Wir müssen über Rassismus sprechen. Robin J. DiAngelo

Wir müssen über Rassismus sprechen - Robin J. DiAngelo


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wäre. Selbstverständlich wurde mir klargemacht, dass sie bei manchen Menschen von Bedeutung ist, aber wenn darüber gesprochen wurde, betraf es deren »Rasse«, nicht meine. Eine entscheidende Komponente rassenübergreifender Kompetenz besteht jedoch in der Fähigkeit, das Unbehagen darüber, dass man unter diesen Kriterien gesehen wird, auszuhalten und davon ausgehen zu müssen, dass die »Rasse« wichtig ist (was tatsächlich der Fall ist). Als Angehörige einer »Rasse« wahrgenommen zu werden, ist ein verbreiteter Auslöser für weiße Fragilität. Daher müssen wir Weißen zur Stärkung unserer Belastbarkeit uns als Erstes der Herausforderung stellen, unsere »Rasse« zu benennen.

      Unsere Meinungen sind uninformiert

      Noch nie bin ich einer weißen Person begegnet, die keine Meinung zum Rassismus gehabt hätte. Es ist kaum möglich, in den Vereinigten Staaten – oder in einer anderen Kultur mit einer westlichen Kolonialgeschichte – aufzuwachsen oder dort längere Zeit zu verbringen, ohne eine Meinung zum Rassismus zu entwickeln. Und Weiße haben tendenziell dezidierte Meinungen dazu. Aber Rassenbeziehungen sind ungemein komplex. Wir müssen bereit sein, in Betracht zu ziehen, dass unsere Meinungen zwangsläufig uninformiert und sogar ignorant sind, wenn wir uns nicht bewusst und fortwährend damit auseinandergesetzt haben. Aber wie kann ich behaupten, die Meinungen weißer Menschen, die ich gar nicht kenne, seien höchstwahrscheinlich ignorant? Das kann ich unterstellen, weil nichts in der Mainstream-Kultur uns die Informationen liefert, die für ein nuanciertes Verständnis der wohl komplexesten und beständigsten gesellschaftlichen Dynamik der letzten Jahrhunderte notwendig ist.

      So kann ich in den USA als qualifiziert für die Leitung einer kleineren oder größeren Organisation gelten, selbst wenn ich nicht über das geringste Verständnis für die Sichtweisen oder Erfahrungen von Menschen of Color verfüge, so gut wie keine Beziehungen zu ihnen habe und praktisch keinerlei Fähigkeiten besitze, mich kritisch mit dem Thema »Rasse« auseinanderzusetzen. Ich kann ein Hochschulstudium absolvieren, ohne je über Rassismus zu diskutieren. Ich kann Jura studieren, ohne je über Rassismus zu sprechen. Ich kann Lehrerin werden, ohne mir je Gedanken über Rassismus zu machen. Wenn ich ein als progressiv geltendes Studienfach wähle, muss ich vielleicht ein Pflichtseminar zur »Diversität« belegen. Eine Handvoll von Lehrkräften haben vermutlich jahrelang darum gekämpft, dass dieses Seminar eingerichtet wurde, wahrscheinlich gegen den Widerstand der meisten weißen Kollegen. In diesem Diversitätsseminar lesen wir vielleicht Texte »ethnischer« Autoren und erfahren etwas über Helden und Heldinnen verschiedener Gruppen of Color, allerdings ist keineswegs garantiert, dass wir auch über Rassismus diskutieren.

      Wenn wir tatsächlich offen und ehrlich über »Rasse« zu sprechen versuchen, tritt sehr bald die Empfindlichkeit Weißer zutage, denn wir stoßen auf Schweigen, Abwehr, Grundsatzerklärungen, Beschwichtigungen und andere Formen von Widerstand. Das sind keine natürlichen Reaktionen, vielmehr sind hier gesellschaftliche Kräfte am Werk, die uns am Erwerb der Kenntnisse hindern, die erforderlich sind, damit wir uns produktiver mit dem Thema »Rasse« auseinandersetzen, und sie erfüllen höchst effektiv die Funktion, die Rassenhierarchie aufrechtzuerhalten. Zu diesen Kräften gehören die Ideologie des Individualismus und der Meritokratie, die nicht repräsentativen Darstellungen von Menschen of Color in den Medien, die faktische Trennung der »Rassen« in Schulen und Wohnvierteln, die Darstellung des Weißseins als Ideal, eine tendenziöse Geschichtsschreibung, Witze, Tabus und Verbote, offen über »Rasse« zu sprechen, sowie die Solidarität unter Weißen.

      Die Kräfte des Rassismus zu durchbrechen, ist eine fortwährende, lebenslange Aufgabe, da die Verhältnisse, die uns in einem rassistischen Rahmen konditionieren, ständig fortwirken. Unser Lernprozess wird nie enden. Aber unsere vereinfachende Definition von Rassismus – als bewusste Akte der Rassendiskriminierung, begangen von Einzelpersonen, die jenseits der moralischen Wertegemeinschaft stehen – vermittelt uns das sichere Gefühl, wir seien nicht Teil des Problems und unser Lernprozess sei daher abgeschlossen. Die Behauptungen, die wir als Belege anführen, sind nicht plausibel. Jeder hat wohl schon mal Sätze gehört wie: »Man hat mir beigebracht, alle Menschen gleich zu behandeln«, oder: »Man muss den Leuten nur beibringen, sich gegenseitig zu respektieren, und das fängt zu Hause an.« Solche Äußerungen beenden für gewöhnlich die Diskussionen und die Lernprozesse, die bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema entstehen könnten. Zudem sind sie für die meisten Menschen of Color wenig überzeugend und erklären lediglich ihre Erfahrungen für null und nichtig. Viele Weiße begreifen den Sozialisationsprozess einfach nicht, und das ist das nächste Problem.

      Wir verstehen die Sozialisation nicht

      Wenn ich mit Weißen über Rassismus spreche, sind ihre Reaktionen so vorhersehbar, dass ich manchmal den Eindruck habe, wir alle zitieren Textzeilen aus einem gemeinsamen Drehbuch. In gewisser Weise ist das tatsächlich der Fall, weil wir Akteure in einer gemeinsamen Kultur sind. Einen wichtigen Anteil an der Entstehung des weißen Drehbuchs hat der Umstand, dass wir uns für höchst individuelle Einzelwesen halten und darüber hinaus glauben, objektiv zu sein. Wenn wir die Empfindlichkeit Weißer begreifen wollen, müssen wir zu verstehen beginnen, warum wir beides nicht, oder nur teilweise, sind. Wir müssen anfangen, die Kräfte der Sozialisation zu begreifen.

      Unsere Wahrnehmungen und Erlebnisse ergeben durch unsere spezielle kulturelle Sichtweise für uns einen Sinn. Diese Sichtweise ist weder universell noch objektiv, aber ohne sie könnte keine menschliche Gesellschaft funktionieren. Diesen kulturellen Rahmen zu analysieren, kann in der westlichen Kultur eine besondere Herausforderung sein, eben weil sie von zwei Schlüsselideologien geprägt ist: Individualismus und Objektivität. Der Individualismus behauptet, jedes Individuum sei einzigartig und unterscheide sich von allen anderen auch innerhalb seiner sozialen Gruppen. Hinter dem Objektivitätsgedanken steckt die Behauptung, dass es möglich sei, sich frei zu machen von jeglicher Voreingenommenheit. Diese Ideologien machen es weißen Menschen überaus schwer, die kollektiven Aspekte ihrer Erfahrungen zu analysieren.

      Individualismus ist eine Erzählung, die die Vorstellung erzeugt, verbreitet, reproduziert und stärkt, jeder von uns sei ein einzigartiges Einzelwesen und die Zugehörigkeit etwa zu einer »Rasse«, Schicht oder einem Geschlecht sei für unser gesellschaftliches Leben irrelevant. Der Individualismus behauptet, es gebe für den individuellen Erfolg keine Hindernisse, und ein Scheitern habe seinen Grund nicht etwa in den gesellschaftlichen Strukturen, sondern im Charakter des Einzelnen. Selbstverständlich nehmen wir nach »Rasse«, Gender, Schicht und anderen Kategorien unterschiedliche Positionen ein, die unsere Chancen im Leben auf eine keineswegs natürliche, freiwillige oder zufällige Weise beeinflussen. Chancen sind nicht gleichmäßig auf »Rassen«, Schichten und Geschlechter verteilt. Irgendwie wissen wir, dass Bill Gates’ Sohn mit Möglichkeiten geboren wurde, die ihm im Laufe seines Lebens nützen werden, ganz gleich, ob er nun mittelmäßig oder besonders talentiert ist. Doch obwohl Gates’ Sohn eindeutig unverdiente Vorteile genießt, klammern wir uns an die Ideologie des Individualismus, wenn wir über unsere eigenen unverdienten Vorteile nachdenken sollen.

      Ungeachtet unserer Einwände, gesellschaftliche Gruppen spielten keine Rolle und für uns seien alle Menschen gleich, wissen wir nur zu gut, dass ein Mensch, der nach der herrschenden Kultur als Mann definiert ist, andere Erfahrungen macht als eine Frau. Wir wissen, dass es ein Unterschied ist, ob wir als alt oder jung, reich oder arm, körperlich fit oder beeinträchtigt, homosexuell oder heterosexuell und so fort gelten. Die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen spielt eine Rolle, die jedoch keineswegs naturgegeben ist, wie man uns oft glauben machen will. Vielmehr lernen wir, dass sie wichtig sind, und die ihnen zugeschriebene gesellschaftliche Bedeutung sorgt für unterschiedliche Lebenserfahrungen. Diese gesellschaftlichen Bedeutungen werden uns auf vielfältige Weise durch ein breites Spektrum von Menschen und Medien vermittelt. Es ist ein Training, das sich nach unserer Kindheit lebenslang fortsetzt. Vieles läuft dabei nonverbal ab, indem wir beobachten und uns mit anderen vergleichen.

      Wir werden kollektiv in unsere Gruppen hineinsozialisiert. In der Mainstream-Kultur erhalten wir alle die gleichen Botschaften, was diese Gruppen bedeuten und warum die Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine andere Erfahrung vermittelt als die Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe. Wir wissen, dass es »besser« ist, zu dieser Gruppe, statt zu jener anderen zu gehören, also etwa jung, statt alt, körperlich fit, statt beeinträchtigt,


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