Von Ziegen, vom Fliegen, vom Scheitern und vom Siegen. Max Erich Müller

Von Ziegen, vom Fliegen, vom Scheitern und vom Siegen - Max Erich Müller


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bis er sich wieder aufrichten konnte.

      Erschöpft blickte er auf die junge Ziege, die er immer noch zwischen seinen Beinen hielt. Er stand auf, hob den leblosen warmen Körper an seine blutverschmierte Brust und ging in Richtung Hardtop.

      Wortlos legte er seiner Frau das Tier vor die Füße.

      XII.

      Grillfleisch und Champagner.

      Die Sonne stand hoch über ihrem Essplatz unter den Bäumen.

      Wortlos nagten sie an ihren Bratenstücken.

      Hans-Joachim fühlte sich ungewohnt.

      Er spürte seinen Körper.

      Er fühlte ihn so intensiv wie seit Jahren nicht mehr.

      Alles an ihm war lebendig.

      Seine Arme und Beine kribbelten vor Leben.

      Er spürte die Kraft seiner Muskulatur, obwohl er ganz ruhig am Boden saß.

      Auch das Sitzen fühlte sich so anders an als sonst.

      Er saß ganz fest.

      Durch seine Pobacken fühlte er die kleinen Unebenheiten des Bodens unter sich.

      Seine nackten Fußsohlen nahmen durch das Gras, das jetzt langsam feucht wurde, die Kraft auf, die von der Erde ausgeht.

      Er war ganz ruhig.

      So ruhig, dass er immer wieder in sich hineinfühlen musste, um dieses neue Empfinden als Realität anzunehmen.

      Doch, diese Ruhe und diese Vitalität waren real.

      Je mehr ihm dies bewusst wurde, desto stärker wurde das Glücksgefühl, dass ihn warm durchströmte. Und dieses Glück, dass sich da aus ihm selbst speiste, gab ihm ein ungeheures Gefühl von Freiheit und Stärke. Er hatte den Eindruck, aus eigener Kraft alles bestehen zu können, was sie auf dieser Reise noch erwarten mochte.

      Langsam legte er den Rest seines Fleischstücks auf den Teller, ließ sich rückwärts zu Boden sinken, drehte sich auf den Bauch und streckte Arme und Beine aus. Er nahm die Kraft der Erde in seinen Körper auf. Dies war der Boden, der die Pflanzen wachsen ließ. Diese Krumen gebaren das Leben, das Bäume, Gräser und Ziegen leben ließ.

      Und Menschen.

      Sanft strich ihm ein leichter Wind über den Rücken. Eine Spinne kletterte über seine linke Hand. Er ließ sie gewähren. ,Sie ist Teil des Ganzen‘, dachte er. ,Sie hat ihren Sinn und ihren Platz in der Natur, wie ich selbst.‘

      ,Ich?‘, überlegte er. ,Habe ich so viel Sinn in der Natur wie diese kleine Spinne?‘

      „Ist dein Fleisch nicht gut?“, hörte er seine Frau wie aus weiter Ferne.

      „Doch, doch.“

      „Warum hast du dich denn hingelegt?“

      „Weil es mir so gut geht. Lege dich bitte neben mich.“

      „Sei nicht albern, Hans-Joachim, was ist los mit dir?“

      „Bitte leg dich neben mich …“

      „Ich bin doch noch am Essen und will gleich nach den Angeln sehen.“

      „Wir haben doch Fleisch genug für die nächsten Tage.“

      „Ja, aber wir brauchen auch Fisch!“

      Er stemmte sich auf die Knie und richtete sich auf. Von hinten legt er seine Arme um die Frau und steckte seine Nase in ihre Nackenhaare. Dann zog er seine Brust fest an ihren Rücken und spürte trotz der hohen Temperaturen, wie die Wärme ihrer Körper sich gegenseitig auflud.

      „Bitte nicht!“, sagte sie energisch. „Ich mag nicht.“

      „Ich will doch gar nichts.“

      „Dann lass mich los.“

      Hans-Joachim ließ los.

      „Weißt du …“, versuchte er seinen Zustand zu erklären …

      „Ja, ich weiß!“

      „Nein, ich möchte etwas erklären.“

      „Hans-Joachim, ich habe deine Nähe in den letzten Jahren sehr vermisst. Ich habe das Gefühl, dass sich einiges zum Guten wenden wird, wenn wir hier durchkommen, aber mit Sex kann ich hier und jetzt gar nichts anfangen. Bitte lass mich zu den Angeln gehen, bevor es völlig dunkel ist.“

      Sie stand auf und er ließ sich zurück auf den Boden gleiten. Er drehte sich auf den Rücken und blickte in den Abendhimmel, an dem die ersten Sterne zu erkennen waren.

      Tausend Millionen, vielleicht auch tausend Milliarden Kilometer entfernt.

      So weit weg jedenfalls, dass es sich seiner Vorstellungskraft entzog.

      Wie gigantisch war das alles und was für ein bedeutungsloses Nichts war man selbst angesichts dieser unfassbaren Weite.

      Fischkonserven!

      Er dachte an die Fischkonserven, die sonst sein Leben bestimmten. Konnte es etwas Unwichtigeres geben? Tag und Nacht kämpfte er darum, dass seine Konserven in den Regalen der Ladenketten besser platziert waren als die anderer Firmen. Für diesen alleinigen Zweck gab er Feierabende und Wochenenden her, machte er Marktanalysen und Werbespots, opferte er Schlaf und die Fähigkeit, wie ein Mensch zu fühlen und zu leben. Eine Schande!

      „Tja“, hörte er seine Frau zurückkommen, „kein einziger Fisch hat gebissen.“

      „Macht nichts, wir haben Wasser, Fleisch und Schampus, Kathy. Und eine Ziegenherde, die jemandem gehört, der hier früher oder später aufkreuzen wird.“

      Sie krochen unter das Hardtop und Hans-Joachim drängte sich dicht an ihren Rücken. Sie war steif und angespannt. Erst als sie bemerkte, dass er seine Nähe ohne Anspruch auf Gegenleistung gab, entspannte sie sich langsam und lächelte leicht, bis der Schlaf beide übermannte.

      Er warf sich auf die linke Seite, auf die rechte, auf den Rücken und merkte, dass er nicht mehr schlafen konnte. Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass seine Frau halb aufgerichtet auf ihrer Matratze saß und horchte. Ein scharfes Geräusch durchschnitt die friedliche Stille aus der Ferne. „Das ist ein Bootsmotor“, stieß sie aufgeregt hervor. „Hans-Joachim! Ein Bootsmotor!“

      „Oh …“, sagte er mit leiser rauer Stimme. „Noch nicht. Bitte noch nicht.“

       Der Tod des Erbsenkönigs

      Ein Kriminalroman der platten Tüden

       Kiesweg 23a

      Seine Hand war ganz ruhig, als er die Waffe hinter der offenen Treppe, im schummrigen Licht des Kellerraums, auf den Hinterkopf von Mark Palmann richtete. Langsam krümmte er den Finger am Abzug, was ein leicht knirschendes Geräusch machte. Palmann drehte sich überrascht um, da traf ihn das Geschoss direkt vor dem linken Gehörgang.

       Hauptstraße 121

      ,Und weil der Mensch ein Mensch ist‘ riss den Unterhauptkommissar aus seinem Aktenstudium oder, anders formuliert, sein Smartphone meldete einen Anruf. „Mordkommission Tribüll, Stocher?“

      „Hallo Stocher, hier Nebel. Wir haben eine Leiche ohne erkennbare Todesursache. Sicher nur Routine, aber ihr müsstet mal kommen.“

      „Kaum versucht man mal Ordnung auf seinem Schreibtisch zu machen, ruft garantiert ein Streifenhörnchen an. Wohin geht die große Fahrt?“

      „Kiesweg 23a.“

      „Kiesweg? Da wohnen doch die mit dem dicken Schotter – sterben die auch?“

      „Sieht so aus. Und das im Keller am Erbsendosenregal.“

      „Wie jetzt, ist es der Palmann, den ihr da habt?“

      „Ich würde sagen, ja.“

      „Ach du


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