Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller. Veronika Bicker

Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker


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Flur getreten.

      »Kommen Sie mit in die Küche, ich mache Ihnen Tee. Oder Kaffee, Sie mochten lieber Kaffee, stimmt’s?« Die alte Frau warf einen Blick über ihre Schulter zurück und ihre Augen schienen zu lächeln. Marit bemerkte, dass auch Frau Booken sich nicht besonders verändert hatte. Natürlich, sie war älter geworden, aber das fiel nicht sehr auf. Sie war damals schon irgendwie zeitlos gewesen, mit ihrem braungebrannten Gesicht, den rissigen, rauen Händen und dem Haar, das entweder weiß oder sehr hellblond war und das ihr wie Pusteblumenflaum um den Kopf wehte. Altfrauenhaar, obwohl Frau Booken noch nicht gebrechlich wirkte. Sie war groß, ein wenig hager und hatte kräftige Armmuskeln. Marit konnte sich erinnern, dass sie einmal ein entlaufenes Schaf niedergerungen hatte.

      Mit einem Mal war Marits Unwohlsein verschwunden und es kam ihr geradezu natürlich vor, sich an diesem Ort wiederzufinden. Sie folgte Frau Booken in den Flur und dann weiter in die Küche, die von einem massiven Holztisch dominiert wurde. Marits Wissen nach lebte die Frau alleine hier, doch an dem Tisch musste Platz für mindestens acht Personen sein. Eine Hälfte davon war vollgestapelt mit allem Möglichen: halb ausgeschnittene Serviettenmotive, Kleber, Holzbrettchen, ein Tischwebrahmen, ein Stapel Tonpapier, mehrere Farbtuben, Pinsel, ein halb ausgestopfter Teddybär, zwei buntbemalte Tontöpfe und ein Puppenkopf, der mit starren Augen an die Decke sah. Daneben lag ein Stapel Kreativbücher, eine bunte Mischung aus Ratgebern für alles, was man sich so als handwerklich-künstlerische Technik vorstellen konnte. Frau Booken lächelte, als sie Marits Blick bemerkte.

      »Meine Winterhobbies«, meinte sie schlicht. »Bevor die ersten Gäste für dieses Jahr kommen, muss ich hier mal gründlich aufräumen. Aber vorher möchte ich mich noch am Peddigrohrflechten versuchen, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich dann mit all den Körben anstellen soll.«

      »Verkaufen?«, schlug Marit vor und ließ sich wie selbstverständlich auf einen der Stühle fallen. Das sonderbare Gefühl, dass sie genau am richtigen Ort war, wollte sie immer noch nicht loslassen.

      »Ach, niemand braucht heute noch Körbe.« Frau Booken werkelte an der Kaffeemaschine herum, zog dann einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit Keksen. Marit erinnerte sich noch zu gut an die Kekse. Knusprige Waffelherzen und runde, zuckerbestreute Taler. Selbstverständlich selbstgebacken. Janna hatte damals nicht genug davon bekommen können.

      Frau Booken stellte den Teller vor Marit ab und setzte sich selbst auf einen der übrigen Stühle. »Kaffee dauert noch einen Moment«, meinte sie und lächelte ihr herzliches Lächeln. »Also, was bringt Sie her?«

      Marit nahm sich eines der Waffelherzen und begann, am Rand herumzuknabbern. Sie hoffte, damit die Zeit zu gewinnen, sich eine plausible Antwort auszudenken. Sie war sich ja selbst nicht sicher, warum sie ihr Weg hierhin geführt hatte. War es ein Versuch, die Vergangenheit zurückzuholen? Den Urlaub wieder aufleben zu lassen? Allmählich fragte sie sich, ob das nicht der eigentliche Grund gewesen war, aus dem sie Herrn Diecks Angebot so willig angenommen hatte. Irgendetwas in ihr hatte diese Woche vor vierzehn Jahren nie vergessen können.

      Dann wurde ihr klar, dass Frau Booken vermutlich nur ihre Entscheidung meinte, ans Meer zu ziehen. Marit war fast ein wenig erleichtert.

      »Ich … habe mich zur Ruhe gesetzt, könnte man sagen. Ich weiß nicht, ob ich es damals erzählt habe, aber ich habe das Hotel meiner Eltern übernommen. Seit ich zwanzig war, habe ich mein Leben da rein gesteckt. Jetzt …« Sie zögerte. Jetzt übernimmt Janna das Ruder und ich erkenne mein Lebenswerk nicht wieder? Nein. »Jetzt hat meine Tochter das Haus übernommen und ich habe endlich ein wenig Zeit für mich. Ich habe gemerkt, dass ich da weg musste. Vor einem halben Jahr hat mir eine entfernte Tante etwas Geld vererbt und ich dachte: Das ist jetzt die Gelegenheit.« Sie lächelte. »An das Meer hatte ich gute Erinnerungen. Und als ich heute Ihr Schild sah, wollte ich einfach sehen, ob sich hier etwas verändert hat.« Keine richtige Lüge. Höchstens ein wenig ausgelassen. Sie steckte das Waffelherz ganz in den Mund, um nicht weitersprechen zu müssen.

      Die alte Frau nahm sich selbst eines der Herzen und biss hinein. Ihr Lächeln war breit und ehrlich. »Ich freu mich, dass Sie wieder her gefunden haben. Ich erinnere mich noch gut an Sie und ihr kleines Mädchen. Janna war so ein nettes Kind, und aufmerksam.« Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter und sie zwinkerte Marit verschwörerisch zu. »Sie wissen doch bestimmt, wovon ich rede, oder?«

      Marit schluckte. Kekskrümel kratzten in ihrem Hals und sie hatte Mühe, einen Hustenanfall zu unterdrücken. Sie konnte spüren, wie ihre Augen feucht wurden und wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. Nicht, dass Frau Booken am Ende noch glaubte, sie würde sentimental, wenn es doch eigentlich nur ein trockener Hals war, der sie plagte.

      »Ich … bin mir nicht sicher.«

      Frau Booken war wieder aufgestanden und zog die Kaffeekanne aus der Maschine. Sorgsam goss sie Kaffee in zwei blauweiß gemusterte Becher. »Tomme«, sagte sie schlicht und Marit hätte sich beinahe an dem Zuckertaler verschluckt, den sie gerade in den Mund gesteckt hatte. Jetzt kam der Hustenanfall doch und für einige Momente hatte Marit das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

      Frau Booken wartete geduldig, bis Marits Husten abgeebbt war, und hielt ihr dann den Becher hin. »Trinken Sie einen Schluck, dann wird es besser«, meinte sie.

      Marit trank so hastig, dass sie sich beinahe zusätzlich den Mund verbrüht hätte. Sie stellte den Becher heftig auf der Tischplatte ab, sodass ein wenig Kaffee herausschwappte und sich in einer kleinen Pfütze sammelte.

      »Was wissen Sie über Tomme?«, brachte sie schließlich hervor. Sie war sich so sicher gewesen, dass Janna nur ihr von ihrem eingebildeten Freund erzählt hatte, aber offensichtlich hatte sie sich auch ihrer Vermieterin anvertraut. Warum?

      Frau Booken lächelte immer noch. Es war ein weises, gütiges Lächeln, das geradewegs von einer Märchenoma aus einem Kinderbuch stammen könnte. Sie griff sich einen Stickrahmen aus dem Chaos von Kreativsachen und begann, mit geschickten Fingern eine winzige gelbe Blüte zu sticken.

      »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie deswegen hier sind«, sagte sie frei heraus. »Janna war ja damals Tomme sehr nah.«

      Marit schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Woher kennen Sie Tomme? Hat Janna von ihm erzählt?«

      Frau Booken lachte. »Nicht direkt. Janna hat mir schon am ersten Tag erzählt, dass sie einen Jungen am Meer gesehen hat, der dann auf einmal verschwunden war, und ich meinte, das müsse wohl Tomme sein. Und ich habe gehört, wie sie Ihnen später von ihm erzählt hat.« Mit einem beinahe mikroskopisch kleinen Stich schloss sie die gelbe Blüte ab und machte sich an die nächste. »Janna war ein besonderes Kind, nicht wahr? Normalerweise können nur Einheimische Tomme sehen oder Menschen, die sehr lange in dieser Gegend leben.«

      Die gemütliche Küche schien sich regelrecht vor Marits Augen zu drehen. Wilde Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Sie hatte immer geglaubt, Tomme sei eine Erfindung von Janna gewesen.

      »Wer … ist denn Tomme?«, fragte sie vorsichtig. Ihre Hände krallten sich so fest um den Kaffeebecher, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

      Frau Booken zuckte mit den Schultern, wechselte das Stickgarn und begann, die gelben Blümchen mit geschwungenen, hellgrünen Ranken zu verbinden. »Ein Geist«, antwortete sie schlicht. »Ein Kindergeist. Man sagt, er sucht diese Gegend schon lange heim. Nicht alle können ihn sehen und noch weniger Leuten ist es gelungen, mit ihm zu sprechen, aber es kommt wohl vor. Tomme ist harmlos. Ein Kind, das bei einer Flut ums Leben gekommen ist oder so etwas Ähnliches. Genaues weiß ich auch nicht.« Sie lachte, ein wenig verlegen. »Um ehrlich zu sein, habe auch ich Tomme für eine Sage gehalten. Wissen Sie, als Janna das erste Mal von dem Jungen am Meer erzählt hat, habe ich Tomme nur zum Spaß erwähnt. Ich dachte, ich mache ihr ein bisschen Lust auf die lokale Geschichte, aber Janna meinte sofort: ›Ja, ja, das ist er, ich bin mir ganz sicher‹, und dann wollte sie mehr über ihn wissen, aber ich war selbst so unsicher. Ich hatte die Geschichte nicht mehr richtig im Kopf und habe Janna gesagt, sie muss sich in Nordersiel umhören. Später hat sie mir dann erzählt, dass sie sich mit Tomme unterhalten hat und dass er draußen vor den Halligen ertrunken ist, und es klang alles so … echt.« Winzige grüne Blättchen


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