Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
über den zentralen Dorfplatz hinweg zurufen und an einer Ecke zusammenkommen, wie sie einen Kreis bilden und zu rhythmischem Händeklatschen zu singen anfangen, wie andere Frauen dazutreten und wie sofort eine Atmosphäre der Fröhlichkeit und Herzlichkeit unter den Singenden entsteht. Die Schönheit dieser afrikanischen Frauen – ah, wunderbar. Struktur wie üblich: die Vorsängerin trägt in Liedform gestenreich ihr Anliegen vor, manchmal auch tanzend und regelrecht rollenspielend, und der Chor begleitet sie mit zustimmenden Rufen und wiederholt refrainartig immer die letzten Verse der Strophen. Auch die Umstehenden machen ermunternde Zurufe und nehmen überhaupt lebhaft Anteil, denn meistens werden in den Liedern ja Dinge verhandelt, die sie selber betreffen. In Nguiémé etwa warf die zweite Frau des Bürgermeisters ihrem Mann nicht nur die Zurücksetzung durch eine neue, jüngere Ehefrau, sondern auch üble politische Machenschaften und krumme Geschäfte vor. Faszinierend, wie die Frauen in ihrem geschlossenen Kreis zu einer einzigen kollektiven Stimme werden und in dem Freiraum, den sie sich gewissermaßen ersingen und erspielen, Äußerungen tun, die unter anderen Umständen undenkbar wären. Ach, da gäbe es noch viel zu erzählen, aber jetzt wollen die Enkeltöchterchen auch was von ihrem Opa haben, der immer so lustig ist und so tolle Spiele kennt.
Ja, spielt nur, spielt. Sofie könnte noch lange zuhören, aber der Funke ist übergesprungen. Singen und Erzählen nicht als zwei getrennte Aktivitäten, sondern in eine Form zusammengezogen! Auf die Idee hätte sie selbst kommen können. Natürlich hat sie nicht vor, sich mit ihren Frauen an den Jungfernstieg zu stellen und Klagen über ihre Beziehung und die allgemeine männliche Gefühl- und Gedankenlosigkeit zu trällern. Männer und Frauen sind in ihrem Land an einem anderen Punkt miteinander als bei den Nzima von Nguiémé. Aber im geschützten Raum ihres Kreises könnten doch auch sie, könnte jede einzelne von ihnen die Freiheit und Sicherheit entwickeln, den anderen singend und spielend vorzutragen, was sie auf dem Herzen hat, und so viel Arbeit darin investieren, wie ihr die Sache wert ist. Jede könnte mit ihrem persönlichen Anliegen zur Vorsängerin werden, die anderen anleiten und mitnehmen, um dann wieder in den Kreis zurückzutreten und die nächste machen zu lassen. Sie könnten vorhandene Lieder umdichten oder neue spontan entstehen lassen und langsam ein Repertoire ansammeln, auf das sie zurückgreifen könnten – nicht um Vortragskunst für ein Publikum zu produzieren, sondern gewissermaßen zur vitalen musikalischen Selbstversorgung, um mit solchen Formen das eigene Leben und ihr entstehendes gemeinschaftliches Leben zu stärken. Es wäre ein Mittelding zwischen Komposition und Improvisation, was sie da schaffen würden: sie würden entweder wie bisher bekanntes Liedmaterial für ihre Zwecke benutzen, wenn auch mit neuer Zuspitzung, oder eigene musikalische und textliche Eingebungen gemeinsam bearbeiten, wenn sie sich vielversprechend anhörten. Beim Nachdenken kommt ihr der Verdacht, dass sie mit ihrer tollen Idee nur dem Geheimnis der echten Volksmusik auf die Spur gekommen ist: eine lebendige Gemeinschaft singt von den Sachen, die sie wirklich bewegen, sie hört sich keine vorgefertigten Lieder vom Band an, und sie zelebriert keine festgeschriebenen, jahrhundertelang unverändert gehaltenen Hochkulturkunstwerke, deren ursprünglicher freier und spielerischer Geist sich in der buchstäblichen Aufführung zwangsläufig in sein Gegenteil verkehrt, weil das freie Spiel allein Sache des Komponisten ist und nur bestaunt, aber um Gottes willen nicht mitvollzogen werden darf. Das eigene Singen und Musizieren dagegen befreit jede Einzelne, und zugleich stärkt es das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Einzelne wird in sich selbst geerdet wie auch in der Gemeinschaft, und so geerdet kann sie frei abheben und sich in die Höhe schwingen und hat im höchsten Hochschwung immer die Sicherheit, frei zurückkehren zu können und festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Satz, sie weiß nicht von wem, geistert ihr durch den Sinn, vor Jahren einmal gehört, sie weiß nicht mehr wann, in irgendeiner wichtigen Situation, sie weiß nicht mehr wo. »Fittiche gib uns, mit treuem Sinn hinüberzugehen und wiederzukehren!« Sie gibt ihm eine melodische Form, bringt ihn der Gruppe zum Sommerfest mit.
Was Sofie mit Erdung meint, verstehen alle, aber manche fragen sich, ob sie so viel Kreativität aufbringen können und mögen, oder so viel Hingabe; eine verlässt die Gruppe. Dann hat Lydia eine Fehlgeburt, ihre zweite, und als sie zwei Wochen später zum Wintertreffen der Gruppe kommt, lässt sie sich mit ihrem ganzen Schmerz in die Hände der Freundinnen fallen, so dass diese gar nicht anders können, als die Weinende und Jammernde aufzufangen. Sie fängt an, ein ukrainisches Wiegenlied zu schluchzen, von dem sie sich vorgestellt hat, es ihrem Söhnchen vorzusingen, und erst stimmt eine leise ein, dann nach und nach die anderen, so gut sie den Text verstehen. Lydia übersetzt ihnen die einfachen Worte, singt deutsch weiter, und alle singen mit. Weinen mit. Die Zeile »Morgen wirst du wieder wach« verändert Lydia zu »Niemals wirst du wieder wach«, und gemeinsam dichten sie weiter, bis aus dem Wiegenlied eine Totenklage geworden ist. Tod und Trauer werden groß unter ihnen. Mona erzählt, wie ihre kleine Schwester mit fünf bei einem Unfall ums Leben kam und wie die Mutter keine Möglichkeit fand, ihr Leid mit jemandem zu teilen, es aus sich hinauszubringen, und wie sie über die Jahre innerlich davon aufgefressen wurde. Andere folgen mit eigenen Geschichten, mit unbewältigtem Schmerz. Dazwischen singen sie immer wieder unter Tränen Lydias Lied, wandeln es ab, dichten eine neue Strophe. Das ganze Wochenende singen sie nur dieses eine Lied, und am Ende ist es ihr gemeinsamer Klagegesang, der mit den Jahren zu Traueranlässen ertönt. Die Art, wie das Lied von der ganzen Gruppe geboren wird, wie mal die eine, mal die andere vorsingt und die anderen einfallen und weitermachen, wird zum Vorbild für andere Formen. Wenn eine erzählt, trauen sich die anderen, mit spontanen Äußerungen einzugreifen, eine Bemerkung zu wiederholen, vielleicht in einer rhythmischen oder melodischen Form, mit einem Wort zu spielen, eine Frage zu singen, ein Leid mit Klagetönen, eine Freude mit Jubel zu teilen. Ein Gefühl entsteht, was angemessen und stimmig ist, das Vertrauen wächst, von den anderen getragen und nicht im Stich lassen zu werden, wenn eine sich öffnet. Manche tanzen, nehmen andere mit. Manche tun sich mit Worten schwer und legen ihr Gefühl in Lautmalereien. Jede legt ihr kleines Herz auf den Tisch und bekommt es gestärkt als großes Herz der ganzen Gruppe zurück. Stücke entstehen, die nur rhythmisches Atmen sind, nur unartikulierte, tierische Töne. Es gibt wilde, ekstatische Momente und Erfahrungen tiefen Friedens. »Ist das vielleicht mit der Göttin gemeint?«, sagt Carola am Ende eines Treffens. »Dann werde ich doch noch fromm.«
Derweil reagiert Gregor zunehmend gereizt auf Sofies anhaltende Weigerung, die Schauspielkarriere weiterzuverfolgen und ihren Frauenkreis hintanzustellen, ihre »militanten Tanzetanten«, wie er sie nennt, auch »militante Dillitanten«, wenn er richtig sauer ist. »Da kriegt das Wort Dilettantismus noch mal eine ganz neue Bedeutung«, ätzt er. Irgendwann platzt Sofie der Kragen. »Du kriegst mich nicht auf die Schlachtbank zurück!«, fährt sie ihn an, als er ihr wieder mal vorhält, welches Verbrechen sie an sich und der Mitwelt begeht, wenn sie ihre »geniale Begabung« unter ihren Dillitanten verkommen lässt. »Die Schlachtbank« ist nach der Penthesilea-Erfahrung mit ihrem Körper- und Seelengemetzel ihr Wort für die Bühne geworden. »Du hast ja keine Ahnung, wie gut wir wirklich sind!«, schäumt sie, und noch weniger Ahnung hat er davon, woran sie eigentlich arbeiten, nämlich an einer Kultur im ursprünglichen Sinne, Kultur als gemeinschaftliches Bauen des Lebens, als gepflegtes menschliches Miteinander. Diese wahre Kultur verarmt und verelendet, wenn die »Genies« es verschmähen, mit ihrer Kunst die Wirklichkeit zu gestalten, und sich bloß auf ein endlos verfeinertes leeres Virtuosentum kaprizieren. In Wahrheit nämlich erweist sich das Genie im Dienst an der Gemeinschaft, nicht im Streben nach eigenem Ausdruck und individueller Selbstverwirklichung, es will helfen und dienen, will wirken, wo es gebraucht wird, und erst wenn es nicht weiß, wo und wofür es gebraucht wird, verselbständigt es sich in technischer Perfektion und stellt sich auf die hohe Bühne, um sich bewundern zu lassen. »Dann stehst du da und die andern beten dich an in deiner titanischen Gottgleichheit, wenn du dir auf der Schlachtbank das Herz eigenhändig herausreißt. Sie beten dich an und sie rächen sich zugleich an dir für ihr eigenes verarmtes Leben, an ihren ›Stars‹, ihren Sternengöttern am dunklen Lebenshimmel. Sie jubeln, wenn die Götter die Schlachtbank besteigen und sich selbst zum Opfer bringen. Je jünger, umso göttlicher. Besser noch, wenn die Stars wirklich sterben, dann können sie hinterher als heilige Tote weiter verherrlicht werden. Aber ohne mich. Ich fange mit diesem Spiel gar nicht erst an. Ich werde das Leben heiligen.«
Gregor schluckt und gibt nach. Sie versöhnen sich wieder, aber eine Entfremdung bleibt und nimmt zu. Er geht fremd und ansonsten in seiner Arbeit auf. Immerhin gelingt es ihr, ihn umzustimmen, als er das Angebot, als Generalintendant