Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring
Das Lassen, das hatten die alle nicht gelernt. Und die wenigen Momente erkennen, wo man wirklich handeln musste, dann aber schnell und richtig. Jakob quäkte, als Sinje ihm Arme und Beine bewegte und ihn auf allerlei Art drehte und wendete. Die Momente kriegten die Techniker gar nicht mit, die der Meinung waren, sowieso alles besser zu wissen als die Frauen. Hauptsache, sie waren wichtig mit ihren Apparaten. Wie gesagt, Bo hatte das prima gemacht, auch ohne Vorbereitungskurs. Da sah man mal wieder, dass die paar Handgriffe, die wirklich gebraucht wurden, schnell beigebracht waren, zumal jede Frau da andere Bedürfnisse hatte. Das Wesentliche war, dass einer seiner Frau vertraute, das spürte die dann, und das gab ihr Sicherheit. Sie hatte Jakob inzwischen beruhigt und hörte noch Herz und Lungen ab. Ja, sagte Bo, Kurse und Technik waren eh nicht so seine Sache. Das mit den wenigen Momenten verstand er. Aber jetzt musste er sich erst mal hinsetzen, sein verdammtes Knie tat weh.
Er ist in Gedanken schon beim Umzug nächste Woche. Erst einmal wird er das kleine Kabuff im Obergeschoss beziehen und sich dann irgendwann das Gartenhäuschen ausbauen. Bis dahin wird allerdings Jakob auf der Welt sein, und wenn er – Ruck! Es ist nur ein kleines Stück, das der Stamm vorschnellt, doch genug, um Bo die Säge aus der Hand zu schmettern und ihn von den Beinen zu schleudern. Scheiße, er hat geschlafen und nicht gemerkt, dass das Ding unter Spannung stand! Im nächsten Moment ein solcher Schmerz im linken Knie, dass er fast ohnmächtig wird. Berthold hat es zum Glück gesehen, bei laufender Säge könnte Bo schreien, so viel er wollte, der Arbeitskamerad würde nichts hören. An Stehen und Gehen ist gar nicht zu denken. Als Berthold ihn schließlich mit der Schubkarre zum Auto und auf der Rückbank ins Sankt Elisabeth verfrachtet hat, reicht dem Notarzt ein Blick auf den offenen Bruch und er gibt Anweisung, Bo zur Operation fertig zu machen.
»Wär schöner, wir hätten uns unter andern Umständen kennen gelernt«, meint Volker am Abend des nächsten Tages zu Sofie, als er ihr das Gästezimmer zeigt, das sie bei dem kalten Oktoberwetter doch Bos Zirkuswagen vorzieht. Sie ist völlig erschlagen, nachdem sie wie eine Wilde durch die ganze Republik gedüst ist und an Bos Bett gesessen hat, bis sie fast bei ihm eingeschlafen ist. Concha entschuldigt sich für das Chaos im Haus, sie hätten sich in dem Monat, seit sie aus Peru zurück sind, noch immer nicht richtig eingefunden; zwei Jahre seien schon eine lange Zeit. In seinen Desperadozeiten am Anfang sei Bo nie etwas zugestoßen, bemerkt Volker noch bei dem kleinen Schlaftrunk, auf dem er besteht, bevor er die todmüde Schwangere ins Bett entlässt, aber jetzt, wo der Junge längst den Motorsägenschein nachgemacht und zehn Jahre Erfahrung hat und die vorgeschriebene Schutzkleidung trägt und überhaupt, jetzt pennt er einmal eine Sekunde weg und zack. Aber Sturmholz aufarbeiten ist einfach ein Himmelfahrtskommando. Wenn ein Baum unter Spannung steht, weiß kein Mensch vorher, wie er sich verhalten wird, und in solchen Windwurfnestern kann ein Schnitt eine Kettenreaktion auslösen, die auch mit größter Erfahrung nicht vorauszusehen ist. O Mann, er könnte ihr Geschichten von Waldunfällen erzählen, von Verletzungen mit der Motorsäge, da würde sie das kalte Grausen kriegen. Bos zertrümmerte Kniescheibe ist ja wirklich nicht schön, aber wenn sie Glück hat, kann sie ihren Liebsten in zwei Wochen einpacken, und dann ist die Heilung nur eine Frage der Zeit.
Drei Wochen später erfordern Komplikationen eine Nachoperation, so dass der Umzug erst Anfang Dezember stattfinden kann. Volker hat da ohnehin im Norden zu tun, und Bos spärliche Habe passt bequem in den Volvo, Möbel braucht er keine. »Tja, nicht ganz so gegangen, wie wir im Frühjahr dachten«, bemerkt er, als er am Abend des langen Tages erschöpft auf dem Sofa liegt, Sofies Bauch streichelt und sie sich von dem weichen, dunklen Kokon einhüllen lassen, den das Cello auf der Geburtstags-CD hinter ihnen webt. Sie nickt. »Nicht ganz.« Wie sie ihn da liegen sieht, fragt sie sich, und nicht zum ersten Mal, ob sie diesen Mann schlicht überfahren hat. Ob sie mit ihrem Glück das Schicksal herausgefordert hat. Bis zu dem Unfall ging ja wirklich alles unheimlich glatt, wenigstens für sie. Sie hat den Mann bekommen, den sie haben wollte. Er war bereit, zu ihr zu ziehen. Falls es für ihn da etwas zu entscheiden gebe, sei es mit ihrem Wunsch entschieden. Sie hat sich ein Kind von ihm gewünscht, und wenn alles gut geht, wird sie es in einem Monat bekommen. Ob sie es darauf angelegt habe, hat er sie bei ihrem Besuch im Sommer lächelnd gefragt, und sie musste immerhin zugeben, dass sie auch über die heißeste Liebe nie ihre fruchtbaren Tage vergessen würde. »Hast du nicht jeden Schutz vor mir abgelehnt?« Ja, das gab er ihr zu. Ob er gar nicht daran gedacht habe? Kurzes Zögern. Doch, habe er. Und? Er war bereit, es drauf ankommen zu lassen, aber er hätte es nicht betrieben. Ach ja? Natürlich freue er sich, mehr als er sagen könne, aber was hatte sie so früh so sicher gemacht, ein Kind von ihm haben zu wollen? War ihre Entscheidung vielleicht schon vor dem Wiedersehen in Heidelberg gefallen? Das gab sie ihm nicht zu. Aber, musste sie einräumen, mit ihm zusammenzugehen habe für sie von vornherein geheißen, ein Kind von ihm zu haben. Mit ihm. Ja, sie habe aufs Ganze gehen wollen, ihr Leben wagen, ihres und das ihres Kindes. Einen Punkt setzen, wo es kein Zurück mehr gab. Für sie. Er sei in seiner Entscheidung frei gewesen. Sie hätte das Kind niemals als Druckmittel benutzt.
Was es heißt, sein Leben zu wagen, weiß er, weiß sie. Er tut es gerade. Aber sein Wagemut ist passiver als ihrer. Weniger entscheidungsfreudig als duldsam. Schicksal ist für ihn etwas, das man annimmt. »Illusionäre Entscheidungswut«, wie er es nennt, ist ihm ein Greuel. In Wahrheit, hat er ihr einmal erklärt, kann man sich nur entscheiden, ob man ja oder nein zum Schicksal sagt: Will ich mein Schicksal annehmen und tragen, oder will ich ihm ausweichen und es abwerfen? Das Annehmen kann hart sein, doch es ist gut, immer. Das Ausweichen gibt sich oft clever und schmerzlos, doch es führt ins Unglück. Er habe Erfahrung mit beiden Wegen. Sie, Sofie, sei das schönste Schicksal, das er sich wünschen könnte, aber er ist vorher lange den Schicksalsweg eines einsamen, kinderlosen Mannes gegangen, und er wäre ihn willig weitergegangen, wenn es hätte sein sollen. Das hört sich prima an, aber irgendwie kommt es ihr zu simpel vor. Manchmal sind die Haltungen, die man einnimmt, nicht so eindeutig, wie Bo sie hinstellt. Erwächst Schicksal nicht gerade aus getroffenen Entscheidungen? Als er ihr damals die Karte für die Ausstellung in Heidelberg schickte, hat er da dem Schicksal nicht ordentlich nachgeholfen? Da hat er gegrinst und nichts mehr gesagt.
Ihre Gedanken scheinen bei ihm anzukommen. Ein Paar aus Volkers Freundeskreis fällt ihm ein, das bei aller äußeren Lockerheit immer von einem Schleier grauer Traurigkeit umgeben war. Eines Tages stattete die Frau ihm einen Überraschungsbesuch ab, und beim scheinbar ziellosen Reden über dies und das erfuhr er, dass ihr »Freund«, wie sie ihren Mann auch nach acht Jahren noch nannte, sich am Anfang der Beziehung auf ihren gemeinsamen Beschluss hin hatte sterilisieren lassen, mit einer dieser verquasten spirito-politischen Begründungen, die zu der Zeit gängig waren. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass die Frau ihm so zart wie entschlossen den Antrag machte, sie zu schwängern. Er, nun, er stellte sich einfach taub. Sofie nickt und erzählt ihrerseits von einem Paar in Kiel, das nicht ihr Glück gehabt hat: der erste Schuss schon ein Treffer, sondern bei denen es jahrelang nicht klappen wollte, bis sie sich nach vielen Untersuchungen und Überlegungen endlich zu einer künstlichen Befruchtung entschlossen und mit einer Samenspende Erfolg hatten. Es sei natürlich immer schwierig, ein Urteil über Entscheidungen zu fällen, die man nicht selber treffen muss, aber von dem her, was es für sie heißt, ein Kind zu haben, könne sie sich nicht vorstellen, dass sie sich zu einem solchen Schritt entschlossen hätte, wenn sie unfruchtbar gewesen wäre, oder ihr Mann.
Im Hintergrund plätschern Cello, Klavier und Sitar aus. Nein, Bo macht seine Hände schwer, sie muss nichts Neues auflegen. Er gähnt. Er ist müde, stimmt, aber ins Bett möchte er noch nicht. Die Hände wandern zu ihrem Bauch zurück. »Wie soll er heißen?«, fragt er. »Hast du inzwischen eine Idee?«
»Und du?«
Er schüttelt den Kopf. »Mir spricht sich einfach kein Name zu. Neulich hat mir Arno nicht schlecht gefallen, davor mal Martin, aber wenn ein paar Tage vergangen sind, kommen mir solche Vorlieben wieder ziemlich beliebig vor.« Er sieht sie an. »Was das Geschlecht unseres Sprösslings angeht, bist du ja sicher, hast du gesagt. Aber falls es doch ein Mädchen werden sollte, wäre ich sehr für Käthe. Nach meiner Oma.«
»Einverstanden.« Sofie überlegt eine Weile. »Als ich zum ersten Mal schwanger war«, beginnt sie zögernd, »hat mir eine ivorische Freundin von einem ›rituel d’écoute‹ erzählt. Ein Hörritual. Das ist ein Ritual für werdende Mütter, das in ihrem Dorf noch gebräuchlich ist. Ein paar Wochen vor