Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können. Wolfgang Issel

Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können - Wolfgang Issel


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immer dann besonders anspringt, wenn Signale auftreten, die in ihrer Stärke eine bestimmte Erregungsschwelle überschreiten. Alles darunter ist langweilig und spielt keine Rolle.

       Ein Schaufensterbummel: Die Kleider und Röcke in den Auslagen lassen die junge Frau kalt. Sie entsprechen nicht dem, was sie sucht. Wie ein Blitz durchfährt es sie, als ihr ein Kleid ins Auge fällt, das genau ihrem inneren Suchmuster entspricht. Es hat eine heftige Resonanz zwischen ihren Wunschvorstellungen und der Realität im Schaufenster gegeben. Ein gewaltiger Schuss Belohnungssubstanz ergießt sich in ihre Seele. Euphorisch und höchst motiviert betritt sie den Laden.

      Resonanz, Belohnungssubstanz? Geduld, Geduld … Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, wie viele verschiedene Persönlichkeiten nach diesem Gedankenmodell in einem Menschen schlummern? Nicht fünf, nicht zehn, sondern … unendlich viele, je nach Bedürfnislage, Umfeldbedingungen und Höhe des seelischen Pegels. Schon der geringste aus der Gewohnheit fallende Einfluss, wie der Schnitt in den Finger, aber auch stärker belastende oder vorher nie gekannte Situationen können ganz neue, zum Teil sogar völlig überraschende Verhaltensmuster offenlegen.

       Bei der Bundeswehr gab es regelmäßig Nachtübungen nach dem Muster »Stoßtrupp und Feldposten«. Das lief in etwa so: Ein Funkwagen, meist auf einer kleinen Anhöhe, sollte durch rundum verteilte Feldposten gegen Angriffe gegnerischer Stoßtrupps in Stärke von meist vier bis fünf Mann geschützt werden. Das hieß: Die eine Hälfte nistete sich gut getarnt rund um den Funkwagen ein, immer mit Überblick und Schussfeld, um die Stoßtrupps abzuwehren, die andere Hälfte versucht, die Kette der Feldposten mit List und Tücke zu durchbrechen, um an die Funkverschlüsselung zu kommen und den Funkwagen zu neutralisieren.

      Da liegt man nun stundenlang mehr oder weniger bewegungslos und starrt in die sich ausbreitende Dämmerung. So dunkel, dass die Farbzäpfchen im Auge versagen und das Bild durch die lichtempfindlicheren Stäbchen immer mehr schwarz-weiß wird wie früher bei den ersten Fernsehern. Schließlich sind fast nur noch konturlose Schatten zu erkennen. Plötzlich die Trugbilder: Ein Schreck durchfährt mich, haben sich dort nicht die Büsche bewegt, als wenn da einer durchkäme? Mein Algorithmus hat nicht nur die Situation selbst ausgewertet, er hat sogar schon vorausgedacht, was alles passieren könnte. Er drückte von sich aus den Alarmknopf und rüttelte mich auf. Ich muss es nun überprüfen und den Alarm wieder löschen. Und das immer wieder über Stunden hinweg. Unglaublich anstrengend.

      Der Stoßtrupp wird rechtzeitig erkannt, gestellt und gefangen genommen. Einer der Festgenommenen schlägt in seinem Frust, mit starrem Blick und ohne Sinn und Verstand, seinem »gegnerischen« Kameraden mit dem Gewehrkolben so hart über den Helm, dass das Griffstück abbricht. Es ist zum Glück nichts weiter passiert, aber der »Gegner« ist eigentlich sein Stubenkamerad und Freund, das hat er in seinem übernächtigten und tief frustrierten Zustand aber gar nicht wahrgenommen. Die Aggression auf den Frust hin musste einfach raus, egal wie

      Für mich das Wichtigste an meiner Zeit bei der Bundeswehr sind die richtungsweisenden Erfahrungen, wie sich Menschen in Grenzsituationen verhalten, wozu sie fähig sind und welchen körperlichen und seelischen Grenzen man selbst unterliegt – und wie wichtig es ist, sich auf seine Kameraden verlassen zu können. Es ist beeindruckend zu sehen, welch immense Schlagkraft selbst eine kleine Gruppe entwickelt, wenn sie optimal und intelligent zusammenarbeitet.

      Eine weitere Erfahrung aus dieser Zeit ist der Zweifel an der Annahme, dieser oder jener Mensch könne keiner Fliege etwas zuleide tun. In bekanntem ruhigem Fahrwasser mag Wohlverhalten leichtfallen, aber in Extremsituationen? Sturm, Wellen, Sandbänke, Untiefen? Den Gewehrkolben über den Kopf? Es ist kaum möglich vorherzusagen, wie sich ein Mensch in einer neuen, ihn möglicherweise körperlich oder seelisch überfordernden Situation verhalten wird, wie sein Algorithmus in einer kritischen Situation seine Prioritäten setzt – besonders dann, wenn der Mensch bereits seelisch angeschlagen ist.

      Zurück zum Schaufenstereffekt und der unwiderstehlichen Resonanz, die ein so sehr ersehntes Suchmuster auslöst, ganz gleich ob es eigentlich entbehrlich, unmoralisch oder gar kriminell ist:

      Eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen besteht folgerichtig darin, Situationen zu meiden, die eine solch überbordende Resonanz und damit eine kaum mehr zu bändigende Motivation in Gang setzen könnten. Wenn die Prämisse z. B. Sparen lautet, dann am besten keine Schaufensterbummel mehr: Resonanz weg, aber Geld noch da. Doch was dann? Kann man auf die damit ebenfalls eingesparten erhebenden Gefühle einfach so verzichten?

      Die Schlussfolgerung: Der Mensch arbeitet mit einem biologischen Algorithmus als Verhaltensrechner: Sein Gehirn ist die Hardware, sein Algorithmus die Software.

      Was ist nun erste Aufgabe eines Algorithmus? Sich ein realistisches Bild seiner inneren und äußeren Umgebung zu verschaffen – das ist der Klassiker beim Aufwachen: Wo bin ich? Was ist los?

      Wie schwer sich eine solche Aufgabe darstellt, lässt sich erst so richtig einschätzen, wenn man eine derartige Standortbestimmung mit einem Roboter versucht, z. B. mit einem humanoiden Roboter wie meinem kleinen Roby. Er ist nicht viel mehr als einen halben Meter groß. Auf mein fröhliches »Hi Roby, wie gehts?«, schaut er mich mit großen Augen an, verharrt kurz, bis seine Gesichtserkennung mich identifiziert hat, und begrüßt mich mit den Worten »Ich kenne dich, du bist Wolf. Wie geht es dir heute, Wolf?« Das sind die einfacheren Übungen.

      Roby verfügt über hochauflösende Bilder aus seinen Kameras und Audiodateien aus seinen Mikrofonen. Nun soll er diese Ansammlung von Pixeln und Lautschnipseln so interpretieren, dass er sich in seiner Umgebung zurechtfinden und seiner Aufgabe gemäß richtig verhalten kann. Das ist allerdings alles andere als einfach. Das Wichtigste dabei ist das Zuordnen von Bedeutung: Was ist ein Mensch, ein Tisch, ein Stuhl? Roby soll einmal in der Lage sein, diese Gegenstände bewusst wahrzunehmen.

      Fragen wir uns aber zunächst, wie das beim Menschen geht.

       Wahrnehmung

      Die Videokameras von Roby geben eine objektive Realität wieder. Jeder Betrachter würde im Video dasselbe sehen – aber durchaus Unterschiedliches wahrnehmen, ganz abgesehen davon, dass es einen gehörigen Unterschied macht, ob man sich in Ruhe am grünen Tisch eine Szene anschaut oder unmittelbar in die Situation verwickelt ist. – Unter Stress wertet der Organismus andere Merkmale aus und verfolgt andere Ziele als im entspannten Zustand.

      Im Prinzip handelt es sich bei deinem Algorithmus um einen grandiosen Verhaltensrechner. Dieser erfasst die aktuelle Situation mit all seinen Sensoren und konstruiert daraus deine ganz subjektive Realität: Es ist deine Wahrnehmung und nur deine. Aber Überraschung: Diese hat mit der objektiven Realität nicht allzu viel zu tun, denn Wahrnehmung ist die Interpretation einer objektiven Situation im Sinne deiner subjektiven Interessen und Erfahrungen.

      Bevor dein Algorithmus dir deine subjektiv wahrgenommene Realität auf deinem inneren Bildschirm präsentiert und vielleicht sogar bewusst macht, hat er viele andere Einflüsse eingearbeitet. Das bedeutet: Objektive Realität bearbeitet mit einer Art HirnPhotoshop ergibt die dir von deinem Algorithmus präsentierte subjektive Realität. Je angespannter deine Seelenlage, desto mehr Verfälschung. Da du nur diesen einen inneren Bildschirm hast, bleibt dir nur übrig, zu glauben, was der dir zeigt. Es ist deine subjektive Wahrnehmung, deine persönliche Wahrheit. Für dich gibt es nichts anderes, du musst es glauben, selbst wenn dein Algorithmus dir eine völlig aus der Luft gegriffene Fata Morgana zeigen sollte: Du kannst es nicht wissen, du musst ihm vertrauen. Mach aber nicht den Fehler zu glauben, ein anderer hätte in derselben Situation das Gleiche auf dem Schirm wie du!

      Welches Interesse, wirst du dich fragen, sollte dein eigener Algorithmus denn haben, dir deine persönliche Realität vorsätzlich und systematisch dermaßen zu verfälschen? Wenn du dich beim Errechnen deines Verhaltens an einer manipulierten, mehr oder weniger falschen Realität orientierst, handelst du dir doch unkalkulierbare Risiken ein?

      Gute Frage. Aber wenn es doch so ist?


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