der Umzug kostet.“
„Julie und ich haben eine günstige Wohnung gefunden.“ Selbst wenn sich Christians Studium durch den Hochschulwechsel verlängert hätte, wäre es für ihn irrelevant gewesen.
„Hat das die Julie verlangt?“ Der Mund der Mutter war schmal geworden.
Christian sah seine Mutter an: „Nein, es war meine Idee. Ich habe sie überrascht.“
„Schöne Überraschung. Die Großstadt ist teuer. Von uns bekommst du nicht mehr Unterstützung als bisher“, kam als drohender Einwand vom Vater.
„Ich habe mich bei meiner alten Uni abgemeldet.“ Außerdem hatte er einen Nebenjob angenommen. Das sagte er aber nicht. Sein Leben ging die Eltern nichts mehr an.
9
Die Grünpflanzen wuchsen und wucherten in der hellen Einzimmerwohnung. Julie und Christian hatten es sich gemütlich gemacht mit dem ausziehbaren Schlafsofa, dem alten, abgebeizten Küchentisch mit der riesigen Schublade, in der sie Besteck und viele Kleinigkeiten verstauen konnten, mit Klappstühlen, einem Kleiderschrank, Bücherregalen und zwei Schreibtischen, die sie so stellten, dass sie Rücken an Rücken saßen, um sich bei der Arbeit nicht abzulenken. Für Bilder war an den Wänden kein Platz, doch die winzige Küchenzeile beklebten sie mit bunten Postkarten, die sie mit der Zeit von Freunden und Bekannten bekamen.
Wenige Wochen nach dem Einzug fuhr Christian zu seinen Eltern. Er hatte etwas bei einer Behörde zu regeln. Julie wunderte sich, dass er sie nicht gefragt hatte, ob sie mitkommen wollte. Aber im Grunde war sie froh darüber, weil sie eine Seminararbeit schreiben musste. Außerdem vermutete sie, es ginge um Formalitäten wegen seines Umzugs.
Als Christian am nächsten Abend zurück war, deckte er sorgfältig den Tisch für das Abendessen, rückte die Kerzenleuchter zurecht, faltete die Servietten und stellte Rotweingläser neben die Teller. Er mochte es, stilvoll zu essen und Julie zu verwöhnen. Julie ließ sich gerne verwöhnen. Es war für sie eine neue Erfahrung, denn zu Hause war sie in keinster Weise verwöhnt worden.
Christian ließ seinen Blick prüfend über den Tisch gleiten.
„Weißt du, wo ich heute Morgen war?“ Er zupfte das Tischtuch zurecht.
Julie angelte konzentriert im Topf nach den Tagliatelle, um zu prüfen, ob sie fertig waren. Ständig rutschen ihr die Teigbänder vom Kochlöffel.
„Hm? Nein.“
„Ich war auf dem Einwohnermeldeamt.“
Sie hatte es immer noch nicht geschafft, Nudeln über den Kochlöffel zu hängen. Sie legte ihn weg und nahm den großen Schöpflöffel aus der Tischschublade.
„Wie schön du gedeckt hast.“
Ja, so war es kein Problem mit den Nudeln.
„Ich habe alle Unterlagen besorgt, die wir für unsere Hochzeit brauchen.“
Der Schöpflöffel platschte in den Topf. Christian stand jetzt neben Julie und fischte den Löffel samt Nudeln heraus.
„Die Papiere sind nur ein halbes Jahr gültig.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Julie die Sprache wieder fand.
„Das ist ein Heiratsantrag, stimmt´s?“ Sie sah ihn verdutzt an. „Dann könnten wir nach dem Essen eine Liste machen von den Leuten, die wir einladen wollen.“ Übermütig hüpfte sie durch das Zimmer. „Du darfst jetzt die Braut küssen.“
„Wie denn, wenn sie nicht ruhig hält!“
Beide waren ausgelassen und gleichzeitig bewegt. Christian ließ Julie nicht mehr los und tanzte mit ihr durch die kleine Wohnung. Dann öffnete er den Kühlschrank und holte eine Flasche Sekt heraus, die er ganz hinten versteckt hatte.
Julie hielt Christian zwei Sektschalen entgegen, als er den Korken knallen ließ. „Auf uns.“ Die Gläser klirrten.
Bei Tisch wurde Christian kleinlaut. „Aber meinen Eltern müssen wir es gemeinsam sagen, alleine traue ich mich nicht.“
Julie drehte ihre Nudeln auf die Gabel. „Erinnerst du dich an den Satz Was mich nicht umbringt, macht mich stärker? Ich weiß jetzt, auf was sich der bezogen hat, auf unsere Eltern!“
***
Dass ihre unverheiratete Tochter mit einem Mann zusammenlebte, wollten Julies Eltern nicht wahrhaben und taten vor sich und anderen alles, um es zu verbergen. Aber die hartnäckigen Fragen von Tante Lisbeth nach der Wohnform von Julie und Christian waren immer schwerer zu beantworten und wurden langsam lästig. Deshalb waren Julies Eltern über die Aussicht auf eine Hochzeit heilfroh.
Christians Eltern waren hingegen entsetzt. Wie versteinert saßen beide beim Abendbrot, als Christian die Neuigkeit verkündete. Er hatte es den ganzen Tag vor sich hergeschoben, obwohl ihm Julie oft mit rollenden Augen ermutigend zugenickt oder einen kleinen Stoß in die Rippen verpasst hatte.
„Wir wollen keine Beschwerden hören, wenn es schiefgeht“, war der einzige Satz seiner Mutter.
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