Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller. Veronika Bicker

Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker


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richtig vermutet, das Fenster war lediglich nicht ganz geschlossen gewesen. Sie hatte vor dem Abendessen nochmal durchgelüftet und offensichtlich den Griff ein wenig verstellt. Sie zog ihn ganz nach unten und sofort wurde auch das Heulen des Windes leiser. Der Vorhang, der sich hinter ihrem Rücken immer noch leicht bewegt hatte, gab Ruhe und Marit atmete erleichtert auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie angespannt sie gewesen war.

      Jetzt, wo ihre Nervosität langsam verflog, bemerkte sie wieder die Kälte, die sich durch ihre Fußsohlen fraß und sich langsam in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Wenn sie jetzt nicht schnell zurück ins Bett kroch, würde ihr heute Nacht nicht wieder warm werden. Marit drückte das Handy fest an sich und lief so rasch sie konnte die Stufen hinauf.

      Das Schlafzimmer sah noch genauso aus, wie sie es verlassen hatte: die zerwühlten Decken auf dem Bett, die brennende Nachttischlampe. Es beruhigte sie, alles unverändert zu sehen, und sie beeilte sich, zurück ins Bett zu kommen. Vorsichtshalber schaltete sie das Handy ein und legte es auf ihrem Nachttisch ab. Doch als sie unter die Decken schlüpfen wollte, bemerkte sie, dass Michel nicht da war. Verwirrt sah sie sich um. Sie war sich sicher, mit der Puppe im Arm eingeschlafen zu sein, aber jetzt war sie nirgendwo zu sehen. Hatte sie sie versehentlich aus dem Bett geworfen, als sie die Decken zurückgeschlagen hatte?

      Marit lehnte sich über die Kante und warf einen Blick unter das Bett. Nichts. Nicht einmal das normale Chaos, das sich sicher in den nächsten Wochen hier ansammeln würde. Marit setzte sich wieder auf und sah sich um. Der Nachttisch war abgesehen von der Lampe und dem Handy leer. Die Puppe lag nirgendwo auf dem Boden. Hatte sie sie mit zum Kleiderschrank genommen und dort eingeschlossen? Der Gedanke kam ihr seltsam unerträglich vor. Wieder schwang sie sich aus dem Bett, lief zum Schrank und riss ihn auf. Kleider, Bettwäsche, Decken, alles ordentlich gefaltet. Kein Michel.

      Ratlos drehte Marit sich um. Wieder spürte sie Kälte durch ihren Körper strömen, doch dieses Mal kam sie nicht vom Fußboden. Was war mit ihrer Puppe geschehen? Was konnte denn überhaupt damit geschehen sein? Sie war doch hier gewesen. Wenn jemand hier hoch kommen wollte, hätte er an ihr vorbeigehen müssen. Es gab nur die eine Treppe und sie hatte niemanden gesehen oder gehört. Noch einmal drehte Marit sich um ihre eigene Achse. Nichts. Kein Michel. Ihr Herz begann abermals zu rasen.

      Natürlich war es Quatsch anzunehmen, dass jemand hier hereingekommen war und ihre alte Puppe geklaut hatte. Warum hätte er das tun sollen, wo doch ihr Geldbeutel auf einem der Regalbretter lag, gut sichtbar für jeden, der die Treppe hinaufkam. Warum also eine Puppe?

      Flüchtig fühlte Marit sich an die Zeit erinnert, in der Janna immer in ihr Schlafzimmer geschlichen war, um Michel zu sich zu entführen. Ihre Tochter hatte einen Narren an der Puppe gefressen und zwischendurch war ihr schwer klarzumachen gewesen, dass es sich hier um Mamas Puppe handelte, nicht um ihre. Marit hatte Michel dann unfehlbar an einem von Jannas Lieblingsorten wiedergefunden, gut versorgt mit »Kaffee« im Puppengeschirr und einem Lätzchen um den Hals.

      Eine Idee schoss ihr durch den Kopf. Diese Idee war absolut verrückt und es konnte einfach nicht sein, aber Marit bemerkte, wie ihr Körper von ganz allein reagierte. Langsam ging sie auf ihre Paravents zu. Nichts geschah, natürlich, auch wenn ihr überdrehtes Gehirn ihr tanzende Schatten und zittrige Bewegungen vorgaukeln wollte. Es schien, als bräuchte Marit für die wenigen Schritte bis zu ihrem Rückzugsort Jahre.

      Doch dann war sie da und spähte um den Sichtschirm herum. Das Licht der Nachttischlampe war hier nur noch schwach, aber es reichte, um die Szene zu beleuchten. Michel hockte auf Marits Sessel. Vor ihm auf dem Polster stand eine von Marits kleinen Espressotassen mit einem Löffel darin.

      Nein, das kann nicht sein. Nein. Ich bilde mir das ein.

      Wieder bewegte sich Marit automatisch, ging langsam auf den Sessel zu, nahm Michel hoch und drückte ihn an sich. Wie im Traum räumte sie die leere Tasse und den Löffel wieder zurück in das kleine Schränkchen und schloss die Tür. Sie ignorierte die Kälte, die durch ihre Adern flutete wie Eiswasser, sie versuchte nicht, eine Erklärung zu finden, sie versuchte, an gar nichts zu denken, sich keine Vorstellungen zu machen.

      Sie musste einfach schlafen. Morgen würde alles wieder viel klarer sein. Morgen würde sich sicher eine Lösung präsentieren, irgendetwas ganz Logisches, über das sie dann lachen konnte.

      Eigentlich hatte Marit mit diesem Gedanken wieder unter ihre Bettdecke zurückkriechen wollen, doch auf einmal fand sie sich in ihrem Sessel wieder, die Fleecedecke um die Schultern geschlungen, Michel auf dem Schoß. Sie rollte sich so eng wie möglich zusammen, versuchte, sich klein und unsichtbar zu machen, und schloss die Augen.

      Aber sie schlief nicht. Stattdessen lauschte sie. Kein Knarren, nicht die leisesten Stimmen konnten ihr entgehen, so glaubte sie.

      Doch der Leuchtturm lag still da, selbst der heulende Wind war verstummt. In der Ferne schlug eine Kirchturmuhr.

      Kapitel Vier – Urlaubserinnerungen

      Marit blinzelte in das helle Sonnenlicht, das hinter ihren Wandschirm fiel. Durch den schmalen Ausschnitt des Fensters konnte sie ein Stück blauen Himmels sehen.

      Ich bin doch wieder eingeschlafen. Einen Augenblick lang versuchte die Angst der vorigen Nacht, sich wieder über Marit herzumachen, aber sie drängte sie entschlossen in den Hintergrund. Sie war völlig übermüdet gewesen, als sie ins Bett gegangen war, und dann dieser Ausflug in die Küche, wahrscheinlich hatte ihre überdrehte Fantasie ihr schließlich einen Streich gespielt, als sie wieder ins Schlafzimmer gekommen war. Sie war sich jetzt gar nicht mehr sicher, ob sie Michel überhaupt mit ins Bett genommen hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Vielleicht hatte sie die Puppe — angeregt durch das Telefonat mit Janna — selbst dort hingesetzt.

      Es war schon vorgekommen, dass Marit im Halbschlaf durchs Haus gewandert war und sich alle möglichen Dinge eingebildet hatte. Manchmal hatte sie auch Sachen durch die Gegend getragen, ohne es richtig zu bemerken. »Schlafwandeln« hatte ihre Mutter das genannt, auch wenn der Kinderarzt damals gesagt hatte, dass es etwas anderes war. Was genau hatte Marit nie erfahren und irgendwann hatten ihre nächtlichen Wanderungen einfach aufgehört. Erst als Janna unter ähnlichen Symptomen litt, war es ihr wieder eingefallen. Aber auch bei ihr hatte sich das ausgewachsen. Anscheinend war es aber nicht so endgültig verschwunden, wie Marit geglaubt hatte.

      Nun, sei’s drum, sie hatte geschlafen, und jetzt, bei Tageslicht, gab es keinen Grund, sich vor dem Turm zu fürchten. Immerhin hatte kein böser Geist sie in der Nacht überfallen und auch sonst war nichts geschehen. Es wurde Zeit, sich in ihrem neuen Zuhause umzusehen. Sie wollte endlich richtig hier ankommen.

      Nach einer ausgiebigen Dusche und einem Frühstück fühlte Marit sich gestärkt genug, nach Nordersiel zu radeln. Erst als sie schon an der Eingangstür stand, fiel ihr auf, dass sie den Holzfäller-Michel immer noch in der Hand hielt. Sie musste ihn unbewusst mit ins Bad und danach zum Frühstückstisch genommen haben. Marit lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf. Offensichtlich brachte die ganze Situation sie mehr aus der Fassung, als sie gedacht hatte. Sorgfältig setzte sie Michel auf den kleinen Beistelltisch neben der Tür, fuhr ihm noch einmal durch das dichte schwarze Haar und trat dann endlich hinaus ins Freie.

      Meer.

      Schon der erste Luftzug, der ihr entgegenwehte, schrie die Tatsache geradezu hinaus: Sie war am Meer. Über dem Vorplatz kreisten ein paar Möwen und im kurzen Gras auf der Deichkrone spazierten zwei Austernfischer, beinahe behäbig und offensichtlich überhaupt nicht dadurch gestört, dass da jetzt noch ein Mensch in der Gegend herumstand. Marit konnte nicht anders, sie musste ihnen einfach zuwinken. Die schwarzweißen Vögel beäugten sie ein wenig misstrauisch, machten aber weiterhin keinerlei Anstalten, sich zu verziehen.

      Beschwingt ging Marit zum Carport hinüber und schloss ihr Fahrrad auf. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wann sie das letzte Mal Fahrrad gefahren war. Im Schwarzwald war nie genug Zeit dafür gewesen und da waren auch diese verflixten Berge, immer hoch und runter, das war ihr schnell zu anstrengend geworden. Aber hier, am Meer, wo alles flach war, hatte sie sich der Herausforderung gestellt, kein Auto mitzunehmen. Mal sehen, wie lange sie das durchhalten konnte. Ihrer Figur und ihrer Fitness würde es jedenfalls nur gut tun.


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