Leiser Schrei. Slafa Kafi

Leiser Schrei - Slafa Kafi


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      © 2020

       Autorin: Slafa Kafi

      Umschlag: Khaled Abdullah, Nosheen Mohammad

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN
Paperback978-3-347-02285-0
e-Book978-3-347-02286-7

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

       mit freundlicher Unterstützung des Förderkreises Gymnasium Lindenberg e.V.

      Wann hast du dir das letzte Mal Zeit genommen, um zu realisieren, wie viel du eigentlich besitzt und wie gut es dir geht?

      Schau dich mal um und denk für einige Augenblicke über dein Leben nach.

      Und jetzt mach deine Augen zu und mach sie dann kurz später wieder auf.

      Jetzt ist auf einmal alles anders.

      Alles, was du hattest, ist jetzt weg. Dein Leben wurde auf den Kopf gestellt.

      Nichts ist mehr so, wie es einmal war.

      Nicht nur das.

      Du fühlst dich zudem nirgends mehr sicher, nirgends mehr wohl. Alles wird immer schlimmer.

      Du kannst nicht mehr.

      Du willst, dass alles aufhört. Dass alles wieder so wird, wie es bis vor kurzem war. Du willst dein altes Leben zurück, deshalb versuchst du zu kämpfen.

      Aber du wirst nicht gehört.

       Selbst dein Schrei wird leise.

       FÜR MEINE HEIMAT

       Slafa Kafi

       LEISERSCHREI

      Ich befinde mich in einem sehr dunklen Wald. Die Sonne scheint nicht, es gewittert und donnert sehr stark. Auch der Regen fängt jetzt an. Ich bin umgeben von riesigen Bäumen und bin ganz alleine hier. Keine Menschen, keine Tiere – nur Bäume, riesige Bäume. Ich habe Angst, weil ich das Gefühl habe, dass gleich irgendwas passieren wird. Die Bäume scheinen, als würden sie gleich sprechen und mich erschrecken. Auch die vielen Geräusche hier beängstigen mich. Flugzeuggeräusche. Autogeräusche. Bombengeräusche. Tiergeräusche. Schreie. Weinen. Schritte. Ein Blitz nach dem anderen. Die Geräusche werden im Sekundentakt lauter, bis ich mir die Ohren zuhalten muss, weil alle Geräusche sehr laut gleichzeitig ertönen. „Yasmin!“ Eine laute Stimme erklingt zwischen all den anderen Geräuschen. Es ist Yails Stimme. Er klingt sehr ängstlich, als würde er Hilfe brauchen. Ich schaue mich ebenfalls ängstlich um, sehe aber nichts als die schreckli-chen, riesigen Bäume. „Yasmin!“, diesmal ertönt die Stimme meines Vaters. „Yasmin“, die Stimme meiner Mama, dann Tante Marias, Onkel Phillips und noch Kristinas. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich fange an zu rennen, aber der Wald wird immer größer und das Ende entfernt sich immer mehr. Ich renne immer weiter, bis ich außer Puste bin und das Ende immer noch sehr weit weg ist. Die Geräusche ertönen weiterhin, bis auf einmal alles verstummt. Für zwei Sekunden höre ich gar nichts mehr und dieser grausame Wald kommt mir für einige Augenbli-cke wie ein sehr friedlicher vor. Aber leider nur für einige Augenblicke. Ich höre nämlich hinter mir wieder Geräusche. Ohne mich umzudrehen, erkenne ich, dass das Geräusch von einem Vogel stammt, der in meine Richtung fliegt. Ich drehe mich um und stelle fest, dass ich Recht hatte, aber im selben Moment bereue ich, dass ich mich umgedreht habe, weil ich wieder Angst bekomme. Ein riesiger, schwarzer Vogel mit großen Flügeln fliegt auf mich zu. Es ist ein Rabe. Mein Rabe, nur weitaus größer. Aber er hat etwas im Schnabel. Er hat meine ganze Familie und Yails im Schnabel. „Yasmin!“, schreien alle wieder. „Yasmin!“ Sie schauen sehr verängs-tigt. Ich beginne zu schreien. Der Rabe fliegt mit ihnen weiter auf mich zu, bis der Abstand zwischen uns sehr klein ist, sodass ich ihnen sogar ins Gesicht sehen kann. Ich schreie weiter.

      Schrei. Schrei. Schrei.

      14 Monate zuvor

      Dort,

      leben alle glücklich und gemeinsam,

      sicher und sorgenfrei,

      stolz und vereint.

      Gehen durch Dick und Dünn,

      Höhen und Tiefen,

      gute und schlechte Tage,

      werden aufgenommen,

      ob mit Kreuz oder Davidstern,

      mit Halbmond oder fünffarbigem Stern.

      Lachen und weinen,

      lieben und werden geliebt,

      feiern und glauben,

      nehmen in den Arm,

      und werden in den Arm genommen,

      das alles,

      genau dort.

      109.09.2010

      Heute ist der letzte Ramadantag und ich darf endlich fasten. Für die meisten Kinder ist das erste Mal Fasten eine besondere Erfahrung, auf die sie lange warten müssen. Ich bin sieben Jahre alt, also schon alt genug, um diese Erfahrung machen zu dürfen - finde ich zumindest.

      Meine Eltern dagegen sind der Meinung, dass ich noch zu jung bin und es hat sehr lange gedauert, bis ich sie überredet hatte, wenigstens am letzten Ramadantag mit zu fasten. Natürlich musste ich ihnen einiges versprechen. Ich bin nun seit ungefähr zwei Stunden wach und bis zum Fastenbrechen sind es noch knappe acht Stunden.

      Die vergangenen zwei Stunden habe ich damit verbracht, meine Spielzeuge, mit denen Yail und ich bis spät in die Nacht gespielt haben, wieder schön ordentlich aufzuräumen. Jetzt sieht mein Zimmer wieder normal aus. Mein Bett ist gemacht, auf meinem Schreibtisch befinden sich keine Spielsachen mehr und auch im Schrank ist alles ordentlicher.

      Yail ist übrigens mein bester Freund, eigentlich eher mein Bruder, denn wir kennen uns schon seit unserer Geburt und haben seitdem alle schönen Erlebnisse miteinander geteilt.

      Das Praktische ist, dass seine Familie in der Wohnung direkt neben uns wohnt, was es einfacher macht, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Vielleicht erzähle ich später mehr über Yail, denn wir haben auch ein kleines Geheimnis, das nur die Wenigsten kennen.

      Irgendwie habe ich mich doch noch nicht ganz an das Fasten gewöhnt, denn ich wollte gerade sagen, dass ich jetzt frühstücken gehe, und das, obwohl ich gar keinen Hunger spüre. Das ist einfach nur eine Angewohnheit, nach dem Aufwachen zu frühstücken. Ich bin froh, dass ich lernen werde, dass es auch ohne geht. Meine Eltern sagen immer, es kann ein Tag kommen, an dem wir nicht dann essen können, wenn wir Hunger haben, sondern mit einer einzigen Mahlzeit am Tag leben müssen. Ich bin zwar Einzelkind, aber nicht so, wie man sich ein Einzelkind vorstellt. Was ich sagen möchte, ist, dass ich nicht alles bekomme, was ich mir wünsche, dass meine Mutter nichts Neues kocht, wenn mir das Essen nicht schmecken sollte, oder es keine Rolle spielt, welche Marken ich trage. Ich bin sehr stolz und dankbar, dass meine Eltern mir das so beigebracht haben.

      Es klopft an meiner Zimmertür und einige Sekunden später kommt auch schon mein Vater herein. Ein großer, sympathischer Mann. Zudem ist er sehr hübsch, freundlich und humorvoll und nein, ich sage das nicht nur, weil er mein Vater ist, sondern weil es wirklich so ist. Er setzt sich zu mir aufs Bett und legt seinen Arm auf meine Schulter.

      „Yasmin, mein starkes Mädchen, wie geht’s dir?“, fragt er.

      Ich


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