Und mittendrin kam die Kraft. Regina Endraß
Kneipe gesetzt. Nach einer Weile kam ein Mann, auch alleine, und setzte sich an den Tisch neben mir. Erst dachte ich mir gar nichts dabei, aber dann trafen sich unsere Blicke immer wieder und wir kamen ins Gespräch. Plötzlich war mir ganz klar, das musste die Begegnung sein. Wie selbstverständlich saß er an meinem Tisch und wir redeten und redeten. Anschließend sind wir dann noch woanders auf ein Bier gegangen. Und dann war’s passiert … Wir waren uns plötzlich so vertraut! Ich wünschte, der Abend würde ewig dauern und doch bin ich letztlich alleine auf mein Zimmer gegangen.“
„Warum?“
„Ach, Lisa, du kennst mich doch, ich bin da halt nicht so spontan wie du und ich hatte auch ein schlechtes Gewissen gegenüber Rainer. Irgendwie ging mir einfach alles zu schnell.“
„So spontan wie ich, was soll das denn heißen! Warst früher nicht du diejenige, die einen nach dem anderen abgeschleppt hatte! Und zwar ohne dir irgendwelche Gedanken darüber zu machen.“
Damals, als sie noch zusammenwohnten, beide jung und neugierig, hatte sie den Eindruck, dass Marion im Gegensatz zu ihr keine Schwierigkeiten mit Männern hatte. Sie ließ sich immer auf alles ein, was so auf sie zukam. Überhaupt, dachte Lisa, war Marion irgendwie lebenslustiger. Lisa beneidete sie darum, sie selbst war viel schüchterner und zurückhaltender gewesen. Im Grunde, dachte sie, habe ich schon damals viel zu viel überlegt, anstatt einfach zu handeln. Aber sie hatten eine wundervolle Zeit zusammen verbracht. Alles war viel leichter und sie lebten nach der Devise, wir haben noch das ganze Leben vor uns! Jetzt, so schien es ihr manchmal, wendete sich das Blatt allmählich und sie gingen doch eher schon dem Ende entgegen. Das Leben war nicht mehr so unendlich weit, die Grenzen wurden spürbarer. Die Mitte war schon bald erreicht …
Offensichtlich ging es Marion genauso wie ihr. Auch sie wägte jetzt sorgfältig ab, bevor sie sich auf etwas einließ. Einerseits wollte sie diesen Mann, andererseits aber nicht die Beziehung mit Rainer aufs Spiel setzten. Das konnte Lisa nur zu gut verstehen. Dennoch hatte sie seit einigen Monaten immer wieder solche „Anwandlungen“, doch endlich einmal die Grenzen zu überschreiten. „Rücksichtslos“ einfach tun, was sie meinte tun zu müssen.
„Und was ist jetzt mit euch beiden?“
„Wir telefonieren ständig und führen stundenlange Gespräche. Ich versuche, ihn zu vergessen, aber es gelingt mir nicht. Ich glaube, ich bin wirklich verknallt. Aber dann denke ich wieder, dass ich mir nur alles einbilde und mich da in etwas hineinsteigere, was mit dem Menschen an sich überhaupt nichts zu tun hat. Ich meine, ich kenne ihn doch kaum. Vielleicht will ich mich einfach nur einmal wieder umschwärmt und begehrt fühlen! Du weißt, Rainer und ich mögen uns sehr, und ich möchte mit ihm zusammen sein und bleiben. Ich habe keinen wirklichen Grund mich in die Arme eines anderen zu werfen.“
„Tja, was ist schon ein wirklicher Grund? Die Dinge passieren eben, weil sie passieren wollen. Sie brauchen keinen Grund dafür. Aber du erlebst sie auch nur dann, wenn du sie zulässt. Und du hast diese Situation ja regelrecht herbeigeahnt!“
„So ist es wohl. Lisa, ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Was möchtest du denn tun?“
„Alles und nichts. Einerseits möchte ich ihn wiedersehen, um herauszufinden, ob ich ihn dann immer noch so toll finde. Andererseits habe ich Angst davor, denn wenn dies so wäre, möchte ich ihn vielleicht nie wieder loslassen!“
„Ich glaube, du solltest den Dingen ihren Lauf lassen. Lass es auf dich zukommen und tu dann das, was du in diesem Moment für richtig hältst. Im Grunde hast du doch gar keine andere Wahl. Es sei denn, du möchtest deine Gefühle mit Gewalt unterdrücken.“
Auch wenn sie jetzt ihrer besten Freundin womöglich dazu geraten hatte, ihren Mann zu betrügen und eventuell sogar ihre Beziehung aufs Spiel zu setzten, es war ihre ehrliche Meinung. Allerdings, bei dem Gedanken daran, dass die Beziehung der beiden dadurch kaputt gehen könnte, wurde ihr ganz unbehaglich. Rainer und Marion ergänzten sich prima, und sie hatten eine Partnerschaft, wie man sie nur selten fand.
Ungute Erinnerungen erfassten Lisa eiskalt. Als damals Marion, frisch verliebt, ihr ihren Rainer vorstellte, wusste sie, das war etwas Ernstes. Es wurde ernst, und Marion und Lisa schlitterten in die einzige wirkliche Krise ihrer Freundschaft. Lisa zog aus und Rainer ein. Sie musste gehen, ihm aus dem Weg gehen! Normalerweise hatten sie bei Männern nicht unbedingt den gleichen Geschmack, aber bei Rainer war eben alles anders.
Einige Jahre lang hatten Lisa und Marion keinen Kontakt mehr. Und dann bekam Lisa eines Tages eine Karte mit einem Foto von einem kleinen runzligen Baby, Marions Tochter …
„Wahrscheinlich hast du recht, was sonst sollte ich tun? Ich muss ihn wiedersehen, vielleicht weiß ich dann, was das alles bedeuten soll! Aber jetzt genug davon. Wie geht’s dir eigentlich?“
„Ich schätze, diese Frage kann ich dir heute nicht mehr beantworten. Nur so viel, alles ist irgendwie im Aufbruch und nichts tut sich.“
„Komm, stoßen wir an, auf den Aufbruch und die Liebe!“
Sie tranken noch einen Grappa, umarmten sich liebevoll und stürzten sich wieder in ihre Arbeit.
Abends kam Lisa todmüde aus dem Büro. Klaus war noch nicht zu Hause. Sie legte sich aufs Sofa und dachte nach. Das Gespräch mit Marion hatte sie ganz schön geschafft. Eigentlich war es nicht das Gespräch, vielmehr die Erinnerungen, die dadurch wieder zum Leben erweckt wurden.
Die Erinnerungen an ihre damalige Zeit und die Erinnerungen an den Beginn ihres inneren Aufbruchs!
Ja, Jo war dieser Mann, mit dem es wohl angefangen hatte, und von dem sie nicht mehr wusste als seinen Vornamen. Sie wusste nicht, wie alt er war, wo er wohnte noch was er arbeitete, einfach gar nichts.
Es war einer dieser Abende, an denen sie sich mal wieder austoben wollte. Wie meistens hatte Klaus keine Lust mitzugehen und sie verließ das Haus spät abends enttäuscht, mit Wut im Bauch und der Gier nach Leben!
Sie fuhr in ihre „Stammkneipe“. Eine Disco auf dem Land mit ausgefallener Musik. Hier, unter all den verkrachten Existenzen, konnte sie sich gehen lassen und fühlte sich oft aufgehobener als sonst wo. Sie liebte die Strecke dorthin, es gab nichts Schöneres als nachts übers Land zu fahren.
Dort angekommen, ließ sie sich von der Musik treiben. Sie tanzte wie eine Verrückte, als könnte sie damit alles abschütteln. Wie in Trance, spürte sie keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Sie fühlte sich ganz leicht und wirbelte über die Tanzfläche, ähnlich einem tanzenden Derwisch, der sich solange um sich selbst dreht, bis er sich gefühlt irgendwo zwischen Himmel und Erde befindet.
Lange Zeit registrierte sie nichts und niemanden mehr. Als sie schwer keuchend langsam wieder zu sich kam, sah sie, dass außer ihr nur noch ein Mann auf der Tanzfläche war, der ihr immer näherkam und schon bald mit ihr tanzte. Sie hatte ihn hier noch nie gesehen und sie konnte ihm nicht widerstehen. Sie tanzten bis in die Nacht, mal wild, mal eng, bis sie vollkommen erschöpft und bis auf die Haut nass geschwitzt waren.
Er sagte: „Ich bin Jo und ich glaube, ich brauche jetzt frische Luft!“
„Ich bin Lisa und ich komme mit nach draußen.“
Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine heiße Sommernacht. Sie standen vor der Tür und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Die Spannung zwischen ihnen war kaum noch zu ertragen. Er war sozusagen ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Sie gingen ein paar Schritte, dann rannten sie beide los bis sie nicht mehr konnten und ließen sich ins noch warme Gras fallen. Als ginge es um ihr Leben, rissen sie sich die Kleider vom Leib und liebten sich kurz, aber heftig.
Wahrscheinlich ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was er bei ihr hinterlassen hatte, hatte dieser Jo sie tief berührt. Und doch war es nicht Jo und es war auch nicht der leidenschaftliche Sex. Es war vielmehr so, dass sie sich noch nie so leicht und befreit und so gedankenfrei gefühlt hatte. Erst einige Tage