Hexenkolk - Wiege des Fluchs. Thomas H. Huber
Mal begegneten fühlten beide gleichzeitig, dass sie schon immer zusammengehörten, und lediglich durch Raum und Zeit, nicht aber von ihren Seelen getrennt waren. „Hey, ich bin Jeremiah. Schön, dich kennenzulernen“. Sie sah ihn mit ihren smaragdgründen Augen an und erwiderte: „Ich bin Melissa, und gerade erst angekommen“, dabei deutete sie mit dem Kinn auf ihren Koffer.
Als der Ball-Drop vorüber war, und die Menschenmenge sich langsam in den Straßen der Stadt verteilt hatte, nahm Jeremiah seine Traumfrau an die Hand, packte ihren Koffer, und nahm sie mit zu sich nach Hause. Die darauffolgenden Jahre waren erfüllt von Glück und harmonischer Zweisamkeit, bis die Welt eines Tages zum Stillstand kam, und ein schwerer, erdrückender Nebel sich auf sie herabsenkte.
HERVORDIA (HANSESTADT-HERFORD)
DER HEXENKOLK, 21. August 1627
Die Sonne kroch behäbig über den Horizont und hüllte die kleine Stadt in ein goldenes, warmes Licht. Schon zu dieser frühen Morgenstunde konnten die Einwohner spüren, dass ihnen ein heißer Tag beschert würde. Zahlreiche Händler errichteten ihre Stände auf den beiden Marktplätzen, wovon einer im ältesten Stadtteil, der Radewig lag, und der andere sich seit einiger Zeit direkt neben der Münsterkirche etabliert hatte. Der Markt in der Radewig war der ursprüngliche Markt, auf dem Lebensmittel, Stoffe und andere Gegenstände für das tägliche Leben angeboten wurden. Der junge Markt am Münster hingegen, war für seine gegrillten Speisen, Wein, Gesang, und andere Attraktionen bekannt.
Von überall her kamen sie mit schwer beladenen Fuhrwerken, um ihre Waren feilzubieten. Manche von ihnen hatten einen Ochsen vorgespannt, andere ein oder zwei schwergewichtige Kaltblüter, die sich durch ihr besonders ruhiges Temperament wesentlich von allen anderen Pferderassen unterscheiden, und für diesen Knochenjob wie geschaffen waren. Ihnen war kein Karren zu schwer, kein Weg zu schwierig. Auch auf den Flüssen, Werre und Aa, lagen etliche Barken bis über die Bordwand hinaus beladen mit Stoffen, Schmuck, Getreide und vielerlei exotischen Gewürzen. Jongleuren und Feuerschlucker, fanden sich auf dem Marktplatz ein und verliehen der Szenerie etwas zauberhaft Mystisches.
Doch diese, ganz offenbar heile Welt des Marktes, konnte nichts daran ändern, dass man nur wenige Meter entfernt viele Frauen einer sehr gewaltsamen Prozedur unterzog, der sogenannten Wasserprobe.
Dieses archaische Element der Rechtsgeschichte, reicht zurück bis ins dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung und diente dazu, eine Person der Zauberei zu überführen.
Dabei steckte man die oder den Verdächtigen, in den meisten Fällen handelte es sich jedoch um eine Frau, in einen Leinensack und warf sie in den Fluss. Im Herford des späten Mittelalters, nutzte man dazu die Radewiger Brücke. Diese Stelle war für die Wasserprobe wie geschaffen, denn unter ihr befand sich ein Stauwehr. Durch das hinabstürzende Wasser hatte sich im Flussbett über die Jahre hinweg eine Vertiefung ausgebildet, die man Kolk nennt. Diese Vertiefung erfüllte gleich zwei Anforderungen der Prozedur des Kolkens. Erstens war das Wasser an dieser Stelle tief genug, um einen erwachsenen Menschen vollkommen darin zu versenken, und zweitens entwickelte sich durch die aufschlagenden Wassermassen Kehrwasser, welches dafür sorgte, dass der Mensch nicht flussabwärts weggespült wurde, sondern sich stattdessen an Ort und Stelle um die eigene Achse drehte. Nun musste der Sack nur noch zusätzlich mit Steinen beschwert werden, damit er mit seinem menschlichen Inhalt nicht an die Wasseroberfläche auftreiben konnte. Wenn die Frau diese grausame, oft mehrere Minuten andauernde Prozedur nicht überlebte, sprach man sie zwar von der Hexerei frei, doch tot war sie dennoch. Bei jeder Überlebenden hatten die Folterknechte dann den hieb- und stichfesten Beweis, dass es sich um eine Hexe handelte, denn kein normaler Mensch hätte diesen grausamen Akt lebendig überstehen können. „Selbst das reine Wasser hat sie verschmäht“, hieß es dann ohne jeglichen Zweifel. Je nachdem wie schwer die einzelnen Anklagepunkte wogen, brachte man sie dann entweder in den sogenannten Tortur-Turm, um weitere Geheimnisse aus ihr herauszulocken, oder stellte sie an den Pranger, wo sie von allen Bewohnern der Stadt angespuckt und beschimpft werden konnte. In den meisten Fällen jedoch, beförderte man sie im Namen Gottes direkt auf den Scheiterhaufen. Der menschliche, oder besser gesagt, der männliche Wahnsinn dieses Zeitalters sorgte dafür, dass mit jeder einzelnen Frau nicht nur ein unschuldiges Lebewesen starb, sondern auch ein unwiederbringliches Wissen, zu dem kein Mann jemals Zugriff hatte und bis heute hat. Meist waren sie durch ein großes Wissen in der Kräuterkunde und der Medizin auffällig geworden, oder aber durch eine überragende Intelligenz. Ein Grund allein, reichte meist schon aus, um sie der Wasserprobe zu unterziehen. Hätte man diese wissenden Frauen geehrt und beschützt, anstatt sie der Hexerei zu bezichtigen, wäre unsere Welt heutzutage vermutlich ein friedlicherer Ort, ohne Kriege, Verbrechen und Krankheiten.
An diesem Samstag, dem wohl dunkelsten in der Geschichte der Stadt, fanden dreißig unbescholtene Frauen entweder direkt am Radewiger Kolk den Tod, oder kurz darauf im alles vernichtenden Höllenfeuer der Heiligen Inquisition.
Natürlich machten sich die Kleriker bei der Tötung der Unschuldigen nicht persönlich die Hände schmutzig, dies erledigte ein anderer für sie, Maximilian Gosejohann. Er war der Sohn eines betuchten, gottesfürchtigen Gutsherrn. Maximilian war von schlichtem Gemüt, er konnte kaum lesen und schreiben, obwohl sein Vater bereits seit früher Kindheit zwei Lehrer für seine Ausbildung angestellt hatte. Leider waren sämtliche Versuche, ihm die einfachsten Grundsätze der Grammatik und Mathematik einzutrichtern, fehlgeschlagen. Haareraufend gaben die Lehrer irgendwann auf, und Maximilians Vater war verzweifelt. „Er ist zu dumm, um eins und eins zusammenzuzählen. Lieber Gott, was soll nur aus ihm werden? Wie soll er mit dem Hof und meinem Vermögen klarkommen, wenn ich mal nicht mehr da bin?“ brummte er mit traurigen Augen, während er sich gedankenversunken den grauen Bart kraulte. Als er jedoch eines Tages die strahlenden Augen seines Sprösslings bemerkte, nachdem dieser die starken Männer am Kolk beobachtet hatte, wie sie die wimmernden und flehenden Frauen in den Fluss warfen, stieg Hoffnung in ihm auf. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt wohl erst neun Jahre alt, was seinen Vater aber nicht daran gehindert hatte, ihn dennoch in die Hände des Klerus zu geben. Den wahren Grund, warum er den Jungen weggab, behielt er allerdings für sich. Niemand sollte etwas davon erfahren, zumindest nicht in diesem Moment: „Nehmt ihn unter Eure Fittiche“, sagte er zum Obersten Priester des Inquisitionstribunals und drückte ihm einen schweren Sack Goldmünzen in die Hand. „Am Kolk wird er Euch später bestimmt gute und treue Dienste leisten“. Auf wundersame Weise verwandelte Maximilian sich ab diesem Zeitpunkt in einen recht guten Schüler, mit ganz passablen Leistungen, auch wenn er sein Defizit in der Grammatik nie vollständig aufholen konnte. Dafür entwickelte er jedoch schnell Interesse für die Funktionsweise des menschlichen Körpers, vor allem aber, wie man diesen durch Schmerzen redselig machen konnte. So kam es, dass man ihn an seinem achtzehnten Geburtstag zum obersten Folterknecht und Scharfrichter der Stadt Hervordia ernannte, und ihm kurz darauf den Titel „Heiliger Kolker“ verlieh. Er genoss durch seine Arbeit schon bald ein hohes Ansehen in der ganzen Region, denn schließlich befreite er alle gottesfürchtigen Bewohner von bösen Hexen. Aus seiner Sicht nahm er, durch das Töten der verderbten Frauen, den Kampf mit Satan persönlich auf, wodurch er ganz gewiss in Gottes Gunst steigen würde.
Schon vor dem unseligen Augusttag, im Jahr des Herrn 1627, nahm er unzähligen Frauen das Leben. Heute spricht man davon, dass die Geschichte der Hexenverfolgung im späten Mittelalter, und zu Beginn der frühen Neuzeit, in Europa ihren Höhepunkt erreicht hatte, und dann auch auf andere Kontinente übersprang, wie beispielsweise Amerika, wovon die Hexenprozesse von Salem bis heute in Erinnerung geblieben sind.
Die Geschichtsbücher sind sich nicht ganz einig, was die Dauer dieses Wahnsinns betrifft, aber etwa 400 Jahre könnten es gewesen sein. Es war nicht nur ein Kampf der Geschlechter, in dem Männer Frauen aus freier Willkür töteten, sondern ein regelrechter Vernichtungswahn des gesamten Patriarchats. Manche sagen, es waren 9 Millionen Menschen, wovon die meisten Frauen waren, die auf den Scheiterhaufen Europas den Tod fanden. Es gibt sogar Stimmen, die von 30 Millionen Opfern ausgehen. Liegt auch hier die Wahrheit irgendwo in der Mitte, waren es rund 12 Millionen Opfer, also 30.000 pro Jahr. Wie viele Frauen durch Maximilians Arbeit auf dem Scheiterhaufen landeten ist ungewiss, doch es bleibt genügend Raum für Spekulationen.
Anfänglich