Von Ziegen, vom Fliegen, vom Scheitern und vom Siegen. Max Erich Müller
war am Ende.
„Warum tust du nichts?!“, schrie er verzweifelt, sah zu ihr hinauf und kam angerannt, als er sie in der Suppe rühren sah. Er trat den Kochtopf um und kreischte: „Willst du hier verrecken? Warum hilfst du nicht, das Schiff auf uns aufmerksam zu machen?“
„Weil ich für die sinnvollen Aufgaben zuständig bin“, erwiderte sie ruhig. „Die Suppe hätte uns mehr geholfen als dein Veitstanz am Strand. In der Yacht ist ein Kurzschluss, das Horn macht keinen Mucks.“
Fassungslos starrte er auf die Frau zu seinen Füßen, ließ das Laken aus den Händen gleiten und fiel so langsam neben sie, als wenn man ihm die Luft rausgelassen hätte. Er hielt sich den schmerzenden Schädel und fing leise an zu weinen.
V.
Zwei Tage brauchte er noch, um wegzurennen, zurückzukommen, zu streiten, zu fluchen, zu heulen, zu beten, zu schreien und das ständige Wechselbad zwischen Selbstaufgabe und Anflügen von Zuversicht zu beenden. Dann hatte sie den Eindruck, er sei wieder halbwegs zurechnungsfähig.
„Schaffen wir es?“, fragte sie vorsichtig.
„Hm.“
„Heißt das eher Ja oder Nein?“
„Ja“, erwiderte er nachdenklich, „ich denke, wir schaffen es, weil wir es schaffen müssen.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und ließ den Tränen freien Lauf, die zwischen ihren Fingern in kleinen Bächen über die Handrücken flossen. „Hans- Joachim“, brachte sie schluchzend hervor, „ich bin so froh, dass du das sagst.“ Sie ging auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Ihr molliger Körper zuckte. Sie sammelte sich einen Augenblick, trat dann einen Schritt zurück, lächelte aus verheulten Augen und fragte: „Quellwasser oder Schampus?“
„Haben wir Quellwasser und Champagner?“, fragte er ungläubig.
„Ja, ich habe eine kleine Quelle gefunden und auf der Yacht war nichts so reichlich wie Champagner.“ Sie grinste und hob eine dicke Grassode vom Boden hoch, die auf ein paar quergelegten Stöcken lag. Darunter war ein 50 Zentimeter tiefes Loch, gefüllt mit vielen Champagner-Flaschen und wenigen Lebensmitteln. „Unser Kühlschrank“, präsentierte sie das Werk. „Mit Nahrungsmitteln sieht es schlecht aus. Das meiste, was an Bord war, haben wir schon verbraucht.“
Sie setzten sich unter die schattenspendenden Bäume. Es gab verhältnismäßig kühlen Champagner und die beiden letzten Gläschen Kaviar.
„Dass du so praktisch veranlagt bist“, sagte er und sah ihr zum ersten Mal seit dem Unfall tief und offen in die Augen.
Seit dem Unfall?
Nein, es war viel länger her, seit er sie das letzte Mal so angesehen hatte. „Hast du keine Angst hier?“
„Doch, aber nicht soviel wie bei uns nach 23 Uhr im Park“, grinste sie.
„Es sieht so aus, als ob wir hier nicht so schnell wieder wegkommen werden.“
„Ja“, nickte sie und verlor ein paar Tränen.
„Ich habe mich wie ein Idiot benommen …“
„Du warst mit den Nerven am Ende.“
„Du machst mir keinen Vorwurf?“
„Quatsch.“ Sie schüttelte unwillig den Kopf.
Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie auf den warmen Boden. Ein angenehmer Körpergeruch stieg von ihr auf. Hatte sie schon immer so gut gerochen? Er fuhr mit der Nase an ihrem Hals entlang und über die Wange in ihr Haar. Seine Hand wanderte über die Hüften zwischen ihre Schenkel.
„Hör auf!“, sagte sie energisch, entzog sich ihm und stand ruhig auf. „Ich muss erst wissen, wie wir hier überleben können.“
„So nicht!“, schrie er wie ein trotziger Junge, riss ein paar Grashalme aus und warf sie gegen den leichten Wind in ihre Richtung.
„Sei kein Kind!“ Ihre Stimme war jetzt scharf und energisch. „Bevor die Sonne untergeht, will ich wissen, ob wir hier irgendwas Essbares finden“, sagte sie und stand auf. Du kannst mitkommen oder versuchen, eine Angel zu bauen. Fisch ist immer noch das Naheliegendste.“
Er sah sie dumm an.
Genau diese Klarheit und Stärke waren es gewesen, die ihn einstmals so an ihr fasziniert hatten. Im Laufe ihrer neunjährigen Ehe war irgendwie nichts mehr übrig geblieben von ihrer natürlichen Stärke, aber jetzt, in dieser extremen Situation, kam sie wieder voll zum Vorschein. Oder fiel sie ihm erst hier wieder auf?
Lange blickte er der Frau hinterher, bis der Wald sie ganz verschluckt hatte.
VI
Ziegen hatte sie gefunden.
Eine ganze Herde.
Bestimmt 40 Tiere grasten auf einer Lichtung in der Inselmitte.
Als sie ihm ihre Entdeckung schon von Weitem entgegenrief, sprang er auf, lief ihr entgegen und schlang seine Arme so heftig um sie, dass ihr kurz die Luft wegblieb. Dann tanzten sie Arm in Arm den Tanz der Glückseligen. Ziegen versprachen Milch, Fleisch und vor allem Menschen. Niemals konnte die Herde sich auf diesem Fleckchen Erde frei entwickelt haben. Die Tiere gehörten jemandem und dieser Jemand musste irgendwann kommen, um nach seinen Viechern zu gucken.
Aber wie sollten sie bis dahin von dieser theoretischen Lebensversicherung praktischen Nutzen haben? Lebendige Ziegen lieferten weder Milch in Tüten noch tiefgekühlte Steaks. Man musste sie melken, töten und schlachten, um sie nutzen zu können …
Also doch angeln.
In der Yacht fanden sie ein paar Haken und viele Meter Sehne. Das Material reichte für vier Ruten, die sie aus Stöcken aus dem Wald bastelten. In den Resten der umgetretenen Schildkrötensuppe suchten sie einige Rind- und Kalbfleischstücke, die als Köder dienen mussten. Sie rammten die Ruten tief in den Sandstrand und schwammen mit den Haken ins tiefere Wasser hinaus, um dort zwei von ihnen mit Kieseln beschwert zu Boden sinken zu lassen und zwei mit Holzposen der Strömung zu übergeben.
Auf dem Rückweg wateten sie zur Yacht und Hans-Joachim machte den Versuch, die Technik wieder in Gang zu setzen. Bereits nach zehn Minuten entnahm sie einer wilden Fluchsalve aus dem Unterdeck, dass er erfolglos geblieben war.
Sie blickte auf die Insel.
Es war ein kleines Paradies.
Wie oft hatten sie früher davon gesprochen, dem Stadt- und Berufsleben zu entfliehen und sich auf ein kleines Fleckchen stilles Land zurückzuziehen, wo man wieder ganz bei sich selbst und beieinander sein konnte? War es nicht diese Insel, von der sie damals geträumt hatten?
„Ich habe Hunger“, meldete Hans-Joachim sich zu Wort „und Schmachter.“
Sie schwieg.
„Ich habe Hunger und Schmachter, verdammte Scheiße!“
„Dann solltest du etwas essen und danach eine rauchen.“
„Ich habe aber weder Zigaretten noch einen einzigen elenden Fisch! Ich sitze hier mitten im Meer und habe nicht einen einzigen verdammten Fisch an der Angel!“
Sie schwieg.
„Hey! Sprichst du nicht mit mir oder was?“
„Ich hab auch weder Fisch noch Zigaretten und ich kenne auch kein Geschäft in der Nähe, wo ich beides mal eben besorgen könnte.“
„Willst du mich verarschen?“ Er wirkte bedrohlich.
„Ich will dich nicht verarschen, sondern dir sagen, dass es nichts nützt, wenn wir uns gegenseitig vorjammern, was wir alles nicht haben.“
„Und ich will dir sagen, dass mir deine Klugscheißerei auf den Sack geht!“, rief er, sprang über Bord und kraulte wild in Richtung Strand, obwohl der größte Teil der Strecke maximal bauchtief und gut zu Fuß zu bewältigen war.
VII
„Warst