Deutschstunde. Siegfried Lenz

Deutschstunde - Siegfried Lenz


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bis es auf eine Eisscholle fiel und dort von einer wachsamen Möwe geschnappt wurde. Da legte der Direktor mir eine Hand auf die Schulter, nickte mir fast kameradschaftlich zu und bat mich noch einmal, vor all den Psychologen, um eine Erklärung, worauf ich ihm von meiner Not erzählte: wie mir das Wichtigste zu dem gewünschten Thema zuerst einfiel, dann aber verwackelte; wie ich kein Geländer finden konnte, das mich allmählich in die Erinnerung hinabführte. Von den vielen Gesichtern erzählte ich ihm, von dem unüberschaubaren Gedränge und all den Bewegungen quer durch meine Erinnerung, die mir jeden Anfang vermadderten, jeden Versuch vereitelten, auch vergaß ich nicht zu erwähnen, daß die Freuden der Pflicht bei meinem Vater noch andauerten und daß ich sie deshalb, um ihnen gerecht zu werden, nur ungekürzt schildern könne, jedenfalls nicht in willkürlicher Auswahl.

      Erstaunt, vielleicht sogar verständnisvoll hörte der Direktor mir zu, während die Diplompsychologen flüsterten, noch näher traten und sich dabei anstießen und erregt zuraunten »Wartenburgischer Wahrnehmungsdefekt« oder »Winkeltäuschung« oder sogar, was ich besonders widerlich fand, »Kognitive Hemmung«; da war ich schon bedient und so weiter, jedenfalls weigerte ich mich, in Anwesenheit dieser Leute, die mich unbedingt durchschauen wollten, noch mehr Erklärungen abzugeben: die Zeit auf dieser Insel hat mich genug gelehrt.

      Nachdenklich zog der Direktor seine Hand von meiner Schulter, musterte sie kritisch, prüfte vielleicht, ob sie noch komplett war, und wandte sich dann, unter der erbarmungslosen Aufmerksamkeit seiner Besucher, zum Fenster, wo er ein Weilchen in den Hamburger Winter hinausblickte, sich wohl bei ihm Anregung und Rat holte, denn auf einmal wandte er sich mir zu und verkündete mit niedergeschlagenen Augen sein Urteil. Ich solle, so meinte er, in meine Zelle gebracht werden, in »anständige Abgeschiedenheit«, wie er sagte, und zwar nicht, um zu büßen, sondern um ungestört einzusehen, daß Deutschaufsätze geschrieben werden müssen. Er gab mir also eine Chance.

      Er erläuterte, daß alle Ablenkungen, wie etwa Besuche meiner Schwester Hilke, von mir ferngehalten würden, daß ich meinen Pflichten – in der Besenwerkstatt und in der Inselbücherei – nicht nachzugehen brauchte, überhaupt versprach er, mich vor jeder Störung zu bewahren, und dafür erwartete er, daß ich, bei gleicher Essensration, meine Arbeit nachschrieb. Es kann ruhig, sagte er, dauern, solange es nötig ist. Ich solle den Freuden der Pflicht, sagte er, geduldig nachspüren. Ich meine, er sagte auch, ich solle alles bedachtsam tropfen und wachsen lassen, wie ein Stalaktit oder so; denn Erinnerung, das kann auch eine Falle sein, eine Gefahr, zumal die Zeit nichts, aber auch gar nichts heilt. Da horchten die Diplompsychologen auf, er aber schüttelte mir fast kameradschaftlich die Hand, Händeschütteln, darin hat er ja Erfahrung, ließ sodann Joswig rufen, unseren Lieblingswärter, machte ihn mit seinem Entschluß bekannt und sagte etwa: Einsamkeit, Siggi braucht nichts so sehr wie Zeit und Einsamkeit; achten Sie, daß er beides reichlich erhält. Danach gab er Joswig mein leeres Heft, und wir beide waren entlassen, schlenderten über den gefrorenen Platz – Joswig so bekümmert und vorwurfsvoll, als hätte ich ihm mit meiner Verurteilung zur Strafarbeit eine eigene Enttäuschung bereitet. Dieser Mann, der sich für nichts mehr begeistern kann außer für seine Altgeldsammlung und den Gesang des Inselchors, er zog sich beleidigt in sich selbst zurück, als er mich in meine Zelle brachte. Darum umschloß ich seinen Unterarm und bat ihn, mich nach Möglichkeit weniger vorwurfsvoll zu behandeln. Er ging aber nicht darauf ein, sondern sagte nur: Denk, so sagte er, an Philipp Neff, womit er mich indirekt davor warnte, es diesem Philipp Neff gleichzutun, einem einäugigen Jungen, den sie ebenfalls verurteilt hatten, eine Deutscharbeit nachzuschreiben. Zwei Tage und zwei Nächte, so kann man erfahren, soll dieser Junge sich abgemüht haben, einen Anfang zu finden, einen genügsamen Grund – es ging, soviel ich weiß, um das Korbjuhnsche Thema: »Ein Mensch, der mir auffiel« –, am dritten Tag schlug er einen Wärter nieder, brach aus, würgte mit einer unter uns unvergessenen Wirkung den Hund des Direktors, konnte bis zum Strand fliehen und ertrank bei dem Versuch, die Elbe im September zu durchschwimmen. Das einzige Wort, das Philipp Neff, dieser tragische Beweis für Korbjuhns unheilvolle Tätigkeit, in sein Heft geschrieben und hinterlassen hatte, hieß: Karunkel – was immerhin vermuten ließ, daß ihm ein Mensch mit einer Fleischwarze besonders aufgefallen war. Jedenfalls war Philipp Neff mein Vorgänger in dem festen Zimmer, das man mir nach meiner Ankunft auf der Insel für schwer erziehbare Jugendliche zugewiesen hatte, und als Joswig mich an sein Los erinnerte, indem er mich davor warnte, es ihm gleichzutun, ergriff mich eine unbekannte Angst, eine schmerzhafte Ungeduld: ich drängte mich zum Tisch und fürchtete mich vor ihm, wollte mich auf die alte Spur setzen und bangte, sie nicht wiederfinden zu können, ich zauderte und forderte, druckste und begehrte, wollte und wollte nicht – was zur Folge hatte, daß ich nur teilnahmslos zusah, wie Joswig mein Zimmer untersuchte, nein, nicht allein untersuchte, sondern zur Strafarbeit freigab.

      Fast einen Tag lang sitze ich nun so, und vielleicht hätte ich schon angefangen, wenn da nicht, zur Ablenkung, Schiffe über den winterlichen Strom aufkämen, die zuerst nicht zu sehen, nur zu hören sind: das schwache Dröhnen der Maschinen kündigt sie an, dann ein Stoßen und Poltern, das die Eisschollen hervorrufen, die splitternd an der eisernen Bordwand entlangtrudeln, und dann, während das Stampfen härter und bestimmbarer wird, gleiten sie aus dem Zinngrau des Horizonts mit ganz und gar verwaschenen Farben, feucht, vibrierend, eher eine Erscheinung der Luft als des Wassers, und ich muß sie aufnehmen mit dem Blick und begleiten, bis sie querab und vorüber sind. Mit ihren eisverkrusteten Steven und Relings und Entlüftern, mit ihren glasierten Aufbauten und rauhreifbesetzten Spanten gleiten sie durch die Starre. Was sie zurücklassen, ist ein breiter, ungenauer Schnitt im treibenden Eis, eine Rinne, die mäanderförmig gegen den Horizont läuft, schmaler wird, zuwächst. Und das Licht, auf das Licht über der winterlichen Elbe ist kein Verlaß: Zinngrau wird zu Schneegrau, Violett bleibt nicht Violett, Rot verzichtet auf sein Komplement, und der Himmel Richtung Hamburg ist vielfach gefleckt wie von Prellungen.

      Drüben am Ufer, woher mattes Hämmern bis zu mir herüberklingt, steht ein schmaler, schmutziger Nebelschweif, der mir wie eine entrollte Fahne aus Mullbinde vorkommt. Näher zu mir, mitten über dem Strom, hängt die Rußfahne des kleinen Eisbrechers »Emmy Guspel«, der vor einer Stunde mit rabiatem Bug durch das bläulich schimmernde Treibeis pflügte; die längliche Qualmwolke will nicht sinken, will sich nicht auflösen, weil der Frost Streik ausgerufen hat und darum vieles unerledigt bleibt, sogar die Atemstöße bleiben sichtbar. Zweimal ist die »Emmy Guspel« schon vorübergedampft, denn sie muß das Eis in Bewegung halten, muß verhindern, daß sich da eine Stauung von Schollen bildet, ein Eispfropf im Strom, der eine geschäftliche Thrombose hervorrufen könnte.

      Schräg stehen die Warntafeln unten am verlassenen Strand; Eisschollen haben sich an den Pfählen gescheuert und sie dabei gelockert, das Hochwasser hat nachgedrückt, der Wind hat sie schiefgeweht, so daß die Wassersportler, die die Warnung vor allem betrifft, schon den Kopf schräg legen müßten, um zu erfahren, daß jedes Anlegen, Festmachen und Zelten auf unserer Insel verboten ist. Zum Sommer, das ist sicher, werden sie die Pfähle wieder richten, denn es sind besonders die Wassersportler, die die Besserung der jugendlichen Gefangenen auf der Insel gefährden könnten: das ist die Meinung des Direktors, und das ist auch, wie man erfahren kann, die Meinung, die der Hund des Direktors vertritt.

      Nur in unseren Werkräumen ist der Kreislauf weder geschwächt noch unterbrochen. Weil sie uns hier mit den Vorzügen der Arbeit bekannt machen wollen, sogar einen erzieherischen Wert in der Arbeit entdeckt haben, achten sie, daß keine Stille entsteht: das Summen der Dynamos in der Elektrowerkstatt, das Ting-Tong fallender Hämmer in der Schmiede, das schroffe Zischgeräusch der Hobel in der Tischlerei und das Hacken und Kratzen aus unserer Besenwerkstatt hören nie auf, lassen den Winter vergessen und erinnern mich, daß ich meine Aufgabe noch vor mir habe. Ich muß anfangen.

      Der Tisch ist sauber, alt, mit dunkelnden Kerben bedeckt, mit eckigen Initialen und Jahreszahlen, Zeichen, die an einen Augenblick der Bitterkeit, der Hoffnung, aber auch des Starrsinns erinnern. Mein Heft liegt aufgeschlagen vor mir, bereit, die Strafarbeit aufzunehmen. Ich kann mir keine Ablenkung mehr leisten, ich muß beginnen, ich muß den Schlüssel umdrehen, um den Tresor meiner Erinnerung, in dem alles verschlossen liegt, endlich zu öffnen, um all das hervorzuholen, was Korbjuhns Forderung erfüllt: ich soll ihm die Freuden der Pflicht bestätigen, ihre Wirkungen verfolgen, die in mir selbst enden, und zwar zur Strafe, ungestört, und so lange, bis der Nachweis gelungen


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