Deutschstunde. Siegfried Lenz

Deutschstunde - Siegfried Lenz


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– er spreizte dabei jedesmal seine Beine, gab in den Knien nach und fummelte so lange herum, bis er den Kopf der Klammer zwischen den Fingern hielt –, befreite sich vom Umhang, indem er nach unten wegtauchte, zog seine Uniformjacke glatt, öffnete ein wenig meine Vermummung und schob mich vor sich her in die Wohnstube.

      Sie hatten eine sehr große Wohnstube auf Bleekenwarf, einen nicht allzu hohen, aber breiten und vielfenstrigen Raum, in dem mindestens neunhundert Hochzeitsgäste Platz gehabt hätten, und wenn nicht die, dann aber doch sieben Schulklassen einschließlich ihrer Lehrer, und das trotz der ausschweifenden Möbel, die dort herumstanden mit ihrer hochmütigen Raumverdrängung: schwere Truhen und Tische und Schränke, in die runenhafte Jahreszahlen eingekerbt waren und die einfach durch die gebieterische und dräuende Art ihres Dastehns Dauer beanspruchten. Auch die Stühle waren unverhältnismäßig schwer, gebieterisch; sie verpflichteten, möchte ich mal sagen, zu regungslosem Dasitzen und zu einem sehr sparsamen Mienenspiel. Das dunkle, plumpe Teegeschirr – sie nannten es Wittdüner Porzellan –, das auf einem Bord an der Wand stand, war nicht mehr in Gebrauch und lud zu Zielwürfen ein, aber der Maler und seine Frau waren duldsam und änderten nichts oder nur wenig, nachdem sie Bleekenwarf gekauft hatten von der Tochter des alten Frederiksen, der so skeptisch war, daß er sich, als er Selbstmord beging, vorsichtshalber die Ader öffnete, ehe er sich an einem der ungeheuren Schränke erhängte.

      Sie änderten nichts am Mobiliar, wenig in der Küche, in der sich Pfannen, Töpfe, Fäßchen und Kannen streng ausgerichtet anboten; sie beließen an ihrem Platz die greisen Geschirrschränke mit den unbescheidenen Wittdüner Tellern und den maßlosen Terrinen und Schüsseln, sogar die Betten blieben an ihrem Ort, strenge, schmale Pritschen, die kargsten Zugeständnisse an die Nacht.

      Aber mein Vater sollte endlich, zumal er schon im Wohnzimmer steht, die Tür hinter sich schließen und Doktor Theodor Busbeck begrüßen, der wie immer allein auf dem Sofa saß, auf dem harten, vielleicht dreißig Meter langen Ungetüm, nicht lesend oder schreibend, sondern wartend, seit Jahren wartend in Ergebenheit, sorgfältig gekleidet und voll geheimnisvoller Bereitschaft, so als könnte die Veränderung oder die Nachricht, die er erwartete, in jedem Augenblick eintreffen. Auf seinem blassen Gesicht war fast nichts zu erkennen, das heißt, jeder Ausdruck, den eine Erfahrung auf ihm zurückgelassen hatte, war von einer planvollen Vorsicht wieder entfernt, abgewaschen worden; aber bereits wir wußten immerhin so viel, daß er als erster die Bilder des Malers ausgestellt hatte und auf Bleekenwarf lebte, seit seine Galerie zwangsgeräumt und geschlossen worden war. Lächelnd ging er meinem Vater entgegen, begrüßte ihn, ließ sich die Windstärke bestätigen, nickte auch lächelnd zu mir herab und zog sich wieder zurück. Nimmst du Tee oder Schnaps, Jens, fragte die Frau des Malers, mir ist nach Schnaps.

      Mein Vater winkte ab. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts, und er setzte sich nicht wie sonst auf den Fensterstuhl, trank nicht wie sonst, sprach nicht wie sonst von seinen Schmerzen in der Schulter, die ihn seit einem Sturz vom Fahrrad heimsuchten, und versäumte es auch, die Vorfälle und näheren Begebenheiten auszubreiten, über die der Polizeiposten Rugbüll herrschte und unterrichtet sein mußte, vom folgenschweren Hufschlag über Schwarzschlachtung bis zur ländlichen Brandstiftung. Er hatte nicht einmal einen Gruß von Rugbüll mitgebracht und vergaß auch, nach den fremden Kindern zu fragen, die der Maler aufgenommen hatte. Nichts, Ditte, sagte er, heute nichts.

      Er setzte sich nicht. Er streifte mit den Fingerkuppen die Brusttasche. Er blickte durch das Fenster zum Atelier hinüber. Er schwieg und wartete, und Ditte und Doktor Busbeck sahen, daß er auf den Maler wartete, freudlos, unruhig sogar, soweit mein Vater überhaupt Unruhe zeigen konnte, jedenfalls ließ ihn das, was er zu tun hatte, nicht gleichgültig. Sein Blick fand keinen Halt – wie immer, wenn er betroffen, wenn er unsicher und erregt war auf seine friesische Weise: er sah jemanden an und sah ihn nicht an, sein Blick traf und glitt ab, hob sich und wich aus, wodurch er selbst unerreichbar blieb und sich jeder Befragung entzog. So wie er dastand in der sehr großen Wohnstube auf Bleekenwarf, beinahe widerwillig in der schlecht sitzenden Uniform, unsicher und mit einem Blick, der nichts bekennen wollte, ging von ihm ganz gewiß keine Bedrohung aus.

      Da fragte die Frau des Malers gegen seinen Rücken: Ist was mit Max? Und als er nickte, nichts als steif vor sich hin nickte, erhob sich Doktor Busbeck, kam näher und nahm Dittes Arm und fragte zaghaft: Eine Entscheidung aus Berlin?

      Mein Vater wandte sich überrascht, wenn auch zögernd, um, sah auf den kleinen Mann, der sich für seine Frage zu entschuldigen schien, der sich für alles zu entschuldigen schien, und antwortete nicht, weil er nicht mehr zu antworten brauchte; denn beide, die Frau des Malers und sein ältester Freund, gaben ihm durch ihr Schweigen zu erkennen, daß sie ihn verstanden hatten und auch schon wußten, welch eine Entscheidung es war, die er zu überbringen hatte.

      Natürlich hätte Ditte ihn jetzt nach dem genauen Inhalt seines Auftrags fragen können, und mein Vater, denke ich, hätte bereitwillig, auch erleichtert geantwortet, doch sie forderten ihn nicht auf, mehr zu sagen, standen eine Weile nebeneinander, und dann sagte Busbeck für sich: Jetzt auch Max. Mich wundert nur, daß es nicht schon früher passierte, wie bei den andern. Während sie sich in gemeinsamem Entschluß dem Sofa zuwandten, sagte die Frau des Malers: Max arbeitet, er steht am Graben hinterm Garten.

      Das war schon abgewandt gesprochen und enthielt für meinen Vater gleichermaßen Hinweis wie Verabschiedung, worauf ihm nichts anderes mehr übrigblieb, als die Stube zu verlassen, nachdem er mit einem Achselzucken angedeutet hatte, wie sehr er seine Mission bedaure und wie wenig er selbst mit der ganzen Sache zu schaffen habe. Er schnappte sich seinen Umhang vom Ständer, stieß mich an, und wir beide gingen hinaus.

      Langsam bewegte er sich an der kahlen Front des Hauses entlang, eher bekümmert als selbstsicher, stieß die Gartenpforte auf, stand jetzt im Schutz der Hecken und setzte seine Lippen in Tätigkeit, ließ sie Worte und ganze Sätze vorsorglich probieren, wie so oft, wie immer, wenn ihm eine Begegnung mehr als das Übliche an Sprache abzuverlangen drohte, ging dann zwischen den gelockerten und aufgeräumten Beeten, an dem strohgedeckten Gartenhaus vorbei zum Graben, der Bleekenwarf umschloß, einem schilfgesäumten ruhenden Gewässer, das die Einsamkeit des Anwesens erhöhte.

      Da stand der Maler Max Ludwig Nansen.

      Er stand auf der geländerlosen Holzbrücke und arbeitete im Windschutz, und weil ich weiß, wie er arbeitete, möchte ich ihn nicht ohne Vorbereitung unterbrechen, indem ich meinen Vater dazu bringe, ihm auf die Schulter zu tippen, ich möchte die Begegnung verzögern, weil es kein beliebiges Zusammentreffen ist und ich zumindest erwähnen will, daß der Maler acht Jahre älter war als mein Vater, kleiner von Wuchs, wendiger, unbeherrschter, vielleicht auch listiger und starrsinniger, obwohl sie beide ihre Jugend in Glüserup verbracht hatten. Glüserup: Herrje.

      Er trug einen Hut, einen Filzhut, den er tief in die Stirn zog, so daß die grauen Augen im geringen, aber unmittelbaren Schatten der Krempe lagen. Sein Mantel war alt, am Rücken durchgescheuert, es war der blaue Mantel mit den unerschöpflichen Taschen, in denen er, wie er uns einmal drohend sagte, sogar Kinder verschwinden lassen konnte, wenn sie ihn bei der Arbeit störten. Diesen graublauen Mantel trug er zu jeder Jahreszeit, draußen und drinnen, bei Sonne und bei Regen, womöglich schlief er auch in ihm; jedenfalls gehörte der eine zum andern. Manchmal allerdings, an gewissen Sommerabenden, wenn sich über dem Watt die schwerfälligen Konvois der Wolken versammelten, konnte man auch den Eindruck haben, daß es lediglich der Mantel und nicht der Maler war, der da den Deich entlangwanderte und den Horizont inspizierte.

      Was der Mantel nicht verbarg, das war nur ein Stück der zerknitterten Hose, und das waren die Schuhe, altmodische, aber sehr teure Schuhe, die bis zu den Knöcheln reichten und einen schmalen, schwarzen Wildledereinsatz hatten.

      Wir waren es gewohnt, ihn so zu treffen, und so fand ihn auch mein Vater vor, der hinter der Hecke stand und, wie ich glaube, zufrieden gewesen wäre, wenn er nicht dort hätte stehen müssen, zumindest aber ohne den Auftrag, ohne das Papier in seiner Brusttasche und nicht zuletzt ohne Erinnerungen. Mein Vater beobachtete den Maler. Er beobachtete ihn nicht gespannt, nicht mit berufsmäßiger Aufmerksamkeit.

      Der Maler arbeitete. Er hatte etwas mit der Mühle vor, mit der zerfallenden Mühle, die unbeweglich und flügellos im April stand. Leicht über ihren


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