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auch uns verändern. Wir nutzen Politik nicht nur für unsere Zwecke. Die Politik nutzt uns auch für ihre Zwecke.
»Identitätspolitik« retten
Es gibt viele verschiedene Arten einer möglichen Polarisierung, und einige von ihnen werde ich an späterer Stelle in diesem Buch diskutieren. Doch vor allem möchte ich mich hier auf das Gebiet der politischen Identität konzentrieren. Und dies macht es erforderlich, ein paar Worte über einen Begriff zu verlieren, der eigentlich in der amerikanischen Politik von großem Nutzen sein könnte, inzwischen jedoch beinahe unbrauchbar geworden ist: Identitätspolitik.
Ein Kernargument dieses Buches besteht darin, dass alle, die sich mit amerikanischer Politik befassen, mit Identitätspolitik befasst sind. Dies ist weder eine Beleidigung, noch ist es kontrovers. Wir alle prägen laufend Identitäten aus und formen diese um, das ist ganz natürlich. Identität ist in der Politik auf die gleiche Weise vorhanden wie Schwerkraft, Evolution oder Wahrnehmung. Soll heißen: Identität ist omnipräsent in der Politik, weil sie omnipräsent ist in uns. Es ist schlicht unmöglich, die Literatur darüber, wie Menschen ihre persönlichen und Gruppenidentitäten ausbilden und verteidigen (Literatur, die ich in diesem Buch betrachten werde), zu lesen und zu glauben, auch nur einer von uns sei dagegen immun. Identität ist derart tief in unsere Psyche eingeprägt und kann selbst von den schwächsten Reizen und entferntesten Bedrohungen derart leicht aktiviert werden, dass es unmöglich ist, ernsthaft darüber zu sprechen, wie wir miteinander interagieren, ohne zu diskutieren, wie unsere Identitäten diese Interaktionen prägen.
Leider ist der Begriff »Identitätspolitik« zu einer Waffe verkommen. Am häufigsten wird er von Rednern benutzt, die Politik als etwas beschreiben, das von Mitgliedern historisch marginalisierter Gruppen praktiziert wird. Bist du schwarz und machst dir Sorgen wegen Polizeigewalt, dann ist das Identitätspolitik. Bist du eine Frau und machst dir Sorgen wegen der Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern, dann ist das Identitätspolitik. Bist du aber ein auf dem platten Land wohnender Waffenbesitzer, der allgemeine Hintergrundchecks als Tyrannei verunglimpft, oder ein milliardenschwerer Firmenchef, der sich darüber beschwert, dass hohe Steuern den Erfolg verteufeln, oder ein Christ, der Krippenbilder auf öffentlichen Plätzen fordert – nun, dann ist das einfach gute alte Politik. So wird aus Identität im Handumdrehen etwas, das nur marginalisierte Gruppen haben.
Auf diese Art gebraucht verschleiert der Begriff »Identitätspolitik« die Dinge eher, als dass er sie erhellt; dann wird er benutzt, um die Belange schwächerer Gruppen kleinzureden oder als eigennütziges Gejammer zu diskreditieren, um so die Agenda für die Belange stärkerer Gruppen freizumachen, die als rationalere und angemessenere Themen für die politische Debatte beschrieben und eingeordnet werden. Doch indem wir Identität geschwungen haben wie ein Schwert, haben wir dafür gesorgt, dass sie uns als Linse verloren geht, haben uns in der Absicht, uns einen politischen Vorteil zu verschaffen, selber blind gemacht. Und so suchen wir weiter vergeblich nach dem, was zu sehen wir uns weigern.b[8]
Alle Politik ist von Identität beeinflusst. Und Identitäten sind dann am mächtigsten, wenn sie derart weit verbreitet sind, dass sie entweder unsichtbar werden oder als unumstritten gelten. »Amerikanisch« ist eine Identität. Und »christlich« ebenso. Wenn Politiker, auch areligiöse, ihre Reden mit der Formel »God bless America« beenden, dann nicht, um sich mit einer Bitte an eine höhere Macht zu wenden, sondern um an unsere in Stein gemeißelten Identitäten zu appellieren. Falls Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie sich doch mal, wieso es unter unseren Politikern so wenige erklärte Atheisten oder auch nur Agnostiker gibt.
Dies bedeutet nicht, dass Politik eine Gleichung ist, die mit Hilfe der Verortung von Identität gelöst werden kann. Identität formt unsere Weltsicht, aber sie entscheidet nicht auf mechanistische Art und Weise darüber. Und obgleich wir häufig den Singular benutzen, also »Identität«, ist sie doch stets ein verwirrender Plural – wir alle haben zahllose Identitäten, von denen manche in offenem Widerspruch zueinander stehen und andere vor sich hin schlummern, bis sie durch Bedrohung oder großes Glück aktiviert werden. Vieles von dem, was in politischen Kampagnen passiert, lässt sich am besten als Auseinandersetzung darum verstehen, welche Identitäten die Wähler am Wahltag letztlich annehmen werden: Werden sie sich als Arbeiter fühlen, ausgebeutet von ihren Chefs, oder als Bewohner des Landesinneren, missachtet von den an den Küsten lebenden Eliten? Werden sie ihre Stimme als patriotische Traditionalisten abgeben, zutiefst gekränkt von Spielern der NFL, die sich während der Nationalhymne hinknien, oder als Eltern, die sich darum sorgen, unter welchen klimatischen Bedingungen ihre Kinder später leben?
Gruppenidentität und Gruppenstatus – das sind die beiden Dinge, über die wir in der amerikanischen Politik so häufig streiten. Diese Auseinandersetzungen kommen in den Debatten über Politik und Macht zum Ausdruck, können in Wahrheit aber weder von der einen noch von der anderen beigelegt werden. Bei der Gesundheitspolitik kann eine Gruppe gewinnen, Identitätspolitik dagegen ist ein Nullsummenspiel.
Nun ist Identität natürlich nichts Neues. Wie kann sie dann also die Veränderungen in unserer Politik erklären? Die Antwort ist, dass unsere politischen Identitäten sich verändern – und verfestigen. Die mächtigsten Identitäten im Gefüge der modernen Politik sind unsere politischen Identitäten, und diese haben sich in den vergangenen Jahrzehnten so entwickelt, dass sie auch eine ganze Reihe anderer Identitäten umfassen und verstärken. Während der letzten 50 Jahre sind unsere Identitäten als Anhänger bestimmter Parteien mit unseren ethnischen, religiösen, geographischen, ideologischen und kulturellen Identitäten verschmolzen. Und diese verschmolzenen Identitäten haben ein Gewicht erlangt, das unsere Institutionen zusammenbrechen lässt und an den Bindungen zerrt, die dieses Land zusammenhalten. Diese Form der Identitätspolitik ist heute landesweit die alles beherrschende und auch die, die am entschiedensten hinterfragt werden muss.
Der erste Teil dieses Buches erzählt davon, wie und warum sich amerikanische Politik im 20. Jahrhundert um Identität herum polarisierte und was diese Polarisierung für die Art und Weise bedeutet, wie wir die Welt und einander sehen. Die zweite Hälfte dieses Buches widmet sich den Feedbackschleifen zwischen polarisierten politischen Identitäten und polarisierten politischen Institutionen, die unser politisches System immer tiefer in die Krise treiben.
Was ich hier zu entwickeln versuche, ist nicht so sehr eine Lösung für die Probleme amerikanischer Politik als vielmehr ein Rahmenwerk, um diese Probleme zu begreifen. Im besten Fall bietet dieses Buch ein Modell an, das dazu beitragen kann, eine Ära in der amerikanischen Politik zu verstehen, die für viele keinen Sinn zu ergeben scheint.
Legen wir also los.
Kapitel 1 Wie aus Demokraten Liberale wurden und aus Republikanern Konservative
Als Allererstes muss ich Sie davon überzeugen, dass sich etwas verändert hat.
Die amerikanische Politik vermittelt eine tröstliche Illusion von Stabilität. Seit 1864 haben die Demokratische und die Republikanische Partei die Wahlen dominiert und miteinander um Macht und Popularität gerungen. Ein Streifzug durch die Geschichte der USA macht klar, dass sich Demokraten und Republikaner zu allen Zeiten gegenseitig verleumdet und unterminiert, Verschwörungen angezettelt und sogar physische Gewalt gegeneinander ausgeübt haben.c[1] Es ist einfach, einen schnellen Blick über die Schulter zu werfen und davon auszugehen, dass unsere Gegenwart im Großen und Ganzen unserer Vergangenheit gleicht, dass die Beschwerden, die wir heute in Bezug auf Politik vorbringen, die Beschwerden früherer Generationen spiegeln. Doch die Demokratische und die Republikanische Partei von heute sind nicht die Demokratische und die Republikanische Partei vergangener Zeiten. Wir durchleben gerade etwas wirklich Neues.
Rückblick ins Jahr 1950. Damals veröffentlichte der Parteienausschuss der American Political Science Association (APSA), des führenden Berufs- und Fachverbands von Politikwissenschaftlern in den USA, einen Ruf zu den Waffen, der für heutige Ohren wie Satire klingt. Übertitelt mit dem Slogan Towards a More Responsible Two-Party System, fordert das 98 Seiten starke Papier (ein Konglomerat aus Beiträgen vieler der bekanntesten Politikwissenschaftler des Landes, das sogar auf der Titelseite der New York Times besprochen wurde) ein stärker polarisiertes Politiksystem. Die Parteien, so seine Klage, seien zu Sammelbecken viel zu vieler, stark divergierender Meinungen geworden und arbeiteten