Wessen Erinnerung zählt?. Mark Terkessidis

Wessen Erinnerung zählt? - Mark Terkessidis


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gebaut. 1894 wurde das erste Teilstück zwischen Caracas und Valencia feierlich eröffnet. Doch zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass das Projekt viel mehr Geld verschlingen würde als geplant. Zudem weigerte sich die venezolanische Regierung, die für ihre Beteiligung zu ungünstigen Bedingungen einen Kredit aufgenommen hatte, unter dem Autokraten Cipriano Castro den Schuldendienst zu bedienen. 1901 zeigte sich die deutsche Flotte an der Küste Venezuelas. Gemeinsam mit den ebenfalls von der Zahlungsverweigerung betroffenen Engländern wurde der Einsatz bis hin zu einer Blockade ausgeweitet. 1903 kam es dann in Washington zu Verhandlungen.

      Allerdings war die Reaktion des Deutschen Reiches weniger von klaren Interessen als vielmehr von so etwas wie beleidigter Selbstbehauptung geprägt. Reichskanzler von Bülow, der ja bereits 1897 als Staatssekretär des Äußeren Deutschlands »Platz an der Sonne« eingefordert hatte, sprach im März 1903 im Reichstag davon, Castro habe dem Reich keine andere Wahl gelassen, niemand dürfe mit dem Prestige und der Ehre Deutschlands spielen. Im Ergebnis jedoch gelang es den USA, den deutschen Einfluss massiv zurückzudrängen. Im ökonomischen Sinne erwies sich die Blockade als Desaster, der Handel mit Venezuela kam danach praktisch zum Erliegen. Die Ziele des Eingreifens blieben in Berlin umstritten und unklar. Ganz ähnlich war es bei einer anderen Konfrontation mit den Vereinigten Staaten 1898 vor Manila. Nach der Annexion von Kiautschou in China hatte der Kaiser auch die philippinische Hauptstadt als Stützpunkt ins Auge gefasst und ließ zwischenzeitlich das gesamte Ostasiengeschwader in der Bucht von Manila auflaufen. Dort lag es und wartete hauptsächlich untätig ab, bis die USA im spanisch-amerikanischen Krieg die Philippinen schließlich besetzten und letztlich kolonialisierten.

      Berlin als tropische Metropole

      Solche Episoden machen auch deutlich, dass der Expansionsdrang und der Kolonialismus nicht im Rückblick als funktionierende Systeme betrachtet werden können – gerade das deutsche imperiale Streben wirkt manchmal eher wie eine permanente Abfolge von Unklarheiten, Profilierungssucht, Pannen und Katastrophen. Das ist allerdings kein Grund, dieses Streben kleinzureden oder zu verharmlosen. Selbst die Unklarheiten und Pannen haben erhebliche Opfer gefordert, Opfer, die vergessen wurden. Die lateinamerikanische Seite des deutschen Imperialismus wurde hauptsächlich in der DDR erforscht, an den Universitäten Berlin, Rostock und Leipzig. Durch die Abwicklung der Institute nach der Wende wurden viele der interessanten Arbeiten von Walter Markov, Manfred Kossok, Max Zeuske oder die des heute in Chicago lehrenden Top-Mexikanisten Friedrich Katz einfach vergessen. Diese Lücke macht sich bemerkbar, wenn – zurück zu Humboldt – im nationalen Rahmen prestigeträchtige Projekte entstehen, die sich über die Namensgebung und die Art ihrer Sammlung in die imperiale Geschichte verwickeln – gemeint ist das sogenannte Humboldt-Forum in der Mitte Berlins. Das Forum residiert in den Räumen des neu errichteten Stadtschlosses, der ehemaligen Residenz des Hauses Hohenzollern.

      1950 hatte die DDR-Führung beschlossen, das im Weltkrieg beschädigte Schloss nicht zu restaurieren. Einige Fassadenteile wurden in das Staatsratsgebäude integriert (heute European School of Management and Technology) und auf dem Rest des Geländes der »Palast der Republik« gebaut. Bereits 2002 empfahl eine Expertenkommission, dem neuen Schloss eine auf Preußen zurückweisende Weltläufigkeit beizumischen. Ein Forum sollte hier einziehen, dem die beiden Brüder Humboldt, Wilhelm und Alexander, als Namensgeber dienten. Die Idee bestand daraus, die Sammlungen des »Ethnologischen Museums« und des »Museums für asiatische Kunst« (beide gehören zur »Stiftung Preußischer Kulturbesitz«) hier unterzubringen. Von Beginn an haben sowohl der Wiederaufbau des Stadtschlosses als auch die Konzeption des Humboldt-Forums für heftige Kontroversen gesorgt. Die Planierung des DDR-»Palastes« hatte eine durchaus revanchistische Note, das Stadtschloss erweckte den Eindruck, es würde eine teilweise fragwürdige Vergangenheit glorifizieren, und die Idee des Humboldt-Forums wirkte ebenfalls problematisch.

      Da das Forum die Vielfalt des weltkulturellen Erbes zeigen sollte, erschien Alexander als der eigentliche Pate des Projekts. »Einer der geistigen Väter für einen solchen ›Weltort der Kunst und Kultur‹«, hatte der damalige Leiter des Goethe-Instituts Klaus-Dieter Lehmann 2008 im Rahmen der auf das Forum hinleitenden Ausstellung Die Tropen geschrieben, »ist Alexander von Humboldt, der uns die fernen Kulturen nahegebracht hat und uns deren Gleichwertigkeit belegt hat.« Hermann Parzinger, Präsident des »Preußischen Kulturbesitzes«, betonte 2011: »Alexander symbolisiert die Neugier auf die Welt, eine weltoffene Beschreibung fremder Kulturen, eine Disziplinen überschreitende Erforschung Amerikas.« Schon damals stellte sich die Frage, ob das eigentlich zutrifft. Weder hatte Humboldt in erster Linie über Kultur geforscht, noch hatten seine im kolonialen Kontext entstandenen Beschreibungen eine »Gleichwertigkeit« belegt. Zudem blieb unklar, was mit »fernen« oder »fremden« Kulturen gemeint war.

      Diese Unklarheit des Kulturbegriffs wurde zum Problem, denn das Forum schrieb sich auf die Fahnen, es stehe für den »Dialog der Kulturen«. Wie genau sprechen Kulturen miteinander? In Anthropologie, Ethnologie, Kulturwissenschaften oder auch in der Pädagogik wird seit Jahrzehnten die Vorstellung kritisiert, Kulturen seien abgrenzbare, über die Zeit konstante und verhaltensleitende Einheiten. Miteinander sprechen tun immer Individuen. Die mögen in einer bestimmten Organisation von Alltagsleben, Werten, Erinnerungen und Ritualen leben und sich als Mitglieder von Gruppen wahrnehmen, doch der Kontext wird immer von den Einzelnen interpretiert und über die Zeit verändert. Die unreflektierte Rede vom Dialog lässt sich in vielen Zusammenhängen finden, aber im Fall des Forums stammt sie auch aus dem Kontext des großen Vorbilds am Ufer der Seine in Paris. Dort war 2006 das »Musée du Quai Branly« als Museum für außereuropäische Kunst eröffnet worden – ein Prestigeprojekt des damaligen Präsidenten Jacques Chirac. In Paris hätte die außereuropäische Kunst »eine noble Adresse« erhalten, meinte Alfons Hug, einer der Kuratoren von Die Tropen, nun sei »auch Berlin gefordert, das seine zu tun. Seine überragenden Sammlungen machen aus Berlin eine ›tropische Metropole‹.«

      Die Herkunft der Sammlungen warf offenbar keine Fragen auf, im Gegenteil, mit den Objekten hatte Berlin sich auch die Tropen selbst einverleibt. Nun war das Museum am Quai Branly massiv kritisiert worden, weil es die Objekte in einem »exotischen« Ambiente präsentierte und sie fast ausschließlich von westlichen Sammlern oder Wissenschaftlern beschreiben ließ. Dabei wurde der Kolonialismus kaum thematisiert. In Paris tat man einfach so, als seien die Objekte nun globale Kunst, doch damit kam den Skulpturen, Masken, Thronen oder Schmuckstücken jeder Kontext abhanden. Eine Einbeziehung von Personen, die aus den Regionen stammten, aus denen die Objekte nach Paris gekommen waren, fand nicht statt, obwohl solche Personen in oft nicht geringer Zahl in Paris leben. Was taugte dieses Museum als Vorbild? Offenbar ging es vor allem um den großen Erfolg beim touristischen Publikum.

      Auf einem großformatigen Foto in einem englischsprachigen »Humboldt Mag« von 2017 posierte Hermann Parzinger als einer der Gründungsdirektoren des Forums mit einer indigenen Maske, die von der westkanadischen Küste stammte. Dass die Präsentation eines solchen Objektes durch einen bärtigen weißen Mann in Anbetracht der Geschichte der nordamerikanischen »Indianer« ein unangenehmes Odeur von Raub und Paternalismus haben könnte, kam Parzinger dabei offenbar nicht in den Sinn. Die Maske, erklärte er, symbolisiere Großzügigkeit, und er hoffe, das Humboldt-Forum werde als ein Geschenk gesehen. Die Idee des Geschenks (an die Berlin-Besuchenden) entbehrt nicht einer erheblichen Arroganz. In einer Sitzung des Berliner Kulturausschusses, in dem über das Forum gesprochen wurde, erklärte der damalige Leiter des »Museums für asiatische Kunst«, die Museen in China, Korea, Indonesien seien doch oft recht gleichförmig, weil sie die Museen im Westen nachahmen würden. Insofern sei das Humboldt-Forum eine neue Idee, die dann wieder nachgeahmt werden könnte: »Berlin makes, the world takes.«

      Die Selbstverständlichkeit, mit der die häufig international eher traditionell wirkende deutsche Museologie hier zur Avantgarde erklärt wird und die asiatischen Länder – zum Klischee passend – zu simplen Nachahmern, ist atemberaubend. Und wer sind die »Gäste«, denen hier etwas geschenkt wird? Ist es nicht seltsam, die Geschichte von »fernen Kulturen« zu verschenken? Die erwähnte Maske, so Parzinger, stehe auch für eine enge Kooperation mit »indigenen Partnern, die Nachfahren von denen, die diese Objekte ursprünglich schufen«. Wie diese Kooperation aussieht, kann man einer Image-Broschüre (»So viel Welt mit sich verbinden als möglich«) aus dem Jahr 2013 entnehmen. Dort meinte Parzinger:


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