Wessen Erinnerung zählt?. Mark Terkessidis

Wessen Erinnerung zählt? - Mark Terkessidis


Скачать книгу
und wissenschaftliche Bildung« erwachen sah. Die Menschentypen konnten aber auch als Kuriosum auftreten, den Tieren nicht unähnlich. Jede noch beiläufige Begegnung fand ihren Weg in die Bücher. Gerade mal einen Tag verbrachte Humboldt bei Missionaren am Orinoco, konnte danach aber volle zehn Seiten seines Buches füllen mit dem, was ihm diese Weißen über eine ansässige Ethnie erzählten, die sie die »erdfressenden Otomaken« nannten. Insgesamt hat Humboldt über seine Reisen in Südamerika dreißig Bände zusammengetragen. In den letzten Jahren haben Neuausgaben seiner Werke, Bestseller wie Die Vermessung der Welt (Daniel Kehlmann), Sachbücher über Humboldt aus dem Bereich der Romanistik (Ottmar Ette) sowie erfolgreiche neue Biographien (Andrea Wulf) Alexander von Humboldt zum Vordenker von allem und jedem erklärt – einer »anderen Moderne«, der Globalisierung, des kulturvergleichenden Denkens, der interdisziplinären Forschung, einer neuen vernetzten Betrachtungsweise der Natur und der Ökologie. Allerdings ist Humboldts Einfluss auf die Naturwissenschaften – abgesehen von einigen seiner geologischen Beschreibungen – nüchtern betrachtet kaum der Rede wert.

      Antikolonial auf der Weltkugel sitzen

      In den meisten jüngeren Darstellungen wird vor allem darauf hingewiesen, Humboldt sei ein Gegner der Sklaverei und des Kolonialismus gewesen. Allerdings lässt sich diese Gegnerschaft primär aus seinen Tagebüchern extrahieren, politisch geäußert hat er sich zur Sklaverei sehr spät, etwa in seinem Versuch über den politischen Zustand der Insel Kuba 1826. Zu diesem Zeitpunkt hatte England die Sklaverei aber bereits fast zwanzig Jahre abgeschafft und versuchte zugleich, den Handel bei den imperialen Konkurrenten weltweit zu unterbinden. Als kritisches Werk wird auch sein Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien von 1811 gelesen, in dem es um das heutige Mexiko ging. Das Werk war Karl IV. von Spanien gewidmet, dem er überschwänglich für die Reiseerlaubnis und sein großes Interesse an der Vermehrung von Wissen über die überseeischen Besitztümer dankte. Humboldts Haltung war durchweg die eines humanistisch inspirierten königlichen Beraters: »Wie könnte man einem guten König missfallen, wenn man zu ihm von dem Interesse des Staats, von der Vervollkommnung bürgerlicher Verfassung und von den ewigen Wahrheiten spricht, auf denen das Wohl der Menschheit beruht?«

      Aus vielen Bemerkungen lässt sich ableiten, dass Humboldt für eine bessere Behandlung von Indigenen und afrikanischen Sklaven plädierte, direkte Aussagen finden sich aber kaum. Seine Plädoyers haben gewöhnlich instrumentellen Charakter. Nachdem er die zahlreichen Aufstände der Indigenen erwähnt hat, empfahl er dem König: »Es ist daher von größter Wichtigkeit, selbst für die Ruhe der seit Jahrhunderten auf dem Continent der neuen Welt angesessenen Familien, daß man sich mit den Indianern beschäftigte, und sie dem gegenwärtigen Zustand von Barbarei, Verworfenheit und Elend, in welchem sie sich befinden, entreißt.« Was die Sklaverei betraf, so zeigte sich Humboldt über die Situation in Neu-Spanien gar nicht unzufrieden: »Uebrigens werden die Sclaven, welche glücklicherweise in geringer Anzahl in Mexico sind, hier, wie in allen spanischen Besitzungen, etwas mehr von den Gesetzen beschützt, als die N**** in den Colonien andrer europäischen Nationen.«

      Auch in diesen Werken kommen die Ureinwohner nur als Typen vor. Während er seine Reisegefährten, Missionare, Vertreter der Krone oder kreolische Aristokraten als Individuen schilderte, tauchten »die« Ureinwohner nur im Kollektiv auf. Im Gegensatz zu den weißen Kasten Neu-Spaniens, bei deren Beschreibung Humboldt moderne Errungenschaften erwähnte, vegetierten »sie« ausschließlich im Zustand der Verworfenheit dahin. Daher wandte sich der deutsche Reisende auch »ihren« kulturellen Leistungen in der Vergangenheit zu, die, »wenn sie auch schon noch die Kindheit der Kunst verrathen, dennoch auffallende Aehnlichkeiten mit mehrern Denkmalen der civilisirtesten Völker zeigen.« Wie bereits bei Las Casas wird das Unfertige, das Noch-nicht-Zivilisierte der Indigenen herausgestrichen. Deren Kultur existiert niemals in einer eigenen Logik, sondern nur im Vergleich zu den europäischen Hervorbringungen. 1812 veröffentlicht Humboldt ein Buch über Pittoreske Ansichten der Cordilleren und Monumente americanischer Völker, das in seiner Mischung aus Objekt- und Naturbeschreibungen wie eine Art Reiseführer wirkt. Und zwar wie einer jener traditionellen Guide Bleu, die der Semiotiker Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags von 1958 beschrieben hat, eben wie ein Reiseführer, der durch seine Konzentration auf Monumente, Natur und »typische Vertreter« der Einwohnerschaft förmlich die Geschichte aus dem Land saugt. »Die Auswahl der Denkmäler«, betonte Barthes, »unterdrückt zugleich die Realität des Landes und der Menschen, sie berücksichtigt nichts Gegenwärtiges, das heißt Historisches, und damit wird das Denkmal selbst unentzifferbar, also dumm.«

      Tatsächlich befanden sich Humboldts Naturbetrachtungen, seine anthropologischen Beobachtungen ebenso wie seine liberale, »antikoloniale« Haltung keineswegs in Opposition zur spanischen Krone, deren Infrastruktur er ja unentwegt nutzte. Die Jahre, in denen der Deutsche den Kontinent bereiste, waren ungeheuer turbulent. In den spanischen Kolonien hatten sich Unabhängigkeitsbewegungen entwickelt, die zumeist von weißen Abkömmlingen der Aristokratie getragen wurden. Die ganze Situation war hochgradig kompliziert, weil die spanische Krone teilweise liberale Reformen gegen diese Bewegung einsetzte, sich also quasi mit den unteren Kasten gegen die bürgerliche Revolution zu verbünden versuchte. Es wäre ungerecht, Humboldts Haltungen im Rahmen der Zeit nicht auch als fortschrittlich zu bezeichnen, aber ebenso wäre es beschönigend, angesichts der europäischen Expansion und des rassistischen Weltsystems nicht auf seine Verstrickung hinzuweisen. Das ist vor allem dann zu bedenken, wenn Humboldt zusammen mit seinem Bruder Wilhelm als Namensgeber für eine der Universitäten der deutschen Hauptstadt sowie ein repräsentatives Museumsprojekt im neu errichteten Stadtschloss in der Mitte Berlins fungiert. Tatsächlich lässt sich die Ambivalenz Humboldts jeden Tag in Berlin besichtigen, wenn etwa Studierende die Humboldt-Universität von Unter den Linden aus betreten. Dort thront Alexander drei Meter über der Erde auf seinem Denkmal, 1883 enthüllt, und er sitzt auf nichts Geringerem als der Weltkugel selbst. Was könnte eine imperiale/koloniale Haltung deutlicher veranschaulichen?

      Humboldt war eine flamboyante, grenzüberschreitend agierende Persönlichkeit, und seine »Reiseführer« mit ihrer spezifischen Mischung aus Abenteuer, dramatischen Naturschilderungen und Landeskunde hatten in ganz Europa außergewöhnlichen Erfolg. Zudem weckten sie eine ungeheure Neugier auf Südamerika, die keineswegs nur bildungsbürgerlichen Charakter hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war klar, dass die Spanier (ebenso wie die Portugiesen in Brasilien) die Kontrolle über den Kontinent verloren hatten und zugleich die neuen, unabhängigen Staaten chronisch schwach und instabil blieben. Das rief Begehrlichkeiten bei den imperialen Mächten der alten Welt hervor. Allerdings gab es mit den Vereinigten Staaten eine neue Großmacht. Im Dezember 1823 erklärte der damalige Präsident James Monroe den Europäern, dass es ab jetzt zwei politische Sphären gebe und die Zeit des Kolonialismus in der amerikanischen Sphäre, im Norden wie im Süden, vorüber sei. Bei Zuwiderhandlung drohte der US-Präsident den europäischen Mächten mit militärischen Antworten. So konnten die USA gleichzeitig antikolonial und imperial auftreten – sie stellten sich zum einen an die Seite der Unabhängigkeitsbewegungen, zum anderen begründeten sie eine eigene Sphäre des Einflusses. Das eigene Eingreifen in Südamerika ließ sich legitimieren mit der Abwehr der Europäer. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden insbesondere England und Frankreich in dieser Hinsicht als Problem gesehen, doch spätestens mit der sogenannten Venezuela-Krise war hauptsächlich die Rede von der »deutschen Gefahr«.

      Deutsche Ansprüche auf Amerika

      In Deutschland hatte die Neuerfindung Lateinamerikas als quasi unberührte Natur im 19. Jahrhundert in Bildungskreisen eine erhebliche Entdeckerenergie freigesetzt. Die Germanistin Susanne M. Zantop hat in einem Buch von 1999 von »Kolonialphantasien« gesprochen, von einem teilweise gar nicht bewussten »Kolonialkult«, der sich im Drang nach der »Verfügungsgewalt über fremde Ländereien, Bodenschätze und nicht zuletzt Menschenkörper und Menschenarbeit« ausdrückte. Im Rahmen dieser Phantasien wurde Christoph Kolumbus zum Stoff von Gedichten und Dramen, bei Friedrich Schiller, August Klingemann, Heinrich Bulthaupt oder Friedrich Rückert (Letzterer im Übrigen einer der Begründer der deutschen Orientalistik). Kolumbus wurde darin durchweg als Einzelgänger, unverstandenes Genie und eben Entdecker gefeiert. Dabei wird der Stoff mit der Zeit immer »deutscher«. Plötzlich wird Kolumbus ein deutscher Begleiter beigegeben, der


Скачать книгу