Hegels Gespenst. Markus Litz

Hegels Gespenst - Markus Litz


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Nebel schwebt über dem schwarzen Pflaster. Durch dieses hingehauchte Weiß müssen wir, um dahin zu gelangen, wo das Weiß nicht mehr gilt. Die Stille hat keinen Schatten. Sie ist die leere Haut, aus der ein Körper entflohen ist, um sich in einem anderen wiederzufinden.

      Der Träumende bleibt stehen, schaut wieder auf seine Hände, und bemerkt mit Erstaunen, wie weich, weiß und marmorkalt sie sind. Frauenhände. Er würde gerne von solchen Händen liebkost werden. Mit den Händen fängt die Verwandlung an. Daphnes Hände werden zu Zweigen, Apollons Finger zu Krallen des Adlers. Mit Krallenfingern schreibt es sich anders.

      Im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Fenster erleuchtet. Der Träumende sieht eine Szene, wie zwei Figuren eines Schattenspiels. Vater und Sohn, Herr und Knecht. Der größere hebt die Hand, während der Kleinere sich duckt. Schon fällt ein Schlag. Stumm ist der Schrei, der zu Herzen geht. „Die Menschen sind hartherzig und die Welt ist schlecht“, sagt die schwarze Gestalt mit einer Kinderstimme.

      Jetzt ist es Zeit. Die Nacht kann nicht ewig dauern. Sobald die Straße überquert ist, mag ein anderer Traum entstehen, der vielleicht schon der Wirklichkeit gefährlich nahekommt. Der Träumende sieht, wie das Lächeln des Schwarzen erstirbt. Mit seinem verschwindenden Lächeln, schrumpft auch er selbst, bis er schließlich nur noch ein dunkler Fleck ist, daumennagelgroß.

       Die zweite Nacht

      Was unwirklich ist, das ist unvernünftig, denkt Hegel gleich nach dem Erwachen, während er ausgiebig erst seinen rechten und danach auch seinen linken Daumennagel in Augenschein nimmt. Keine Spur von einem schwarzen Fleck. Er bemerkt zum ersten Mal, das beide Nägel leicht spiegeln, und das milchig weiße Nagelmöndlein ein halbes Gesicht zeigt.

      Der Traum tritt ihm wieder vor Augen, und es wird ihm unheimlich dabei. Jener unglückselige Spiegel, dieser Fleck am oberen Rand, die Verwandlung, danach der Mohr im Festgewand, dessen verworrene Fabel, der Name Scardanelli, der Gang über die nächtliche Straße und schließlich die unerklärliche Verzwergung.

      Das Unvernünftige ist das Unwirkliche, sagt Hegel zur Aufwartefrau, als diese ins Zimmer tritt und wieder ihre grimmige Miene zur Schau stellt. Dieser vollkommen verständnislose Ausdruck. Sie trägt ein Tablett, darauf eine Kanne mit seinem Morgenkaffee und zwei Milchbrötchen, die er in den dampfenden Kaffee einzutunken pflegt. „Sie haben wieder im Sessel geschlafen“, krittelt die Aufwartefrau, „das ist gar nicht gut für ihre Gesundheit! Ein anständiger Mensch schläft im Bett, und zwar in seinem eigenen!“

      Ich habe ihren Namen vergessen, denkt Hegel, er ist mir tatsächlich entfallen. Aufwartefrauen kommen und gehen. Kaum hat man sich ihr Gesicht gemerkt, sind sie schon wieder über alle Berge. Diese hier ist seit einem halben Jahr im Hause. Eine ausgesprochen griesgrämige Person. Sie ist zwar noch recht jung, vielleicht Mitte dreißig, hat aber trotzdem etwas von einer unfreiwilligen Greisin. Ihr Mann hat sie verlassen, zwei Kinder sind ihr gestorben, das dritte soll ein Kretin sein. Ein Junge mit Wasserkopf und schiefem Lächeln, der außerdem kaum zu sprechen vermag. Einmal hat Hegel ihn auf der Straße gesehen: Seine Mutter zog ihn in einem wackligen Kastenwagen, darin saß der Junge und strahlte, als sei er in Wahrheit ein König.

      Der Geist, sofern er reiner Geist ist, kann nicht krank sein, denkt Hegel, und deutet das offenkundige Glück des Jungen als ein Zeichen von dessen vollkommener Verwirrtheit. Er spricht ja gar nicht, gibt nur Laute von sich, ganz wie ein Säugling oder ein unmündiger Greis.

      Marie kommt unversehens ins Zimmer. Sie trägt das rote Kleid mit dem geblümten Muster, das er sehr liebt. Aber diese Hammelkeulenärmel mag er eigentlich gar nicht, weil sie auf den ersten Blick plump wirken und nur durch Fischbein in Form gebracht werden können. Jedoch muß er insgeheim an ihre nackten Schultern denken, und dieser Gedanke versöhnt ihn. Es gibt sie also: die sinnliche Gewißheit.

      Ein leichter Duft von Veilchen verbreitet sich. Das Parfüm, das er seiner Frau zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hat. Erinnerung an einen empfindsamen Nachmittag im Mai, das Panorama der Stadt Nürnberg wie durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtet: Eine Spielzeuglandschaft des Geistes.

      Jetzt ist es anders. Die Pflichten rufen. Schnell wird das Frühstück beendet. Man hat Termine, die es einzuhalten gilt. Der Rektor der Berliner Universität kommt niemals zu spät, das ist er sich schuldig. Um neun Uhr wartet bereits der Kustos der Universitätsbibliothek, um über die notwendigen Neuanschaffungen zu sprechen. Dabei mag dieser alte, stets nach ranziger Butter riechende Bücherhirt viel lieber die alten und uralten Folianten, die er hütet als sei es der Schatz der Nibelungen.

      Irgendwann hat er Hegel einmal eine seiner Wiederentdeckungen gezeigt, ein Buch des Jenaer Professors Georg Grau aus dem Jahre 1688. Die „Hypnologia“, das Werk des besagten Professors, beschäftigte sich mit dem Schlaf und den verdrießlichen Nächten, die einem üble Träume und das möglicherweise durch sie hervorgerufene Aussetzen des Atems während des Schlafens bescheren können. Der Tod, er kommt auf leisen Sohlen und meist über Nacht.

      Ich werde ihn nach diesem Buch fragen, sagt sich Hegel, während er in der Kutsche sitzt und die Menschen draußen wie Figuren eines fahrenden Theaters an sich vorüberfliegen sieht. Das Leben ein Traum. Der Traum ein Leben. Auch die „Träume eines Geistersehers“ könnten vielleicht ein wenig Aufklärung bringen. Aber Kant ist längst dort, wo er keiner Träume mehr bedarf.

      An der Einfahrt zur Universität ist ein kleiner Menschenauflauf entstanden: Mützenschwenkende Studenten, schwarze und weiße Kokarden, Wortfetzen aus halbvergessenen Liedern. Meum est propositum in taberna mori, wir jubeln, singen, trinken wohl durch die ganze Nacht. Ein junger Mann steht abseits und würgt, bevor er die Reste der durchzechten Nacht in einem Schwall erbricht. Es lohnt nicht, die jungen Leute zur Ordnung zu rufen, denkt Hegel.

      Es folgen fünf Termine, rasch nacheinander. Zuerst dieser Kustos, der in übler Verfassung zu sein scheint. Er muß getrunken haben, sagt sich Hegel, während er den Kustos schwadronieren hört. Soviel Unsinn in einem einzigen bandwurmartigen Satz. Er läßt ihn also reden, und schaut unterdessen zum Fenster hinaus: Fassaden und Fenster, Spiegelgebilde von Wolken.

      Danach kommt erst der Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, ein fettleibiger Schwätzer mit Nickelbrille, dann ein Ministerialrat, der absolut nichts zu sagen weiß, das Ehepaar Weisbrod, Gönner und Mäzene höherer Lehranstalten, und schließlich ein Herr de Varga, wohl portugiesischer Abstammung, welcher leicht schielt, aber durchaus Anregendes zu erzählen weiß, wie zum Beispiel über eine Stadt namens San Andréa oder Sassandra am westafrikanischen Golf von Guinea. Der letzte Termin entfällt, weil den angekündigten Gast am Tag zuvor der Schlag getroffen hat.

      Es gibt eine kleine Ruhepause gegen dreizehn Uhr. Ein schweigsamer Diener bringt einen Teller Kalbfleisch mit Kraut, dazu einen Krug Mineralwasser, eisgekühlt. Seine Joppe aus rötlichem Loden hat am linken Ärmel einen daumenbreiten Riß, der an eine Wunde denken läßt. Den Nachmittag über ist Hegel mit Korrespondenzen beschäftigt und verläßt die Universität bereits gegen siebzehn Uhr, weil ein heftiges Kopfweh plötzlich den freien Lauf seines Geistes behindert.

      Zuhause findet er sich allein. Auf dem Tisch im Flur liegt ein versiegelter Brief. Er erkennt die Handschrift seines Schwagers Gottlieb: verhuschte schwarze Buchstaben, kaum mehr als ameisengroß. Sicherlich neue Nachrichten über jene unglückliche Person, die vor einem Jahr in Ansbach wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ein verwildertes Wesen namens Kaspar Hauser. Dieser soll fünfzehn Jahre im Dunkeln gelebt haben; vollkommen abgesondert von der Welt.

      Er trinkt einen halben Liter Bier, um zur Ruhe zu kommen. Der Kopf ist eine Mördergrube verwesender Gedanken. Jetzt einzuschlafen wäre ein Glück. Aber es geht nicht. Für den Abend hat sich noch ein Gast angesagt, der wahrscheinlich zum Essen bleiben wird. Echtermeyer. Der einarmige Ästhetiker. In gewisser Weise eine traurige Gestalt. Er soll einen Verein gegründet haben, der sich die Gesellschaft zum ungelegten Ei nennt.

      Nun geht er doch ins Schlafzimmer, um wenigstens eine halbe Stunde zu ruhen. Er zieht also die Schuhe aus und legt sich angezogen aufs Bett. An der grauweißen Zimmerdecke huscht eine Spinne, eine Art Weberknecht. Acht Beine, die nichts zu weben vermögen. Es ist still, so still, daß ihm der Gedanke kommen könnte, er selbst sei der


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