Isola Mortale. Giulia Conti

Isola Mortale - Giulia Conti


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an diesem frühen Morgen an diesem winterlichen Strand, an dem eine tote, wahrscheinlich ermordete Frau lag, ganz und gar unpassend fühlte: Er freute sich, Carla wiederzusehen.

      Die Leiche lag auf einem Wiesenstück unter den Bäumen und war mit einem Tuch abgedeckt. Der Mann und die Frau von der Spurensicherung waren offenbar schon mit ihrer Arbeit fertig, hatten die Kapuzen ihrer Schutzanzüge abgenommen und packten ihre Sachen zusammen, wie es auch der Arzt tat, der die Tote untersucht hatte. Unten am Strand lag ein Ruderboot, ein schlankes Holzboot mit einem kleinen Motor, wahrscheinlich das, das die Tote benutzt hatte. Wieso war sie bei dem Sturm auf den See gefahren? Das war doch irrwitzig und glatter Selbstmord, dachte Simon.

      Carla bemerkte seinen Blick und erahnte seine Gedanken. »Sie werden sehen, Simone, sie hat sich nicht umgebracht. Sie ist auch nicht ertrunken. Sie hat eine Kopfverletzung und ist wahrscheinlich erschlagen worden. Der Arzt will sich zwar noch nicht hundertprozentig festlegen, aber er ist sich ziemlich sicher. Natürlich könnte sie bei dem Wellengang auch mit dem Kopf irgendwo gegengeschlagen sein, zum Beispiel an die Ufermauer dahinten, wo die Schiffsanlegestelle ist. Die Wunde an ihrem Hinterkopf sehe aber ganz nach einem Hieb mit einem flachen Gegenstand aus, meint der Arzt, und sie sei höchstwahrscheinlich schon tot gewesen, als sie ins Wasser gefallen ist. Den Bericht von der Gerichtsmedizin bekomme ich spätestens morgen Vormittag. Jetzt versuchen wir erst mal herauszufinden, wer sie ist.« Carla hielt ihm ihre Handschuhe hin. »Helfen Sie mir mal, die anzuziehen?«

      Sie hatte sehr schmale Hände, mit langen Fingern ohne Ringe und kurz geschnittenen Nägeln, und obwohl es nur diese scheußlichen Latexhandschuhe waren, die er ihr anlegte, berührte ihn dieser fast schon intime Vorgang. Die Polizistin reichte ihm nun ebenfalls Handschuhe, dann zog sie mit der rechten Hand das Tuch zur Seite, das die tote Frau abdeckte. Simon hatte schon viele Leichen gesehen, doch diese hier war außergewöhnlich. Es war eine Nonne, und obwohl sie im Wasser gelegen hatte, sah man, dass sie ausgesprochen schön war, groß, aber schmal und sehr zart. Sie trug eine Kutte, ihren Schleier musste sie im See verloren haben. Simon blickte in ihre dunkelgrauen, starren Augen, in ihr fahles Gesicht, berührte spontan ihr fast weißblondes Haar, das in langen, nassen Strähnen an ihrem Kopf klebte. Er schätzte sie auf höchstens Mitte zwanzig. Sie war bleich, aber nicht aufgedunsen, konnte also nicht allzu lang im Wasser getrieben sein, bevor die Wellen sie an diesen Strand geschwemmt hatten. Die klaffende Wunde am Hinterkopf sah Simon erst auf den zweiten Blick.

      Carla riss ihn aus seinen Betrachtungen. »Heben Sie bitte mal ihren Kopf an, Simone?« Ohne zu zögern, folgte er ihrer Bitte, und Carla griff zu der Silberkette mit dem Amulett, die die Nonne um den Hals trug, öffnete routiniert den Verschluss, nahm sie ihr behutsam ab und reichte sie Simon, der das Amulett in seiner Hand wog. Es war nicht besonders schwer, sah aber nach echtem Silber aus. In der Mitte etwas erhaben ein kleiner Kopf in Gold, der eine betende Jungfrau Maria darstellte. Um sie herum lief am Rand eine Schrift. Simon las laut: »Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden frei von Schuld. München 2006

      »Ist das eine Spezialanfertigung oder haben Sie solche Amulette schon häufiger in Deutschland gesehen?«, fragte Carla. »Und hat der Text irgendeine besondere Bedeutung?«

      »Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. In Religionsfragen bin ich nicht besonders bewandert und erst recht nicht bibelfest, das können Sie sich ja denken, so gut kennen Sie mich ja inzwischen«, erwiderte Simon. »Das sieht aber wertvoll aus, das ist nicht irgendein Tand, der an jeder Ecke als Massenware verkauft wird.«

      Inzwischen waren die Sargträger angekommen, schauten fragend zu Carla, sie nickte, streifte ihre Handschuhe ab, ging zu ihnen und wechselte ein paar Worte mit den beiden Männern.

      Simon setzte sich auf eine niedrige Steinmauer am Ufer und blickte auf das Wasser. Der Tod dieser jungen Frau ließ ihn nicht kalt, die Schutzhaut, die er sich in seinem Beruf über Jahre zugelegt hatte, wurde poröser, seit er in Ronco lebte. Lag das auch an diesem See, der ihm unter die Haut ging und ihn berührbarer machte?

      Gerade diese Ecke, den Strand von Lagna und den Uferweg, der sich wunderschön unter Bäumen am Ufer entlang schlängelte, liebte Simon, ging dort gerne spazieren und hin und wieder auch joggen. Der See weitete sich hier, gab den Blick frei auf die Isola San Giulio, die kompakt bebaute kleine Klosterinsel, die sich vor ihm wie ein Schiff aus dem See erhob. War die Nonne von dort mit ihrem Boot gestartet? Das lag nah, und Carla würde es sicher bald herausbekommen.

      Simons Blick schweifte weiter über den See, bis in den Norden, wo die erste Alpenkette mit schneebedeckten Zacken in den Himmel ragte. Geradezu bühnenreif war das Panorama, das sich vor ihm auftat, auch wenn die Sturmnacht ein paar hässliche Spuren hinterlassen hatte. Der Strand war übersät von Pflanzen und allem möglichen angeschwemmten Plunder, Blätterbergen, Zweigen und sogar ganzen Ästen, aber auch viel Plastik, Sprudelflaschen und Fetzen durchsichtiger Folie, die wer weiß woher kamen. In einem Rinnsal dümpelten eine Badelatsche und ein kaputter Ball vor sich hin, und auf dem Wasser schaukelte ein roter Kindereimer.

      Unübersehbar waren auch die Warnschilder, die darauf hinwiesen, dass dieser Strand nicht bewacht wurde. Die hatte man vor ein paar Monaten angebracht, nachdem hier im Frühjahr, als noch gar nichts los war, ein Unglück passiert war. Zwei Kinder waren an diesem Strand ertrunken, Söhne syrischer Flüchtlinge; beide konnten nicht schwimmen. Der Kleinere, Sechsjährige, hatte sich wohl zu weit vor in den schnell steil abfallenden See gewagt und war untergegangen, der Ältere, Zehnjährige, hatte versucht, seinen kleinen Bruder zu retten und war dabei selbst ertrunken. Das Unglück löste eine Welle von Anteilnahme bei den Menschen am See aus. Zwar brachten die Italiener den Flüchtlingen, die über das Mittelmeer, oft als Schiffbrüchige, in ihr Land kamen, nicht immer Sympathie entgegen, viele unterstützten im Gegenteil die gegen die Migranten gerichteten Parolen eines rechtspopulistischen Politikers, der gerade hier im Norden des Landes seine größten Erfolge erzielte. Aber angesichts dieser Tragödie direkt vor ihren Augen siegten die ausgeprägte Freundlichkeit und das Mitgefühl der meisten Italiener, und man überschlug sich vor Hilfsangeboten für die syrische Familie.

      Carla kam wieder auf Simon zu, der noch immer gedankenverloren auf der Steinmauer saß, tippte ihm auf die Schulter und holte ihn zurück in das Geschehen am Tatort, wo die Sargträger gerade die Leiche in eine Hülle packten, sie mit Schwung in den Zinkbehälter hoben und mit ihr verschwanden. Die schöne Frau würde nun auf dem Tisch des Gerichtsmediziners landen, eine Vorstellung, die Simon trotz seiner Routine in der Begegnung mit dem Tod immer wieder irritierte.

      Carla steckte das Amulett in eine Plastiktüte. »Hier brechen wir jetzt unsere Zelte ab. Vielen Dank, Simone, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich melde mich wieder bei Ihnen, okay?«

      Sie gingen noch gemeinsam hoch zum Parkplatz. »Wie kommen Sie denn nach Omegna, können Sie mit dem verletzten Arm überhaupt Auto fahren?«, fragte Simon.

      »Eigentlich schon, aber wenn mich die Carabinieri erwischen, wird das teuer«, antwortete Carla grinsend, und auch Simon musste lachen. »Aber im Ernst, Stefano fährt mich«, fuhr sie fort und zeigte auf den Carabiniere, der oben vor dem Parkplatz das Flatterband bewachte. Auf eine erneute Begegnung mit ihm konnte Simon gut verzichten. Er verabschiedete sich von Carla und verschwand mit schnellen Schritten zu seinem Peugeot.

      3

      Eine helle Wintersonne holte Simon am nächsten Morgen schon früh aus dem Schlaf. Er richtete sich in den Kissen auf und sah aus dem nur spaltbreit geöffneten Fenster auf die andere Seeseite, wo die Sonne gerade aufging, jetzt knapp über den Hügeln stand und flimmernde Lichttupfer auf die Wand des Schlafzimmers warf. Eine leichte, aber stetige Brise blies wieder über den See, fuhr auch in die Palme neben Simons Haus und brachte ihre harten, langen Blätter zum Klappern wie einen Fächer. Luisa schlief noch. Simon stand vorsichtig auf, um sie nicht zu stören, schloss das Fenster und drehte die Heizung in dem kalten Raum auf.

      Sie waren erst spät ins Bett gekommen; Simon hatte gekocht, mit Steinpilzen gefüllte Pasta, ein Kalbsragout mit Salbei und Weißwein, danach Käse mit einer Mostarda aus Feigen und zum Abschluss einen Zitronenkuchen. Dazu waren viel Barolo und hinterher noch Grappa geflossen.

      Eigentlich hätte Simon


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