Rubinrot. Керстин Гир

Rubinrot - Керстин Гир


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fand einen Knauf, der an einer Kette hing, ähnlich der altmodischen Klospülung bei Leslie zu Hause. Ich zog kräftig daran und hörte hinter der Tür eine Glocke schellen.

      Oh mein Gott.

      Wahrscheinlich würde jemand vom Hauspersonal öffnen. Was konnte ich sagen, damit er mich zu einem Familienmitglied vorließ? Vielleicht lebte Ururuururgroßonkel Hugh noch? Oder schon. Oder überhaupt. Ich würde einfach nach ihm fragen. Oder nach Fat Annie.

      Schritte näherten sich und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Aber ich sah nicht mehr, wer mir die Tür öffnete, denn abermals riss es mich von den Füßen, schleuderte mich einmal durch Zeit und Raum und spuckte mich wieder aus.

      Ich fand mich auf der Fußmatte vor unserer Haustür wieder, sprang auf und sah mich um. Alles sah aus wie vorhin, als ich losgegangen war, Tante Maddys Zitronenbonbons zu kaufen. Die Häuser, die parkenden Autos, sogar der Regen.

      Der schwarze Mann im Hauseingang von Nummer 18 starrte zu mir hinüber.

      »Ja, da staunst nicht nur du«, murmelte ich.

      Wie lang war ich fort gewesen? Hatte der schwarze Mann gesehen, wie ich an der Straßenecke verschwunden und auf der Fußmatte wieder aufgetaucht war? Sicher konnte er seinen Augen nicht trauen. Das geschah ihm ganz recht. Jetzt konnte er mal sehen, wie das war, wenn andere einem ein Rätsel aufgaben.

      Ich klingelte Sturm. Mr Bernhard öffnete die Tür.

      »Haben wir es eilig?«, fragte er.

      »Sie wahrscheinlich nicht, aber ich!«

      Mr Bernhard hob seine Augenbrauen.

      »Entschuldigung, ich habe etwas Wichtiges vergessen.« Ich schob mich an ihm vorbei und rannte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

      Großtante Maddy sah überrascht auf, als ich zur Tür hineinstürzte. »Ich dachte, du wärst schon weg, Engelchen.«

      Außer Atem schaute ich auf die Wanduhr. Es war gerade mal zwanzig Minuten her, dass ich aus dem Zimmer gegangen war.

      »Aber gut, dass du noch mal wiederkommst. Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass sie bei Selfridges die gleichen Bonbons auch ohne Zucker haben, und die Verpackung sieht genau gleich aus! Die darfst du aber auf keinen Fall kaufen, denn von denen ohne Zucker bekommt man .. . – nun ja – Durchfall!«

      »Tante Maddy, warum sind alle so sicher, dass Charlotte das Gen hat?«

      »Weil . . . kannst du mich nicht etwas Einfacheres fragen?« Großtante Maddy sah ein bisschen verwirrt aus.

      »Hat man ihr Blut untersucht? Könnte nicht auch jemand anders das Gen haben?« Allmählich beruhigte sich mein Atem. »Charlotte ist mit Sicherheit eine Gen-Trägerin.«

      »Weil man es in ihrer DNS nachgewiesen hat?«

      »Engelchen, du fragst wirklich die falsche Person. In Biologie war ich immer eine komplette Niete, ich weiß ja nicht mal, was DNS ist. Ich glaube, das hat alles weniger mit Biologie zu tun als mit höherer Mathematik. Leider war ich auch in Mathematik immer sehr schlecht. Wenn es um Zahlen und Formeln geht, schalte ich meine Ohren grundsätzlich auf Durchzug. Ich kann dir nur sagen, dass Charlotte genau am für sie bestimmten und seit Jahrhunderten berechneten Tag zur Welt gekommen ist.«

      »Das Geburtsdatum bestimmt also, ob man das Gen hat oder nicht?« Ich kaute an meiner Unterlippe. Charlotte war am siebten Oktober geboren, ich am achten. Es trennte uns nur ein einziger Tag.

      »Wohl eher umgekehrt«, sagte Großtante Maddy. »Das Gen bestimmt die Geburtsstunde. Sie haben das alles genau berechnet.« »Und wenn sie sich verrechnet haben?«

      Um einen Tag! So einfach war das. Es war eine Verwechslung.

      Nicht Charlotte hatte dieses verdammte Gen, sondern ich. Oder wir hatten es alle beide. Oder. . . Ich ließ mich auf den Schemel sinken.

      Großtante Maddy schüttelte den Kopf. »Sie haben sich nicht verrechnet, Engelchen. Ich glaube, wenn diese Leute etwas wirklich gut können, dann ist es rechnen.«

      Wer waren »diese Leute« denn überhaupt?

      »Jeder kann sich doch mal verrechnen«, sagte ich.

      Großtante Maddy lachte. »Nicht Isaac Newton, fürchte ich.«

      »Newton hat Charlottes Geburtsdatum ausgerechnet?«

      »Mein liebes Kind, ich verstehe ja deine Neugier. Als ich so jung war wie du, war ich genauso. Aber erstens ist es manchmal besser, unwissend zu sein, und zweitens hätte ich wirklich, wirklich gern meine Zitronenbonbons.«

      »Das ist alles so unlogisch«, sagte ich.

      »Nur scheinbar.« Großtante Maddy streichelte über meine Hand. »Auch wenn du jetzt genauso klug bist wie vorher: Dieses Gespräch bleibt unter uns. Wenn deine Großmutter erfährt, was ich dir alles erzählt habe, wird sie böse werden. Und wenn sie böse ist, ist sie noch fürchterlicher als sonst.«

      »Ich verpetze dich schon nicht, Tante Maddy. Und ich hole dir sofort die Bonbons.«

      »Du bist ein gutes Kind.«

      »Ich habe nur noch eine Frage: Wie lange dauert es nach dem ersten Zeitsprung, bis es wieder passiert?«

      Großtante Maddy seufzte.

      »Bitte!«, sagte ich.

      »Ich glaube nicht, dass es da Regeln gibt«, sagte Großtante Maddy. »Jeder Gen-Träger ist wohl anders. Aber keiner kann die Zeitreisen selber steuern. Es passiert ihm täglich, vollkommen unkontrolliert, sogar mehrmals am Tag. Deshalb ist dieser Chronograf ja so wichtig. Wie ich das verstanden habe, muss Charlotte sich dank seiner Hilfe nicht hilflos in der Zeit herumschleudern lassen. Sie kann ganz gezielt in ungefährliche Zeiten geschickt werden, wo ihr nichts passieren kann. Also mach dir keine Sorgen um sie.«

      Ehrlich gesagt machte ich mir viel mehr Sorgen um mich selber.

      »Wie lange ist man denn in der Gegenwart verschwunden, während man sich in der Vergangenheit aufhält?«, fragte ich atemlos. »Und kann man beim zweiten Mal vielleicht doch bis zu den Dinosauriern zurückspringen, als hier noch alles Sumpf war?«

      Meine Großtante schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab. »Genug jetzt, Gwendolyn. Ich weiß das alles doch auch nicht!«

      Ich rappelte mich auf. »Trotzdem danke für deine Antworten«, sagte ich. »Du hast mir sehr geholfen.«

      »Das glaube ich wohl weniger. Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte ich dich nicht auch noch in deinem Interesse unterstützen, zumal ich das alles ja selbst nicht wissen dürfte. Wenn ich meinen Bruder – deinen lieben Großvater – früher über all diese Geheimnisse ausgefragt habe, hat er mir immer die gleiche Antwort gegeben. Er hat gesagt, je weniger man darüber weißt, desto besser für die Gesundheit. Gehst du denn jetzt endlich meine Bonbons holen? Und bitte vergiss nicht: mit Zucker!«

      Großtante Maddy winkte mir hinterher.

      Wie konnten Geheimnisse schlecht für die Gesundheit sein? Und wie viel hatte mein Großvater über all das gewusst?

      »Isaac Newton?«, wiederholte Leslie verblüfft. »War das nicht der mit der Schwerkraft?«

      »Ja, klar. Aber offenbar hat er auch Charlottes Geburtsdatum ausgerechnet.« Ich stand in der Lebensmittelabteilung bei Selfridges vor den Joghurts und hielt mir mit der rechten Hand das Handy ans eine Ohr, während ich mir das andere mit der linken Hand zuhielt. »Nur dummerweise glaubt keiner, dass er sich verrechnet hat. Klar – wer würde das auch glauben, bei Newton! Aber er muss sich vertan haben, Leslie. Ich bin einen Tag nach Charlotte geboren und ich bin in der Zeit gesprungen, nicht sie.«

      »Das ist wirklich mehr als mysteriös. Ach, das Scheißding braucht wieder mal Stunden, um hochzufahren. Mach schon, du Mistvieh!« Leslie beschimpfte ihren Computer.

      »Oh, Leslie, das war so – seltsam! Beinahe hätte


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