Der Hase - Ein Fabelroman. Lorenzo Emanuele Tomasello
verbunden zu haben, wollte er das auch seinen Mitmenschen ermöglichen. Somit gab er arbeitslosen Gärtnern Aufgaben und ließ sie bei sich im Garten tätig werden. Oftmals lud er Freunde aus seinem Golfverein zu sich ein, und sie verbrachten Stunden in seinen Garten.
Bei den vielen Gesprächen und Beobachtungen seiner Mitmenschen fiel Arnold eine Sache auf, die ihn neben seiner erfolgreichen Karriere als Gitarrenspieler sehr beschäftigte: Bei vielen Jugendlichen hatte er bemerkt, wie diese sich erschreckten, sobald sie in Kontakt mit Insekten kamen. Das Leben in der Stadt hatte sie von diesen Lebewesen getrennt, sie hatten den harmonischen Kontakt zu ihnen verloren. Auch wenn am Strand von Silva weite Felder für Fußball vorhanden waren und man Jugendliche dort spielen sah, gab es trotzdem viele, die oft den ganzen Tag zu Hause blieben und die eigenen vier Wände kaum verließen. Arnold sah kaum Kinder draußen im Schlamm spielen. Nach seiner Meinung war der mangelnde Kontakt mit den vielfältigen Bakterien dafür verantwortlich, wenn Kinder und Jugendliche eine schwache körpereigene Abwehr ausbildeten. Konsequenterweise wurden jene, die meist zu Hause blieben, öfters krank. Arnold wünschte sich aus tiefstem Herzen, dass er der Gesellschaft helfen könnte, sich mit der Natur so zu verbinden, wie er es selbst getan hatte.
Somit fasste er irgendwann den Entschluss, eine Bildungseinrichtung erbauen zu lassen. Da in der zivilisierten Stadt keine Naturnähe umsetzbar war, wollte er eine Schule in der Nähe des großstadtgroßen Waldes bauen lassen, fernab vom Zentrum, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Jener Wald war nämlich von Menschenhand unberührt, und Arnold hielt es für eine gute Idee, einen Teil des Waldes zu opfern, um die Jugend aus der Stadt zu locken, sodass die Kinder in aller Ruhe wieder zur Natur zurückfinden konnten. Doch dafür musste ein Teil des riesigen Waldes gerodet werden, und um dies in die Tat umzusetzen, brauchte Arnold die Genehmigung der Stadtbehörde.
Die Behörde zweifelte die Notwendigkeit für die Rodung an: »In der Stadt gibt es genug Platz, um eine neue Schule zu bauen.« Doch Arnold hatte stur immer und immer wieder darauf bestanden: »Diese Schule soll die Schüler an die Natur heranführen, und deshalb ist ihr Standort im Wald notwendig. In der Stadt fehlt nämlich fast gänzlich der Bezug zur Natur.« Am Ende gab die Stadtbehörde nach und genehmigte den Bau. Sie sah ein, dass Naturnähe sich wohl nur im Wald verwirklichen ließ. Diese Schule sollte ein Privatgymnasium für Abiturienten sein, deren Eltern den Schulbesuch bezahlten. Für ihren Bau wurden die erfahrensten Handwerker hinzugezogen. Arnold wollte alle zum Staunen bringen.
*
Alfred war schon lange ein fanatischer Umweltschützer. In seiner Kindheit war er ein begeisterter Kletterer gewesen und auf die höchsten Bäume gekraxelt. Es hatte ihm großen Spaß gemacht, Meter für Meter die schwierigsten Stämme zu erklimmen und am Ende die Aussicht zu genießen. Damals gab es in der Nachbarschaft einen riesigen Tannenbaum, auf den er am liebsten geklettert war. Seine Eltern machten sich immer Sorgen, denn sie hatten Angst, der kleine Alfred könne beim Klettern vom Baum fallen und sich verletzen. Aber Alfred scherten die elterlichen Sorgen nicht, und er kletterte trotzdem immer wieder begeistert hinauf. Seine Eltern klagten über sein ungehorsames Verhalten. Wütend zürnte einmal der Vater: »Alfred, hoffentlich verletzt du dich mal am Baum, damit du mit dieser gefährlichen Kletterei aufhörst.« Hin und wieder rutschte der kleine Alfred auch aus und fiel auf den grasbewachsenen Boden. Dabei schlug er sich einmal leicht sein Knie auf, sodass es blutete, und er weinte, aber seine Eltern trösteten ihn nicht. Nachdem er sich ausgeweint hatte, kletterte er trotzig wieder auf den Baum, als habe er sich nie verletzt.
Nichts konnte ihm die Freude an seinem Baum nehmen. Am Ende verboten seine Eltern ihm nicht mehr, den Baum zu besteigen, denn sie hatten schließlich akzeptiert, dass Alfred manchmal frech und abenteuerlustig war, wie kleine Kinder es eben sind.
Eines Tages, während Alfred auf dem Baum die Aussicht genoss, kamen zwei fremde Männer. Als sie ihn entdeckten, verscheuchten sie ihn mit lautem Gebrüll: »Weg da, Kleiner!« Aber Alfred lief nicht weg, sondern versteckte sich in einem Gebüsch und beobachtete die beiden heimlich. Sie hatten alte grüne Arbeitskleidung an und hielten Kettensägen in den Händen. Dann gingen sie zu seinem Baum und begannen gelassen, an dessen Stamm zu sägen. Zentimeter für Zentimeter fraß sich die Kettensäge hinein, bis der Baum nachgab und in seiner ganzen Länge zu Boden krachte. Wo eben noch eine prächtige Tanne gestanden hatte, war nur noch ein lebloser Baumstumpf übrig. Hilflos hatte der kleine Alfred alles mit angesehen und schaute nun schockiert auf den Baumstumpf. Eine Weile betrachtete er ihn traurig. Tränen kullerten über seine Wangen. Dann lief, er so schnell er konnte, schluchzend nach Hause.
Bald fand er einen anderen Baum, den er beklettern konnte, aber der war viel kleiner als sein Tannenbaum. Jedes Mal, wenn er dort oben war, erinnerte er sich an seinen ersten Baum, den man vor seinen Augen abgesägt hatte. Weit und breit war kein anderer Baum zu finden, der den alten Tannenbaum ersetzen konnte. Seit er sich erinnern konnte, hatte es ihn gegeben, immer war er für ihn da gewesen. Er hatte sich mit ihm verbunden gefühlt, als wäre er ein Teil von ihm, der ihm jetzt genommen war. Seine Eltern dachten zunächst, seine Trauer und Verzweiflung wären bloß eine Marotte, aber der Verlust des Baumes bedeutete für den kleinen Alfred sehr viel mehr.
An einem sonnigen Tag fand er einen schwarzen Käfer auf dem Spielplatz. Er ließ ihn auf seiner Hand krabbeln und beobachtete fasziniert, wie geschickt der Käfer sich zwischen den Fingern bewegte. Andere Kinder schaukelten währenddessen oder bauten Sandburgen, die Eltern schauten ihnen beim Spielen zu. Da kam ein gleichaltriger Junge mit Brille und gegelten kurzen Haaren auf den kleinen Alfred zu. Er war neu hier und seine Eltern noch mit dem Umzug beschäftigt. Hektisch trugen sie einen Karton nach dem anderen in ihre neue Wohnung, ohne auf ihren Sohn zu achten. Er hieß Benjamin und war etwas dicker als die anderen. Als Alfred ihn bemerkte, zeigte er Benjamin begeistert seinen krabbelnden Käfer; er staunte immer noch, wie das kleine Insekt es schaffte, sich mit seinen vielen Beinchen so schnell und elegant zu bewegen. Aber Benjamin verzog nur das Gesicht und schaute den Käfer angeekelt an. Alfred hockte sich hin und ließ den Käfer von seiner Hand auf den Boden krabbeln. Da machte Benjamin einen schnellen Schritt und zertrat den Käfer mit dem Fuß. Der kleine Alfred kochte vor Wut. Wie konnte Benjamin nur so etwas tun? Was für ein Mörder! Er hat den Käfer zerquetscht, weil er daran Gefallen fand, ihn zu töten, dachte Alfred.
Es war die erste Prügelei seines Lebens, als Alfred begann, auf Benjamin einzuschlagen. Die Eltern der beiden kamen angelaufen und trennten sie voneinander. Alfred hatte Benjamin die Vorderzähne ausgeschlagen und bekam eine Woche Hausarrest dafür.
Ein andermal war der kleine Alfred mit seinen Eltern am Fluss. Es war warm, und er zog gleich seine Badehose an, um ins Wasser zu gehen. Da bemerkte er plötzlich einen Plastikbecher und eine Tüte auf der Wasseroberfläche schwimmen. Als er sie nehmen und einen Mülleimer dafür suchen wollte, sah er, dass sich am Ufer schon ganz viel Müll gesammelt hatte. Überall lagen Plastikflaschen, Geschirr und Verpackungen herum und der Fluss schwemmte immer mehr an, man konnte regelrecht zusehen, wie mit jeder Welle weiterer Müll ans Ufer gespült wurde. Dann auf einmal hieß es, niemand dürfe mehr im Fluss baden, die Rettungswacht hatte es wegen des vielen Mülls gerade verboten. Der kleine Alfred verstand nicht, was geschehen war. Sonst war der Fluss immer durchsichtig und klar gewesen. Sogar ohne Taucherbrille hatte er die elegant schwimmenden Fische beobachten können. Nun war alles verschmutzt, und auch Fische sah man nicht mehr.
An diesen Tag am Fluss, an dem der ganze Müll angeschwemmt wurde, erinnerte Alfred sich so gut, als sei es gestern gewesen.
Er war inzwischen ein kräftiger dreißigjähriger Mann geworden. Er trug ausschließlich Naturkleidung, die in Kleinbetrieben ohne Gentechnik hergestellt wurde. Seine schwarzen glatten Kopfhaare reichten ihm bis auf die Schultern, und den vollen langen Bart hatte er sich wachsen lassen, weil er schon immer leidenschaftlicher Anhänger der These war, dass jeder reife Mann einen solchen tragen sollte. Erst mit seinem Bart fühlte er sich männlich und dominant. Aber auch sonst war er stolz auf seine Körperbehaarung, die Arme, Beine, Achseln, Brust und noch einige weitere Stellen dicht bedeckte. Er sah sie als ein Geschenk der Natur und bedankte sich täglich dafür. Auf seinen Armen schimmerten durch die Haare hindurch große Narben, welche die Geschichte einer brutalen Auseinandersetzung erzählten:
Eines Tages war Alfred in den Park gegangen, um sich zu entspannen. Der Park bestand