Walpurgisnacht: Niederbayern-Krimi (German Edition). Karoline Eisenschenk

Walpurgisnacht: Niederbayern-Krimi (German Edition) - Karoline Eisenschenk


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nicht die leiseste Ahnung habe. Wenn diese allerdings darin bestand, den Kontakt zu Studenten aufzugeben und mehr Zeit im Büro des Dekans als im Vorlesungssaal zu verbringen und unliebsame Arbeiten mit Freuden an irgendeinen Handlanger zu delegieren, dann verzichtete Cornelius gerne auf dieses Prädikat.

      Er hatte bald herausgefunden, dass von Greifenberg den Namen seiner Frau angenommen hatte und kein Tropfen blauen Bluts in seinen Adern floss. Dennoch: Hätte Deutschland noch eine Monarchie als Staatsform, wäre von Greifenberg der Nächste in der Thronfolge. Zumindest seiner Meinung nach.

      Beifall heischend blickte von Greifenberg jetzt in die Menge seiner applaudierenden Untertanen, und hätte jemand erst in diesem Moment die Große Aula betreten, so wäre er wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, dass eigentlich eine andere Person im Mittelpunkt des Geschehens stand.

      Cornelius spürte ein unangenehmes Ziehen in seinem rechten Arm. Seine Frau Ramona hatte ihn diskret am Unterarm gezwickt, und auf seinen verwunderten Blick antwortete sie mit einer kaum merklichen Kopfbewegung in Richtung Rednerpult.

      Cornelius brauchte einige Sekunden, bis er begriff. Natürlich – er musste aufstehen, sich bei seinem Laudator mit Handschlag bedanken und den überdimensionalen Blumenstrauß in Empfang nehmen, mit dem dieser bereits breit lächelnd auf ihn wartete. Wie hatte er das angesichts all der wohlwollenden Worte nur vergessen können? Leise seufzend stand er auf und ging zum Rednerpult.

      »Im Alter geht es einfach nicht mehr so schnell, nicht wahr?«, schallte es ihm dort in gewohnter Lautstärke entgegen.

      Spontan fiel ihm der Ausspruch eines befreundeten Kollegen aus der Archäologie ein, den dieser vor einiger Zeit so treffend geäußert hatte: »Professor von Greifenberg bewegt sich mit der Grazie einer Axt im Walde gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Flegel und Lümmel.«

      Cornelius verspürte große Lust, dieser Gratwanderung hier und jetzt den Garaus zu machen, verbiss sich Ramona zuliebe aber jeden Kommentar.

      Sie kannte Caroline von Greifenberg aus dem Golfclub und war sehr gut mit ihr befreundet und er wollte ihr ein Spießrutenlaufen beim anschließenden Sektempfang ersparen. Von Greifenberg blieb noch ein paar Sekunden hinter dem Podium stehen, offenbar nicht gewillt, seinen Platz dort kampflos aufzugeben. Aber schließlich musste er sich doch eingestehen, dass es in diesem Augenblick tatsächlich eine Person gab, die ausnahmsweise wichtiger war, und er räumte das Feld.

      »Noch zwei Jahre, dann haben Sie das letzte Wort«, gab ihm Cornelius mit auf den Weg und bemerkte zu seiner Freude, dass von Greifenberg für einen Augenblick nicht zu wissen schien, wie er die Bemerkung einordnen sollte. Eine der beiden Sekretärinnen eilte Cornelius zu Hilfe und befreite ihn von der soeben überreichten Blumenpracht, indem sie diese auf seinen frei gewordenen Stuhl legte.

      Und dann war es endlich Zeit für seine Rede, seinen ganz persönlichen Abschied …

      *

      Sascha Eichinger hatte den iPod auf volle Lautstärke aufgedreht, um damit den Lärm des Traktors übertönen zu können. Es gelang trotz der schützenden Kopfhörer nicht ganz, und so war der Bassgitarre von Sunrise Avenue ein unterschwelliges, aber stetiges Brummen des Motors beigemischt. Er wusste, dass er für den Rest des Tages wieder einen leisen Pfeifton in den Ohren verspüren würde und sich dieser doppelten Schallbelastung eigentlich nicht aussetzen sollte. Aber heute hatte er keine Lust, vernünftig zu sein und wollte auch nicht auf die gebetsmühlenartigen Reden seiner Mutter hören, die immer um ihn herumschwirrte wie eine ihrer Hennen um ein noch nicht ausgebrütetes Ei.

      Außerdem half ihm die Musik, sich auf das Fahren und die Kontrollblicke in den Rückspiegel und die beiden Außenspiegel zu konzentrieren, die notwendig waren, um den mächtigen Pflug im Auge zu behalten, der hinter ihm gleichmäßige Furchen in den Ackerboden grub.

      Geschickt wendete er das schwere Gefährt am unteren Ende des Felds, um anschließend wieder zurückzufahren und den Pflug eine weitere Linie ziehen zu lassen. Jetzt würde gleich das schwierigere Manöver kommen, denn der gegenüberliegende Feldrand lag nur etwa einen Meter von der Straße entfernt. Es handelte sich dabei zwar um eine nicht sehr viel befahrene Nebenstrecke, die hauptsächlich von den Bauern der Umgebung benutzt wurde und auf der nicht einmal Fahrbahnmarkierungen angebracht waren, dennoch wollte Sascha sie für seine Wende nicht mit einbeziehen.

      Er wusste, was sein Vater von verschmutzten Fahrbahnen und von den Bauern, die ihre Verunreinigungen nicht entfernten, hielt. Wenn er also nicht seinen Feierabend damit verbringen wollte, die Straßenoberfläche von den Bodenresten zu säubern, musste er besonders vorsichtig umdrehen. Aber eigentlich mochte er diese waghalsigen Wendemanöver, gaben sie ihm doch das Gefühl, den tonnenschweren Traktor samt Pflug fast mühelos zu beherrschen. Und das tat er – seit ihn der Vater mit vierzehn das erste Mal hinter das Steuer gelassen hatte.

      Sascha konnte sich noch immer an dieses unglaubliche Gefühl erinnern, das ihn damals überkommen hatte, so, als wäre es erst gestern gewesen. Und an die Vorwürfe, die seine Mutter seinem Vater gemacht hatte, denn natürlich war sie ihnen eines Tages dahintergekommen. Danach hatten sie versucht, es vor ihr geheim zu halten, was ihnen aber nicht immer gelungen war.

      Erst im letzten Augenblick sah er die Fahrradfahrerin, die plötzlich wie aus dem Nichts im rechten Außenspiegel aufgetaucht war. Abrupt bremste er ab und schaltete die Musik aus. Er hatte vor der Wende mehrmals nach links und rechts geblickt, aber niemanden gesehen. Was zum Teufel hatte sie dort zu suchen? Sascha hupte mehrmals energisch, aber die junge Frau bewegte sich nicht von der Stelle. Erst jetzt erkannte er sie. Wütend stieg er aus der Fahrerkabine.

      »Verdammt noch mal, Tanja, warum fährst du denn so nah an den Pflug ran?«, herrschte er sie an. »Du hast doch gesehen, dass ich gerade umdrehe. Was glaubst du, was passiert, wenn ich dich beim Rückwärtsfahren erwische?«

      Tanja Rohrbach blickte Sascha nur erschrocken an. Als er sah, dass sie leichenblass war, begann seine Wut zu schwinden. »Was machst du denn hier draußen?«, fragte er etwas versöhnlicher, obwohl er sich die Antwort darauf schon denken konnte.

      Tanjas Augen begannen sich sofort mit Tränen zu füllen. Sie ließ das Fahrrad zu Boden fallen, rannte auf ihn zu und schlang beide Arme wie eine Ertrinkende um seinen Hals. »Bitte lass es uns noch einmal miteinander versuchen. Ich will nicht, dass es vorbei ist.«

      Sascha erwiderte die Umarmung nicht, sondern stand einfach nur stocksteif da, unfähig, einen Muskel zu bewegen. »Es geht nicht«, sagte er schließlich leise.

      »Warum denn nicht?«, schluchzte sie. »Du weißt doch, dass ich dich liebe.«

      »Tanja«, begann er und versuchte, sich nicht zu grob aus ihrer Umarmung zu lösen. »Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass ich nichts Ernsthaftes will. Also hör auf, Dinge hineinzuinterpretieren, die es nie gegeben hat.«

      »Aber Menschen ändern sich, wenn sie anderen Menschen begegnen. Wir hatten eine so wunderbare Zeit zusammen. Die kannst du doch nicht einfach wegwerfen.«

      Sascha trat unvermittelt einen Schritt zurück. »Ich hab mich aber nicht geändert. Sieh das doch endlich ein. Es ist vorbei.«

      »Wie kannst du nur so eiskalt sein? Wie kannst du mir das nur antun?«

      »Ich bin nicht eiskalt, sondern nur ehrlich. Das war ich von Anfang an. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe und fahr nach Hause.« Die anfängliche Wut war zurückgekehrt, und ohne eine Antwort von Tanja abzuwarten drehte er sich um und ging zum Traktor zurück.

      »Doch«, hörte er sie plötzlich schreien, »du bist eiskalt! Sonst würdest du mich hier nicht so stehen lassen.« Sie sank wie ein Häufchen Elend neben ihrem Fahrrad auf die Straße und vergrub ihr Gesicht schluchzend in beiden Händen.

      Sascha schüttelte resigniert den Kopf. »Geh nach Hause, Tanja. Ich muss weiterarbeiten.« Er wollte sie nicht in den Arm nehmen, weil er wusste, dass sie die Geste falsch verstehen würde.

      Als er ins Führerhaus zurückgeklettert war, hob Tanja langsam den Kopf und blickte ihn aus tränenüberströmten Augen an. »Fahr du nur weiter«, stieß sie verzweifelt hervor. »Überfahr mich doch am besten gleich.


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