Boccaccio reloaded. Centino Scrittori
auf den Weg machte, zog ich mich dick an und setzte mir vorsichtshalber einen Mundschutz mit integriertem Filter auf, um einer Infektion zu entkommen. Ich ging zu unserer Haustür, als ich meine Mutter hinter mir noch rufen hörte: „Pass auf dich auf, Schatz, und vergiss bitte nicht, einen neuen Mundschutz aufzusetzen.“ Ich verabschiedete mich und sagte, dass ich mir bereits einen neuen genommen hätte. So öffnete ich die Tür, schloss sie hinter mir und sofort spürte ich, wie die kühle Luft mich umhüllte. Ich atmete tief ein, denn ich war seit Tagen nicht mehr draußen und genoss die frische Luft wie nie zuvor.
Ich lief los und auf meinem Weg zu Tommys Einkaufsladen sah ich erstaunlich viele Menschen, die, mit geknicktem Kopf nach unten, alle mit derselben Geschwindigkeit wie Zombies durch die Straßen liefen. Es dämmerte schon und daher jagten mir die emotionslosen, fahlen und müde wirkenden Gesichter Angst ein. Ein älterer Herr ging gerade an mir vorbei und raunte mir mit rauer und kratziger Stimme zu: „Rette und verschanz dich zuhause, solange du noch kannst.“ Daraufhin hustete er laut und ich ging schnell weiter. Es war weit und breit keine Panik mehr zu spüren, wie noch vor ein paar Wochen, allerdings wusste ich nicht, ob mir dieser Zustand besser gefiel. Vor ein paar Monaten noch hätte ich niemals mit so einer großen Ausbreitung der Krankheit gerechnet, schließlich ist die Viruserkrankung mittlerweile zu einer weltweiten Pandemie geworden und hat somit auch unser Dorf befallen.
Jetzt kam ich am Friedhof vorbei und mir verschlug es mit einem Mal die Sprache, ich blieb stehen und schlug die Hand vor mein Gesicht. Ich sah einen riesigen Wagen, der mich an einen Film über die Pest im Mittelalter erinnerte, den wir einmal im Geschichtsunterricht geschaut haben und der mich damals schon teilweise verstört hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas selbst einmal sehen würde. Denn der Wagen war nicht das Verstörende, sondern die tausend leblosen Körper, die darauf gestapelt waren und gerade mit weiteren Autos und weiteren Wagen auf den Friedhof einbogen. Ein Leichenwagen also, wie er auch zu Zeiten der Pest benutzt wurde. Ich wusste, dass unser großer Friedhof der einzige in unserer Umgebung war, aber dass so viele Menschen an dem Virus starben und ausgerechnet hier beerdigt werden müssen, war mir vorher nicht bewusst. Ich ging weiter und versuchte, das, was ich gesehen hatte, zu vergessen.
Als ich bei Tommys Einkaufsladen ankam, hörte ich schon von draußen ein lautes Geschrei. Daher beschleunigte ich meine Schritte. Die Tür zum Einkaufsladen öffnete automatisch und ich sah, wie zwei ältere Männer sich um die letzten drei Packungen Toilettenpapier stritten. Zwischen den beiden stand Tommy, der Inhaber des Ladens, der kläglich versuchte, die beiden Streithähne auseinanderzuzerren. Ich eilte sofort hin und schaffte es, mit Tommy die beiden Männer zu trennen und zu beruhigen. Tommy ergriff sofort das Wort und gab ihnen laut zu verstehen, dass sie sich in seinem Laden gefälligst zusammenreißen und nicht egoistisch sein sollen, denn schließlich brauchen auch andere Leute noch Toilettenpapier. Dabei fiel mir auf, dass der eine Herr schon vier Packungen Toilettenpapier in seinem Einkaufswagen liegen hatte und außerdem noch jede Menge Konserven, Nudelpackungen und Mehl. Ein Hamsterkäufer also. Ich hatte mir schon in den letzten Wochen Gedanken zu dem Thema „Hamsterkäufe“ gemacht und verstehe einfach nicht, warum die Menschen so egoistisch sein müssen, den anderen einfach alles vor der Nase wegzukaufen. Die Supermärkte und Einkaufsläden werden sowieso nicht schließen, also warum muss man denn dann den ganzen Laden leerkaufen? Während ich so darüber nachdachte, klärten die beiden Männer und Tommy alles und die beiden Kunden zischten mit ihren Einkaufswagen davon.
Tommy bedankte sich daraufhin bei mir, dass ich ihm geholfen hatte, die beiden Männer zu trennen, und erst jetzt fiel mir auf, wie müde und kaputt Tommy auf mich wirkte. Er hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen und sein sonst so herzliches Lächeln war nicht mehr zu sehen. Tommy erzählte mir, dass er in den letzten Tagen schlecht geschlafen habe, da die Leute wie verrückt seien und ihn die ganze Situation unheimlich deprimiere. Es sei schließlich nicht der erste Kampf um Lebensmittel in seinem Laden gewesen, bei dem aggressive, Zombie-ähnliche Kreaturen einander fast die Augen auskratzen und er dazwischengehen muss. Außerdem meint er, dass sich seine Kraft so langsam dem Ende zuneigt und er mittlerweile hoffnungslos sei, da er nicht wisse, wie es weitergehen solle. Wir werden eh alle sterben. Das traf mich. Denn erst jetzt, mit den Eindrücken vom Friedhof, wurde mir bewusst, dass bisher niemand versucht hatte, den Menschen zu vermitteln, wie wichtig es jetzt ist, die Hoffnung beizubehalten und nicht aufzugeben.
Alles schlug auf einmal bei mir ein und ich begann lautstark zu reden. Ich sagte Sachen wie, dass die Situation nicht besser davon werde, wenn man so hoffnungslos mit allem umgehe und das ganze Dorf voll von Negativität sei, sodass die Menschen anfangen sich anzufeinden und es sogar bis zu Prügeleien komme. Es bringe schließlich nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Denn in genau solchen schweren Zeiten sei Solidarität gefragt und wir alle müssen jetzt nun einmal zusammenhalten. Wir müssen zusammen versuchen, gegen die Krankheit zu kämpfen, und dürfen unseren Kampfgeist nicht verlieren. Wir müssen uns alle gegenseitig aufbauen und mit ein wenig Zuversicht, dass diese schwere Zeit bald vorbeigeht, schaffen wir Menschen alles.
Als ich fertig war mit Reden, sah Tommy mich erstaunt und gleichzeitig erschrocken an. Erst jetzt realisierte ich, dass ich einfach drauf los geredet hatte, und mir wurde ganz warm. Tommy fing an zu reden und sagte, dass es endlich jemanden geben müsse, der die Menschen versuchen solle zu beruhigen. Außerdem sollte jemand da sein, der den Menschen klarmacht, wie wichtig Zuversicht, Zusammenhalt und Solidarität in so einer kritischen Zeit seien. Also alles, was ich erwähnt hatte. Nachdem er dies gesagt hatte, schlug er vor, dass ich diejenige sein solle, die den Leuten wieder Hoffnung macht und sie ermutigt. Ich wusste gar nicht, was ich darauf antworten soll und ich konnte es auch gar nicht, da Tommy erneut anfing zu reden und meinte, dass er einen guten Draht zum Bürgermeister unseres Dorfes hätte und ihn sofort anrufen würde. Das tat er dann auch. Ein paar Tage später saßen meine Familie und ich, natürlich noch immer in Quarantäne, zuhause vor dem Fernseher und warteten gespannt darauf, was ich in meiner Rede von gestern zu sagen hatte. Wegen der immer noch andauernden Quarantäne und den Maßnahmen zur Pandemie konnte ich die Rede zur aktuellen Situation nicht öffentlich halten, jedoch wurde sie im Fernsehen ausgestrahlt und angekündigt, sodass jeder in unserem Land sie hoffentlich zu hören bekommen hat. Es ist immer noch verrückt für mich zu wissen, dass ich versucht habe, den Menschen in meinem Land zu vermitteln, was jetzt zu tun sei und wie wir zusammenhalten müssen. Durch die ganzen Eindrücke mit den Zombie-artigen Menschen wurde mir bewusst, wie sehr die Menschen ihren geistigen bzw. mentalen Zustand verändern können, wenn es zu einem Ausnahmezustand kommt.
(Maike Ludwig)
Zehnte Geschichte
Nach dieser Geschichte werden die Ersten langsam etwas unruhig, weil es doch schon etwas später ist. Ich schlage vor, dass wir nach der nächsten Geschichte für heute Schluss machen können, auch weil zehn so eine schöne und runde Zahl sei. Die letzte Geschichte für heute kommt von einem 16-jährigen Jungen. Er nennt sie: „Corona – Ist doch eh alles gelogen!“ und damit fängt er an zu erzählen.
Ich heiße Nikolas und bin 16 Jahre alt. Zurzeit gehe ich in die 11. Klasse des Gymnasiums. Naja, richtig zum Gymnasium gehen kann ich aktuell nicht mehr wirklich. Ihr wisst sicherlich warum: Corona. Meiner Meinung nach ist das alles totaler Blödsinn. Welcher hirnverbrannte Mensch glaubt denn so etwas?! Wie sich herausstellt, ist fast unsere gesamte Gesellschaft hirnverbrannt. Die bleiben alle brav Zuhause. Richtige Systemsklaven sind das. Die verstehen doch gar nicht, was der Staat überhaupt mit uns vorhat! Die wollen doch nur das Bargeld abschaffen und die Pharmaindustrie will mal wieder ihren Profit aus der Angst der Menschen ziehen. Angeblich durchlaufen wir gerade eine Pandemie, aber ich kenne nicht eine Person, die krank ist! Nicht eine! Ich lasse mir so etwas ganz sicher nicht erzählen! Ich mache weiterhin das, was ich will! Ich werde mich mit meinen Freunden treffen, von mir aus auch zu zehnt! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass meiner Oma deswegen überhaupt nichts passieren wird.
„Nikolas?“ „Ja, Mama?“ „Wo willst du denn schon wieder hin?!“ „Ich treffe mich mit Max und Baran.“ „Sag mal, was soll das?! Schon mal was von Corona gehört?! Du kannst dich doch nicht jeden Tag mit Freunden treffen! Und schon gar nicht, wenn es mehr als ein Freund ist und ihr euch nicht an den Mindestabstand haltet! Hast du schon mal an die Konsequenzen davon gedacht?! Du siehst deine Oma fast jeden Tag, was ist, wenn sie sich durch dich