Der Hase - Ein Fabelroman. Lorenzo Emanuele Tomasello
geholfen und es vor einem Raubtier beschützt hatte. Das Junge hatte nicht auf seine Eltern gehört und sich in Gefahr gebracht, als es sich zu weit von seinem Bau entfernte. Ein Fuchs hatte seine Witterung aufgenommen und war kurz davor gewesen, das Kleine zu fressen, da hatte Alfred das Raubtier mit seiner Steinschleuder niedergestreckt. Das junge Hasenwesen war gerettet worden, und Alfred hatte für die nächsten Tage etwas zu essen, denn er nahm den toten Fuchs mit in seine Hütte, häutete ihn und grillte das Fleisch. Es schmeckte nach Wildnis. Er ließ sich beim Kauen Zeit und genoss das eher exotische Mahl.
Nach dieser Rettung hatte sich zunächst eine Freundschaft mit den Eltern des Jungen entwickelt, die sich später auf die ganze Gemeinschaft der Hasenwesen ausdehnte, die Alfred mehr wie hasenartige Menschenwesen vorkamen. So friedlich diese Wesen auch waren, konnte ihre Friedfertigkeit schnell in Gewalt umschlagen, wenn sie sich bedroht fühlten. So war Alfred auf die Idee gekommen, mit ihnen eine Widerstandsbewegung zu organisieren, die auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen bereit sein würde, wenn es um den Schutz ihrer Umwelt ging. So wie durch diese Schule, die bald im Wald gebaut werden sollte.
*
Arbeiter kamen, um die ersten Bäume zu fällen – Arnold hatte sie von seinem Stadtbüro aus in den Wald geschickt. Der Widerstand ließ nicht lange auf sich warten: Mehrere Hasenwesen stellten sich den Holzfällern in den Weg und schützten die Bäume mit ihren Körpern. Damit hatte niemand gerechnet. Die Arbeiter versuchten, die Hasen von den Bäumen zu trennen, und schlugen schließlich sogar auf sie ein, woraufhin die Sache eskalierte: Alfred versammelte nun alle seine Hasenwesenfreunde aus der Widerstandsbewegung und setzte zum Gegenschlag an. Sie beschädigten sämtliche Geräte und verletzten einige Waldarbeiter so stark, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten.
Daraufhin kam es zu Protesten seitens der Arbeiter gegen Arnold und seine Geschäftspartner: »Wir fordern mehr Sicherheit bei der Arbeit!« Arnold konnte gut verstehen, warum die Männer so aufgebracht waren. Er schickte Botschafter zu Alfred, die mit ihm über den beabsichtigten Bau der Naturschule und die umweltschützenden Ziele von Arnold sprachen. Sie betonten, wie gut es der Unternehmer mit der heutigen Jugend meinte.
Alfred hielt Arnolds Pläne für widersinnig. Warum musste der Kerl einen Teil des kostbaren Waldes roden, wenn man genauso gut eine Naturschule in der Stadt bauen konnte? Das wäre viel besser – und dazu dann regelmäßige Ausflüge in den Wald, also Naturverbundenheit lehren, ohne die Natur dabei zu schädigen. Das wäre viel logischer. Zunächst sagte Alfred aber erst mal zu, den Widerstand einzustellen, damit die Leute wieder abzogen, doch er hatte bereits beschlossen, weiterzumachen, wenn der Bau der Schule nicht gestoppt wurde. Dieser Arnold hatte offensichtlich den Verstand verloren, und irgendjemand musste ihn ja aufhalten.
Gleich am nächsten Tag veranlasste Alfred, den Widerstand fortzusetzen. Die Schäden, die er mit seinen Hasenwesen verursachte, waren hoch und trafen Arnold hart. Dieser berief daraufhin eine Versammlung ein, um sich mit den Managern zu beraten, was sie gegen Alfreds Radikalismus unternehmen könnten. Auf diesem Treffen berechneten sie nochmals die angerichteten Schäden. Er war unermesslich wütend und entschied nach langem Überlegen, Alfred zur Strafe selbst in einen Baum zu verwandeln. Er fand, Alfred müsse lernen, in Harmonie mit der Natur zu leben. Dieser selbst ernannte Umweltschützer hatte mitten im Wald Bäume gefällt, um sich eine Holzhütte bauen zu können, und sabotierte nun den Bau einer wichtigen Schule, wodurch er zukünftige Generationen von der Natur fernhalten würde. Arnold wollte diesem Mann auf seine Art und Weise helfen. Wenn Alfred ein Dasein als Baum führen würde, meinte Arnold, dann wäre er durch seine Wurzeln mit Mutter Erde verbunden und könne aus dieser alle Nährstoffe beziehen, die er zum Leben brauche.
Arnold machten sie sich auf den Weg zu einem verlassenen Dorf, um ein Medium um Hilfe zu bitten. Jenes Dorf war vor Urzeiten wegen heftigen Winden von den Menschen aufgegeben worden. Inzwischen war es keiner Stadtbehörde mehr bekannt, und das Medium hatte sich dort niedergelassen, um ungestört seinen mystischen Tätigkeiten nachgehen zu können. Bevor es zu diesem Dorf gefunden hatte, war es, wie Arnold, obdachlos gewesen. Einmal war es so hungrig, dass er in einem Supermarkt etwas zu essen stahl und vor dem Besitzer floh. Zwar wusste dieser, dass man den Obdachlosen nicht verhaften würde, weil es Kosten verursachte, ihn durchzufüttern, aber trotzdem wollte er ihm eine Strafe zukommen lassen, und sei es eine Tracht Prügel, um ihm eine Lektion zu erteilen. Aus Angst, zum Krüppel geschlagen zu werden, fragte das Medium aus Verzweiflung damals den ihm unbekannten Bettler Arnold: »Darf ich mich für einen Augenblick unter deiner Decke bei dir verstecken?«
Sofort hatte Arnold dem zugestimmt: »Ja.« Er wusste nämlich, wie wichtig der Zusammenhalt auf der Straße war. Also versteckte sich das Medium unter Arnolds Decke, sodass der Supermarktbesitzer ihn nicht fand. Nachdem das Medium sicher war, bedankte es sich bei Arnold und schwor: »Wenn du irgendwann meine Hilfe brauchen solltest, lass es mich wissen, und ich werde tun, was ich kann.«
Schon immer war das Medium daran interessiert gewesen, mit Geistern in Kontakt zu treten, weil es die Natur als ein großes Mysterium sah und seiner Ansicht nach eine Verbindung mit dem wahren Sein nur erreicht werden könne, wenn man sich dem Unbegreifbaren widmete und die Dinge so akzeptierte, wie sie waren. Dank seiner beeindruckenden Fähigkeiten, mit Geistern zu kommunizieren, wurde der Mann für die mystische Welt interessant. Darum führten ihn die Geister in das verlassene Dorf, wo alle mystischen Angelegenheiten im Geheimen besprochen wurden.
Seit Jahren hatte sich das Medium gewünscht, seine Schuld bei Arnold begleichen zu können. Als er ihn kommen sah, freute er sich und fragte: »Was kann ich für dich tun?«
Arnold schilderte ihm sein Anliegen, und das Medium erklärte sich bereit, ihm zu helfen, obwohl es wusste, dass es damit verbotenerweise in das weltliche Geschehen eingriff und sich möglicherweise Probleme mit der mystischen Welt einhandelte. Er wollte aber unbedingt seine Schuld begleichen und nahm alles in Kauf.
*
Alfreds Verwandlung ereignete sich, als er in der Nacht seine Hütte verließ, um mit einer Fackel Richtung Baustelle zu gehen und das Gebiet für einen effektiv organisierten Widerstand genauer zu studieren.
Es fing kräftig an zu regnen, und die Fackel ging aus. Da tauchte plötzlich eine dämonische Gestalt vor ihm auf, die ihn mit ihrem grellen Licht blendete. Aus Furcht, zu erblinden, ließ Alfred die Fackel fallen und hielt sich die Augen zu. Im nächsten Augenblick spürte er, wie seine Füße am Erdboden zu kleben schienen. Panisch versuchte er, einen Schritt vor den nächsten zu setzen, aber es war nicht mehr möglich. Keinen einzigen Zentimeter bewegten sich seine Füße mehr und wurden plötzlich zu Wurzeln, während sein Körper sich in einen Baumstamm mit abzweigenden Ästen verwandelte.
Nachdem sich die Metamorphose vollzogen hatte, verschwand die dämonische Gestalt, ohne dass irgendjemand etwas mitbekommen hätte. Doch das Medium hatte eines nicht berücksichtigt: Alfred die Fähigkeit zu sprechen zu nehmen – das hatte Arnold allerdings auch nicht ausdrücklich bestellt.
Wenngleich Alfred die Bäume des Waldes geliebt hatte, als wären sie ein Teil von ihm, war er doch immer als Mensch zufrieden gewesen und hätte sich niemals gewünscht, ein Baum zu sein. Weil ihm als Mensch viel mehr Handlungsmöglichkeiten gegeben waren, fühlte er sich nun vernichtend geschlagen. Er hatte versagt und konnte diesen herzlosen Geschäftsmann und seinen Managern nichts mehr anhaben.
Die Verwandlung machte ihm zu schaffen, denn seine Hasenfreunde wussten nicht das Geringste davon und vermuteten, dass ihm etwas zugestoßen war. Doch trotz Alfreds Verschwinden setzten sie ihren Widerstand gegen die Arbeiter im Wald fort und waren aggressiver denn je. Dennoch schien die Privatschule Stück für Stück Form anzunehmen. Die Hasenfamilie mit dem Jungtier wusste, dass die Bekämpfung der Arbeiter allein nicht ausreichen würde, um den Bau zu verhindern, aber sie hatten eine Idee: Als Feierabend war, schlichen sie zur Baustelle. Alle Handwerker waren nach einem langen Arbeitstag gegangen und wollten sich für den nächsten Werktag ausruhen. Die Familie kletterte über den Zaun der Baustelle und betrat das unfertige Bauwerk. Während das Vatertier schaute, ob wirklich kein Handwerker mehr da war, nutzte der kleine Hase mit seiner Mutter die Zeit, um in dem Gebäude ein Feuer zu legen. Bald fing es an zu qualmen. Erleichtert, dass niemand der Handwerker zu finden war, kehrte das Vatertier zu seiner Familie zurück, und sie beeilten sich, das Bauwerk zusammen