Hegels Gespenst. Markus Litz

Hegels Gespenst - Markus Litz


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kommen die inneren Bilder ins Spiel. Hinterrücks, als lauerten sie unter den Lidern, all die tollgewordenen Schnipsel einer zerschnittenen Wirklichkeit. Dann setzt der Atem für einen Moment lang aus: Und der Träumende sieht seine gestrige Traumgestalt. Es ist derselbe Mohr, der sich geziert vor ihm verbeugt, als wolle er sich eigentlich über ihn belustigen.

      Scardanelli, wenn ich nicht irre, sagt der Träumende, aber der Mohr lächelt verschmitzt und erwidert: Escobar. Er hält etwas in seiner rechten Hand, das an eine Landkarte erinnert: Darauf eine schädelförmige Insel, die wie an zwei Girlanden aufgehängt ist, umgeben von Wasser. Am unteren Rand stehen zwei Männer, in ein Gespräch vertieft. Über ihnen wölbt sich ein mächtiger Schiffsbauch. Und ein anderer Mann, vielleicht der Entdecker jener Insel, steht vereinzelt an der anderen Seite, abgewandt, mit verdecktem Gesicht. Und jener, der sich Escobar nennt, öffnet den fleischigen Mund. So viel Unsinniges, das sich in Sprache verhüllt. Das leere Geschwätz eines Gottes. Er spricht, während seine Augen wie Murmeln hin und her rollen:

      „Ich bin Pèrito, Sohn des Pèro Escobar, Entdecker von Sassandra am Palmenstrand von Guinea, und auch der Insel Sao Tomé. Das hölzerne Schiff meines Vaters erreichte am 21. Dezember 1471, dem Festtag des heiligen Thomas, jene Insel. Die Sonne hatte die Männer wahnsinnig gemacht. Fünf Seeleute waren bereits über Bord gegangen, um im Meer ihre überhitzten Hirne zu kühlen. Alle ertranken. Als die Seemänner dann endlich Land sahen, brachen die meisten in Tränen aus. Hartgesottene Männer heulten wie alte Weiber. Seit Monaten hatten sie nichts weiter vor Augen gehabt als das von Stürmen durchpflügte Meer. Der Proviant war verbraucht. Es gab nur noch verrottete Zwiebeln, verschimmeltes Wasser und ein paar Fässer Branntwein, der den Durst nicht zu stillen vermochte. Sie gingen also an Land, und entdeckten ein Paradies, aus dem die Engel entflohen waren. Männer, Frauen und Kinder; so schwarz wie die Hälfte der Nacht. Das Fremde ist immer das, was Angst hervorruft und mit ihr am Ende das Grauen.

      Aber zuerst war es die reine Freude. Wohlschmeckendes Wasser, Früchte im Überfluß und eine weiche, von Träumen geschwängerte Luft. So ließ es sich leben. Drei Tage lang schliefen die Männer, traumlos und fest. Dann machten sie sich auf, um die Insel zu erkunden. Sie sahen den weißen Sand der Strände, Palmen, Bäume voll seltsamer Früchte, Bäche kristallklaren Wassers, bewaldete Hügel und die aus Bananenstauden gefertigten Hütten der Eingeborenen. Am Anfang hielten diese sich verborgen, wagten sich kaum hervor aus ihren Behausungen, um jene weißen Wesen zu sehen.

      Am vierten oder fünften Tag erreichten einige der Entdecker den in der Mitte der Insel gelegenen Markt der Zauberer. Es war ein lautstarkes Gewimmel aus lauter zusammengewürfelten Einzelheiten. In der flirrenden Mittagshitze sahen sie halbverweste Bisamratten, auf lange Hölzer gespießt, getrocknete Igel, tote Schlangen, die man um Speere gewunden hatte, schwarzgrüne Krötenköpfe mit überquellenden Augen, außerdem auch giftige Kräuter, zu welken Sträußen zusammengebunden. Es gab Zaubertränke, die auf offenem Feuer zusammengerührt und gekocht wurden. Eine brodelnde Hexenküche. Die Zauberer trugen Masken mit den geschnitzten Gesichtern ihrer Götter und Ahnen.

      Die Menschen sangen dabei in einer Sprache, die fern und fremdartig klang. Den Seeleuten erschien es wie ein Gesang, der aus den Wolken gekommen war, um das Gehör zu erfrischen. Sie tranken das aus Bananen gebraute Bier, welches ihnen angeboten wurde. Es war süß und berauschend. Während die Zauberer vor ihren Augen mit langen Nadeln in das Herz einer tollwütigen Ziege stachen und unterdessen ihre Zaubersprüche und Verwünschungen ausstießen, fiel die Nacht wie ein Vorhang herab, bedeckte den Markt, und diesen verwunschenen Winkel der Welt.

      In jener Nacht träumten sie alle denselben Traum. Die Welt war untergegangen und nur sie allein übriggeblieben. Neun Männer, verlassen, im Nichts ausgesetzt. Es gab nur noch den schwarzen unendlichen Raum, und daraus auftauchend zuweilen die Fratzen, welche die Einbildungskraft hervorzaubert. Schwarze Masken im Weiß der Erinnerung. Und eine Stimme sprach zu ihnen:

       Ihr seid allein. Es gibt weder andere Menschen noch Pflanzen, Tiere, Berge und Wasser. Ich aber werde einen Faden zu euch herabwerfen und an diesem Faden kommt ihr nacheinander hinauf und zurück in das Reich des Himmels. Aber bevor ihr hinaufkommt, müßt ihr von all den Dingen träumen, die einmal sein werden. Erst dann können sie wirklich sein. Träumt also von den anderen Menschen, euren Frauen und Kindern, träumt von den Pflanzen und Tieren. Schaut auch die Berge und Flüsse im Traum, bevor alles zu Wirklichkeit wird.

      Und die Menschen fielen im Traum in einen weiteren Traum, der ihnen all das vorstellte, wovon die Stimme zu ihnen gesprochen hatte. Als alles so geschehen wie ihnen befohlen war, kam wirklich ein Spinnenfaden vom Himmel herab. Und sie gerieten in einen heftigen Streit darüber, wer ihn als erster ergreifen konnte. Weil sie sich aber deswegen so zerstritten und sich gegenseitig den Faden aus der Hand rissen, kam letztlich niemand zum Zuge und sie blieben allein, ohne jegliche Aussicht, einmal zurück zum Himmel zu gelangen.

      Als sie endlich erwachten, war es noch immer Nacht. Sie tasteten sich voller Furcht durch die Dunkelheit. Pèro, dem Anführer der Gruppe, gelang es schließlich, in der Finsternis einen schlaftrunkenen Körper ausfindig zu machen, ein unaussprechliches Glück. Also traf sich seine Angst mit der Freude eines namenlosen Mädchens, und er genoß dieses Glück, das kaum eine halbe Stunde lang währte.

      Dann kam der Morgen. Er kroch langsam herauf über die Hügel, und es zeigte sich alles in neuem Licht. Noch am selben Tag verließen Escobar und seine Männer die Insel, um in See zu stechen und andere Länder zu suchen. Sie kehrten niemals zurück. So erfuhr Escobar auch nie, daß jenes Mädchen, mit der er in jener Nacht seine Angst und seine Freude geteilt hatte, neun Monate später einen Jungen zur Welt gebracht hatte.

      Ich bin es, Nemura, später dann auch Pèrito genannt, der kleine Entdecker, von dem anfangs niemand wußte, wer ihn gezeugt hatte. Ich selbst habe es erst spät erfahren, in Venedig nämlich, an einem Aprilmorgen im Jahre 1505. Es war noch kalt an jenem Morgen, und ich begegnete auf dem zugigen Platz vor der Markuskirche einem seltsamen Mann, dessen langes gelocktes Haar mir sogleich in die Augen stach. Und auch er verfolgte mich mit seinen Blicken. Er trug einen länglichen Holzkasten unter seinen linken Arm geklemmt, und er schaute mich so an, als wolle er jede meiner Bewegungen nachzeichnen.

      Zu dieser Zeit hatte ich bereits die halbe Welt gesehen, und auch das Elend erlebt, das sie uns zumutet: Am Anfang, in meinen ersten Lebensjahren, glich ich nämlich rein äußerlich meinem weltreisenden Vater und war deutlich heller als die anderen Kinder, beinahe weiß. Doch als meine Haut sich mit der Zeit immer dunkler tönte, gab meine stets traurige Mutter mich im Alter von drei Jahren in die Hände meiner Großmutter, die mich zehn Jahre lang wechselweise küßte und schlug. Vor allem die Schläge blieben mir in Erinnerung.

      Weil ich die Menschen liebte, die aus der Ferne kamen, folgte ich den weißen Männern, die über das Meer zu uns gefunden hatten. Sie lehrten mich ihre Sprache, und ebenso Lesen und Schreiben. Zehn Jahre lang fuhr ich mit ihnen auf See, entlang der afrikanischen Küste, dann nordwärts bis nach Portugal, wo ich sieben Jahre lang blieb, um in Lissabon die Manuskripte zu studieren, die von den Reisen des Alvise Cadamosto, Alvaro Fernandes´ und Pèro Escobars nach Afrika und in andere Weltgegenden handelten.

      So lernte ich vieles über das Leben jener Fremden, das doch insgeheim ein Teil meiner selbst war. Damals wußte ich nicht, wer mein Vater war. Aber der Drang, es in Erfahrung zu bringen, war so unbändig in mir, daß ich alles dafür auf mich nahm. Ich lebte dahin, ohne zu wissen, wofür ich lebte. Da träumte ich eines Tages, ich fände die Antwort auf all meine Fragen in einer mitten im Wasser erbauten Stadt voller schmerbäuchiger Kuppeln, durchzogen von Kanälen, die nach wunderbarer Fäulnis rochen.

      Also schloß ich mich also einer Reise von Gelehrten an, die im Frühjahr 1505 von Lissabon in See stachen, um über das Mittelmeer bis nach Venedig zu gelangen. Dort sollten wir eine Gruppe von alt und zahnlos gewordenen Übersetzern aus Konstantinopel treffen, die vor über fünfzig Jahren zahlreiche Manuskripte der Byzantiner während der Eroberung ihrer Stadt vor den Flammen und dem eifernden Zorn der Osmanen gerettet hatten.

      Das Meer war nicht schweigsam, während wir segelten. Es geriet außer sich und stürmte gewaltig, und ich fühlte mich manchmal wie jener Prophet, den der Zorn Gottes über Bord warf, so daß er beinahe untergegangen wäre, wenn er nicht Unterschlupf


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