Wir müssen über Rassismus sprechen. Robin J. DiAngelo

Wir müssen über Rassismus sprechen - Robin J. DiAngelo


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anderen Grund einfach nicht verdient. Ideologien, die verschleiern, dass Rassismus ein gesellschaftliches System der Ungleichheit ist, sind erschreckend stabil, denn sobald wir unsere Stellung in der Rassenhierarchie erst einmal akzeptieren, erscheint sie uns völlig natürlich und schwer infrage zu stellen, auch wenn wir dadurch benachteiligt werden. Auf diese Weise ist nur sehr wenig äußerer Druck erforderlich, um Menschen an ihrem Platz zu halten, denn sobald sie die Rationalisierungen der Ungleichheit verinnerlicht haben, erhalten beide Seiten die Beziehung aufrecht.

      Rassismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Es geht nicht um einzelne Taten oder Personen. Rassismus wechselt auch nicht die Richtung und nützt einmal Weißen und ein anderes Mal Menschen of Color. Die Richtung der Machtausübung zwischen Weißen und Menschen of Color ist das Produkt der Geschichte, die über Generationen tradiert und ideologisch gerechtfertigt wurde. Rassismus unterscheidet sich von individuellen Rassenvorurteilen und Diskriminierung durch die historische Akkumulation und den fortwährenden Einsatz institutioneller Macht, um Vorurteile zu bestärken und diskriminierendes Verhalten mit weitreichenden Auswirkungen systematisch durchzusetzen.

      Menschen of Color mögen ebenfalls Vorurteile gegen Weiße haben und sie diskriminieren, aber ihnen fehlt die gesellschaftliche und institutionelle Macht, diese Einstellungen in Rassismus zu übersetzen. Die Auswirkungen ihrer Vorurteile sind für Weiße temporär und kontextabhängig. Dagegen haben Weiße die gesellschaftlichen und institutionellen Positionen inne, die es ihnen erlauben, ihre Rassenvorurteile auf eine Weise in Gesetze, Politik und Praktiken einfließen zu lassen, wie es Menschen of Color nicht möglich ist. Eine Person of Color mag sich weigern, mich in einem Laden zu bedienen, sie kann jedoch keine Gesetze durchbringen, die mir und meinesgleichen den Kauf eines Hauses in einem bestimmten Viertel verbieten.

      Auch Menschen of Color können Vorurteile gegen ihresgleichen und andere Gruppen of Color haben und sie diskriminieren, aber diese Voreingenommenheit stärkt letztlich ihre Unterdrückung und somit das System des Rassismus, das Weißen nützt. Rassismus ist eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die sich auf Gruppenebene vollzieht. Wenn ich sage, nur Weiße können rassistisch sein, meine ich, dass in den Vereinigten Staaten nur Weiße die kollektive gesellschaftliche und institutionelle Macht und die Vorrechte gegenüber Menschen of Color besitzen. Umgekehrt verfügen Menschen of Color nicht über solche Macht und Vorrechte gegenüber weißen Menschen.

      Viele Weiße glauben, Rassismus gehöre der Vergangenheit an. Aber auch weiterhin existiert die Ungleichheit zwischen Weißen und Menschen of Color in allen Institutionen der Gesellschaft und nimmt in vielen Fällen nicht ab, sondern zu. Aufgrund der praktisch getrennten Lebensräume der verschiedenen »Rassen« ist sie für Weiße oft nicht erkennbar und daher einfach zu leugnen, aber sie ist von zahlreichen staatlichen und nicht staatlichen Stellen ausführlich dokumentiert, unter anderem durch das US Census Bureau, die Vereinten Nationen, Forschungsprojekte wie das UCLA Civil Rights Project und das Metropolis Project sowie durch gemeinnützige Organisationen wie die National Association for the Advancement of Colored People und die Anti-Defamation League.[17]

      Die Philosophin Marilyn Frye verwendet zur Beschreibung der ineinandergreifenden Unterdrückungsmechanismen das Bild eines Vogelkäfigs.[18] Wenn man dicht vor einem Vogelkäfig steht und das Gesicht an die Stäbe presst, nimmt man sie gar nicht mehr wahr, sondern hat einen nahezu ungehinderten Blick auf den Vogel. Betrachtet man einen der Stäbe aus der Nähe, kann man die anderen nicht mehr sehen. Basiert das Verständnis des Käfigs auf diesem Blickwinkel, so begreift man vielleicht gar nicht, warum der Vogel nicht einfach diesen einen Stab umfliegt. Man könnte wirklich denken, es gefällt ihm dort, wo er ist.

      Tritt man aber einen Schritt zurück und erweitert sein Blickfeld, so sieht man, dass es viele solcher Stäbe gibt und sie zusammen das Gitter ergeben, das den Vogel an seinem Platz hält. Die Vogelkäfigmetapher hilft uns zu verstehen, warum Rassismus zuweilen so schwer zu erkennen ist: Wir haben nur einen eingeschränkten Blick. Es kommt auf unsere Position an, wie viel wir von dem Käfig sehen können. Wenn wir das nicht berücksichtigen, sind wir in unserem Verständnis auf einzelne Situationen, Ausnahmen und anekdotische Belege angewiesen und erkennen das größere Muster nicht. Doch diese Muster sind mittlerweile gut dokumentiert: Menschen of Color werden von Barrieren eingeschränkt und von sozialen Kräften geprägt, die weder zufällig noch vereinzelt noch vermeidbar sind.

      Einzelne Weiße mögen zwar »gegen« Rassismus sein, profitieren aber dennoch von einem System, das Weiße als Gruppe privilegiert. David T. Wellman charakterisiert Rassismus kurz und bündig als »ein System auf ›Rasse‹ basierender Vorteile«.[19] Man bezeichnet dies auch als »weiße Privilegien« (white privilege). Gemeint sind die Vorteile, die Weiße für selbstverständlich halten, die Menschen of Color aber im selben Kontext (Staat, Gemeinde, Arbeitsplatz, Schulen usw.) nicht haben.[20] Eines muss allerdings klar gesagt werden: Die Feststellung, dass Rassismus die Privilegien der Weißen sichert, heißt keineswegs, dass einzelne Weiße nicht zu kämpfen hätten oder nicht auf Hindernisse stoßen würden. Es bedeutet lediglich, dass wir nicht mit den besonderen Hürden des Rassismus konfrontiert sind.

      Wie bei Vorurteilen und Diskriminierung können wir auch bei der Erörterung des Rassismus einen »umgekehrten Rassismus« ausschließen. Definitionsgemäß ist Rassismus ein tief verwurzeltes, historisch gewachsenes System institutioneller Macht. Es ist nicht fließend und ändert seine Richtung nicht, nur weil einigen wenigen Menschen of Color eine glänzende Karriere gelingt.

      Weißsein als Status

      Als weiß wahrgenommen zu werden, ist mehr als die Zuordnung zu einer »Rasse«, es ist ein gesellschaftlicher und institutioneller Status und eine Identität, ausgestattet mit rechtlichen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rechten und Privilegien, die anderen verweigert werden. Cheryl Harris, Juristin und Expertin für Critial Race Studies, prägte in Bezug auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteile, die eine Einstufung als weiß mit sich bringt, den Begriff »Weißsein als Rechtsgut« (whiteness as property). Sie zeichnete nach, wie sich das Konzept des Weißseins im Laufe der Rechtsgeschichte entwickelte:

      Indem Weißsein einen tatsächlichen Rechtsstatus erhielt, wurde ein Aspekt der Identität in einen externen Besitz verwandelt und Weißsein von einer privilegierten Identität zu einem verbrieften Recht erhoben. Die rechtliche Konstruktion des Weißseins definierte und bestätigte wesentliche Aspekte der Identität (wer weiß ist); der Privilegien (welche Vorteile aus diesem Status erwachsen) und der Rechtsgüter (welche Rechtsansprüche aus diesem Status erwachsen). Weißsein bezeichnet und wird verschiedentlich eingesetzt als Identität, Status und Rechtsgut, manchmal einzeln, manchmal kombiniert.[21]

      Harris’ Analyse macht auf anschauliche Weise deutlich, wie Identität und deren Wahrnehmung den Zugang zu »Ressourcen« gewähren oder verweigern kann. Zu diesen Ressourcen gehören etwa Selbstwert, Sichtbarkeit, positive Erwartungen, psychische Freiheit von den Fesseln der »Rasse«, Bewegungsfreiheit und Zugehörigkeitsgefühl – und vor allem das Gefühl, Anspruch auf all diese Elemente zu haben.

      Unter Weißsein können wir uns alle möglichen Aspekte vorstellen – Aspekte, die über bloße körperliche Unterschiede hinausgehen und die damit zusammenhängen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft als weiß definiert zu sein, und welche materiellen Vorteile daraus erwachsen. Statt wie üblich in den Blick zu nehmen, wie Rassismus Menschen of Color schadet, betrachten wir, wenn wir das Weißsein in den Mittelpunkt stellen, wie Rassismus die Stellung weißer Menschen hebt.

      Weißsein beruht auf einer Grundprämisse: Es definiert Weiße als menschliche Norm oder Standard und Menschen of Color als die Abweichung von dieser Norm. Weiße Menschen nehmen Weißsein nicht als privilegierten Status zur Kenntnis, sondern betrachten es als universelle Größe, an der alles zu messen ist. Ihnen fällt es schwer, Weißsein als eine spezifische Eigenschaft zu sehen, die Einfluss auf ihr Leben und ihre Wahrnehmung haben könnte.

      Seit Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten schreiben Menschen of Color wie W.E.B. Du Bois und James Baldwin über das Weißsein. Sie zwingen weiße Menschen dazu, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken und sich damit zu befassen, was es heißt, in einer durch »Rasse« gespaltenen Gesellschaft weiß zu sein. So fragte ein französischer Reporter 1946 den in Frankreich


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