Wir müssen über Rassismus sprechen. Robin J. DiAngelo

Wir müssen über Rassismus sprechen - Robin J. DiAngelo


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ich E-Mails von Menschen of Color, die mir schrieben, ich habe genau die Erfahrungen geschildert, die sie bei ihren Versuchen gemacht hätten, mit weißen Menschen über Rassismus zu sprechen, und sie drängten mich, den Artikel in ihrer Landessprache zu veröffentlichen. »Bitte«, schrieben viele, »kommen Sie her und helfen Sie uns, diese weißen Menschen aufzuklären.«

      White Supremacy (»weiße Suprematie«), also der Glaube an die vermeintlich naturgegebene Überlegenheit weißer Menschen, ist eine relativ neue Vorstellung, die sich in den Vereinigten Staaten als Rechtfertigung für die Versklavung verschleppter Afrikaner entwickelt hat (siehe Kapitel 2). Aber heutzutage zirkuliert diese Ideologie weltweit und hat globale Auswirkungen (allein schon der Konsum amerikanischer Spielfilme und Medien verbreitet tendenziöse Rassenvorstellungen). Die spezifische Geschichte mag von Land zu Land variieren, aber das Ergebnis ist immer das gleiche: institutionalisierte Vorherrschaft und Vorteile weißer Menschen, die mit typischer Empfindlichkeit reagieren, wenn beides benannt oder infrage gestellt wird.

      Inzwischen habe ich meine Arbeit in Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien und Südafrika vorgestellt. Ich stelle Recherchen an, bevor ich sie präsentiere, um kleine Anpassungen vorzunehmen, welche Gruppen diesem Problem am stärksten ausgesetzt sind (z.B. Aborigines in Australien, Angehörige indigener Völker in Kanada, schwarze Menschen in Südafrika) und welche Erzählungen am populärsten sind, um diese Stoßrichtung des weißen Suprematismus abzustreiten (»Apartheid ist seit fünfundzwanzig Jahren vorbei! Heute bestimmen Schwarze alles!«). Aber der Rahmen ist überall derselbe. Manche weißen Menschen räumen zwar ein, dass ihnen diese Dynamiken vertraut sind, aber viele leugnen sie. »Rassismus ist ein amerikanisches Problem. Hier haben wir keinen Rassismus«, heißt es immer wieder. Dagegen reagieren die meisten Menschen of Color in diesen unterschiedlichen Umfeldern erleichtert, wenn eine weiße Person die Empfindlichkeit der Weißen beim Namen nennt und die Rassismuserfahrungen der Betroffenen anerkennt. Dass Weiße die rassistisch geprägten Realitäten leugnen, die Menschen of Color schildern, ist ein Muster, das außerhalb der Vereinigten Staaten ebenso zu finden ist wie in den USA. In Wirklichkeit gilt, je weniger über Rassismus gesprochen wird, umso tiefer gründet das Verhalten, das Weiße empfindlich auf Rassismusdebatten reagieren lässt.

      Dass Weiße ihren Rassismus und ihre Privilegien verleugnen, beruht auf diversen dünkelhaften Vorstellungen über das Weißsein (die in diesem Buch eingehend erörtert werden): Individualismus; Exzeptionalismus; Anspruch auf die Komfortzone, die mit der Zugehörigkeit zur weißen »Rasse« einhergeht; Rassismus als deren Problem zu sehen und jegliches Hinarbeiten auf Rassengerechtigkeit den Menschen of Color aufzubürden. Angesichts dieser selbstgefälligen Einstellungen fordere ich deutsche Leser und Leserinnen in zweierlei Hinsicht zum Handeln auf. Erstens: In Deutschland manifestiert sich tatsächlich Rassismus, und zwangsläufig sind die Menschen dort von dessen Kräften geprägt. Sich nicht bewusst zu sein, wie Rassismus im eigenen Umfeld am Werk ist, heißt keineswegs, dass es ihn dort nicht gibt. Nur wer von der Prämisse ausgeht, dass Rassismus in Deutschland eine Realität ist, kann daran arbeiten, ihn zu erkennen und zu begreifen. Zweitens: Brechen Sie aus der Gleichgültigkeit gegenüber den Privilegien Weißer und aus der damit verbundenen Komfortzone aus und engagieren Sie sich. Sie kennen Ihr eigenes Umfeld viel besser ich. Nehmen Sie die nötigen Anpassungen vor und ersetzen Sie beispielsweise »Afroamerikaner« durch »Migranten«, aber nehmen Sie den allgemeinen Rahmen, den ich hier darlege, und fragen Sie nicht: »Trifft er hier zu?«, sondern: »Wie trifft er hier zu?« Das verlagert die Verantwortung und eröffnet die Möglichkeit zu einem Handeln, das uns einer für alle Bevölkerungsgruppen gerechten Gesellschaft näher bringt. Wenn wir uns weigern, das Problem auch nur zu sehen, können wir es nicht angehen.

      Vorbemerkung zur amerikanischen Ausgabe

      Identitätspolitik

      Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden gegründet in der erklärten Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind. Dennoch begann die Nation mit dem versuchten Genozid an indigenen Völkern und mit dem Diebstahl ihres Landes. Der amerikanische Wohlstand baute auf der Arbeit verschleppter, versklavter Afrikaner und ihrer Nachkommen auf. Frauen wurde das Wahlrecht bis 1920 versagt, schwarzen Frauen sogar bis 1965. Der Begriff »Identitätspolitik« richtet den Blick auf die Barrieren, auf die bestimmte Gruppen in ihrem Kampf um Gleichheit stoßen. Wir sind vom Ideal der Gleichheit noch weit entfernt, aber alle Fortschritte, die wir bislang erzielt haben, sind durch Identitätspolitik zustande gekommen.

      Die Identitäten der Menschen, die in den Vereinigten Staaten an den Tischen der Macht sitzen, sind erstaunlich gleich geblieben: weiß, männlich, zur Mittel- oder Oberschicht gehörig, ohne körperliche Beeinträchtigungen. Auch wenn man die Anerkennung dieses Umstands als »politische Korrektheit« abtun mag, ist er doch eine Tatsache. Die an diesen Tischen getroffenen Entscheidungen haben Auswirkungen auf das Leben von Menschen, die nicht dort sitzen. Ihr Ausschluss durch diejenigen, die am Tisch sitzen, ist nicht von einem Vorsatz abhängig: Wir müssen einen Ausschluss gar nicht beabsichtigen, damit die Ergebnisse unseres Handelns ausschließend wirken. Es ist zwar immer eine implizite Voreingenommenheit im Spiel, da alle Menschen voreingenommen sind, aber Ungleichheit kann auch schlicht aus Homogenität erwachsen. Wenn ich mir der Barrieren, auf die andere Menschen stoßen, nicht bewusst bin, werde ich sie nicht wahrnehmen und erst recht nicht motiviert sein, sie zu beseitigen. Und wenn diese Barrieren einen Vorteil darstellen, auf den ich Anspruch zu haben meine, bin ich ebenfalls nicht motiviert, sie zu beseitigen.

      Alle Fortschritte, die wir in den USA im Bereich der Bürgerrechte gemacht haben, wurden durch Identitätspolitik erreicht: Frauenwahlrecht, die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, die Gleichstellung von Männern und Frauen in staatlichen Bildungsprogrammen (§ 9), die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen auf Bundesebene. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 war die weiße Arbeiterklasse ein wichtiges Thema. All das sind Ausdrucksformen der Identitätspolitik.

      Nehmen wir das Frauenwahlrecht. Wenn Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, versteht es sich von selbst, dass sie es sich nicht einräumen können. Und sie können bei Wahlen eindeutig nicht für ihr Wahlrecht stimmen. Wenn Männer sämtliche Mechanismen kontrollieren, die Frauen vom Wahlrecht ausschließen, sowie alle Mechanismen, die diesen Ausschluss aufheben könnten, müssen Frauen von Männern Gerechtigkeit fordern. Über das Wahlrecht von Frauen und die Notwendigkeit, dass Männer es ihnen zugestehen, lässt sich nicht diskutieren, ohne Frauen und Männer zu benennen. Die Gruppen, die auf Barrieren stoßen, nicht zu benennen, dient nur denjenigen, die bereits Zugang zu den jeweiligen Rechten haben, denn das unterstellt, der Zugang, den die herrschende Gruppe besitze, sei universell. Wenn man uns lehrt, Frauen hätten 1920 das Wahlrecht erhalten, ignorieren wir, dass damals weiße Frauen uneingeschränktes Wahlrecht erhielten und weiße Männer es ihnen zugestanden. Erst in den sechziger Jahren bekamen alle Frauen – ungeachtet ihrer »Rasse« – durch den Voting Rights Act in den Vereinigten Staaten ein uneingeschränktes Wahlrecht. Klar zu benennen, wer Zugang zu Privilegien hat und wer nicht, bestimmt die Ausrichtung unserer Bestrebungen, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen.

      Dieses Buch ist unmissverständlich in Identitätspolitik verwurzelt. Ich bin weiß, befasse mich mit einer unter Weißen verbreiteten Dynamik und richte mich hauptsächlich an ein weißes Publikum. Wenn ich »wir« sage, meine ich das weiße Kollektiv. Dieser Sprachgebrauch mag weiße Leser und Leserinnen irritieren, weil von uns so selten verlangt wird, in Rassenkategorien über uns oder andere Weiße nachzudenken. Aber statt angesichts dieses Unbehagens den Rückzug anzutreten, können wir uns darin üben, unsere Belastbarkeit für die kritische Analyse weißer Identität zu stärken – das ist ein notwendiges Gegengift gegen weiße Fragilität. Allerdings wirft das ein weiteres in der Identitätspolitik verwurzeltes Problem auf: Indem ich mich als Weiße an ein überwiegend weißes Publikum wende, stelle ich wieder einmal weiße Menschen und die Stimme der Weißen in den Mittelpunkt. Ich habe keinen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden, denn als Insider kann ich die Erfahrung Weißer so ansprechen, dass sie vielleicht schwieriger zu leugnen ist. Obwohl ich also die weiße Stimme ins Zentrum rücke, nutze ich meinen Insider-Status auch, um gegen Rassismus vorzugehen. Dies nicht zu tun, würde bedeuten, den Rassismus aufrechtzuerhalten, und das ist inakzeptabel. Es ist ein Sowohl-als-auch, mit dem ich leben muss. Überhaupt geht es nicht darum, dass meine Sichtweise


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