Celeste - Gott und der König. Sabrina Kiefner
Aurore für ihre konfusen, manchmal gar zusammenhanglosen Erinnerungen. Sie wollte die Dämonen ihrer Alpträume dieser unbefangenen, jungen Seele nicht aufbürden, wollte deren inneren Frieden nicht zerrütten. Aurore quälte die Greisin nicht mehr mit Zwischenfragen. Sie gab sich mit der Rolle der aufmerksamen Zuhörerin zufrieden und steckte ihrer Ziehmutter fürsorglich ein weiteres Kissen in den Rücken. Dann hörte sie zum ersten Mal von den Damen, die sich an den Schlachten des Aufstands im Westen beteiligt hatten. Ihre Großmutter hatte sie als die „Amazonen des Chevalier de Charette“ bezeichnet.
Die Rückkehr der Hausangestellten reißt die junge Frau aus ihren Gedanken.
„Madame erwartet sie in ihren Gemächern im ersten Stock.“
Aurore hat ihrem Erscheinungsbild ganz besondere Sorgfalt gewidmet. Ihr langes Haar ist zu einem soliden Knoten im Nacken gebunden, ein Überwurf aus weinrotem Samt sollte die weiße, spitzenbesetzte Bluse vor dem Staub der Reise bewahren. Sie folgt der alten Frau, die keuchend die breiten, mit orientalischem Teppich überzogenen Stufen hinauf vorangeht. Auf dem Treppenabsatz wuchern exotische Pflanzen, denen ein Schacht an der hohen Decke das nötige Licht gewährt: Orchideen, mannshohe Kamelien und eine Kletterpflanze mit riesigen, glänzenden Blättern sättigen die Luft mit schweren Vanilleessenzen, in die sich der Duft der Zitronenbäumchen mischt.
Die Bedienstete klopft leise an die Tür und kündigt Aurore an, dann tritt sie einen Schritt zurück und die junge Frau betritt das geräumige, sonnendurchflutete Zimmer. Celeste ist viel kleiner, als es sich die junge Reporterin vorgestellt hatte, ihre Züge lassen eher auf eine fürsorgliche Großmutter schließen als auf die grimmige Kriegerin aus der reichhaltigen Phantasie Aurores. Das silberne Haar der betagten Dame ist am Hinterkopf aufgebunden. Nur die tiefblauen Augen, die sie anfunkeln, verraten den wachen Geist, den sie sich bewahrt hat.
Die beiden Frauen tauschen zunächst belanglose Höflichkeiten aus, um sich ihr jeweiliges Gegenüber besser zu erschließen, während der Kaffee serviert wird. Die Dienerin stellt einen Korb mit goldroten Äpfeln und eine Schale mit Biskuitgebäck neben die Tassen, bevor sie die hohen Flügeltüren hinter sich schließt.
„Mademoiselle, es tut mir leid, dass meine alten Beine mir nicht mehr erlauben, Sie durch das Haus zu führen. Ich bin achtundsiebzig Jahre alt, stellen Sie sich das vor. In diesem Alter braucht man niemanden mehr aus Koketterie über sein Alter wegzutäuschen. Eigentlich bin ich beinahe stolz darauf, obgleich es in unseren Tagen mehr teure Freunde in dieser anderen Welt gibt, die ihre kalte Hand nach mir ausstreckt, als unter meinen lebenden Zeitgenossen. Wer wie ich in einem bewegten Leben viele Male den Tod gestreift hat, weiß jeden neuen Tag des Lebens wie ein Geschenk des Himmels zu schätzen.
Aber jetzt zu Ihnen! Meine teure Aurore, Sie müssen müde von der langen Reise sein. Sie machen sich gar keine Vorstellung von dem Vergnügen, das mir ihr Besuch macht. Ich werde Sie nur kurze Zeit bei Kaffee und Gebäck zurückhalten, dann wird Agnès, meine treue Seele von Haushälterin, Sie in Ihr Appartement führen, damit Sie sich ausruhen können. Sagen Sie, Aurore, wie alt sind Sie?“
Die junge Frau fühlt sich etwas eingeschüchtert von der charismatischen Persönlichkeit, die das Alter in diesen Stuhl zwängt, und die es doch verstand, eine ihr eigene, grazile Würde in der kleinsten Bewegung und Geste aufrecht zu erhalten. Trotz der hohen Kopfhaltung verraten ihre Züge nicht das winzigste Anzeichen von Arroganz, der meerblaue Blick ist direkt und gezielt wie ein Blitz. Aurore antwortet nach einem Moment des Zögerns: „Ich habe im letzten Monat meinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.“
Die Greisin lächelt verträumt. „Siebenundzwanzig! In diesem Alter habe ich ihre Großmutter kennengelernt. Gott hab sie selig. Marie-Aurore war eine beeindruckende Frau. Mein Gedächtnis spielt mir manchmal Streiche in letzter Zeit, aber ich kann mich noch ganz genau an sie erinnern. Schon bei unserer ersten Begegnung im Hause meines verstorbenen, ersten Gatten, Louis Chappot de la Brossardière, empfand ich große Sympathie für ihre zwanglose, herzliche Art.
Auch sie musste viel Schreckliches durchstehen in den dunklen Jahren des Terrors. Sie wäre sicher hocherfreut darüber, dass Sie ihren Ring in Ehren halten, indem Sie ihn tragen, wie ich sehe. Und Sie haben ihre Augen, Aurore.“
„Sie fehlt mir schrecklich“, erwidert Aurore nachdenklich. „Eines Tages werde ich Recherchen unternehmen, um ihr Leben in einem Roman festzuhalten oder, wer weiß, ihr in meiner Autobiographie einen gebührenden Platz zu widmen.“
„Dann bleibt zu hoffen, dass Ihnen die Notizen, die sie bei mir machen, dafür nützlich sein werden. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich über Ihre Großmutter weiß. Aber zunächst sollten wir uns einigen, wie wir zusammen vorgehen. Lassen sie uns darüber nachdenken und morgen früh beraten.“
„Ja, Madame, sehr gerne“, antwortet Aurore.
Sie hat dankend eine zweite Tasse Kaffee angenommen und wagt nun einen Blick auf die alten Bücher der Bibliothek und die Porträts, die in ziselierten Silberrahmen die Regale zieren. Die Reporterin nimmt ihren Mut zusammen und bittet die Hausherrin um Erlaubnis, sich eine der Radierungen genauer ansehen zu dürfen.
„Aber ich bitte Sie, meine Liebe!“ gibt die betagte Gastgeberin zurück, „Neugier ist bei Weitem nicht das Attribut, dass ich als unverzeihliche Schwäche bei einer Frau Ihres Alters ansehen würde.“
Aurore erhebt sich und geht auf die Radierung zu. Diese zeigt eine junge Frau im Damensattelkleid, die zu Fuß den gefährlich nahen, republikanischen Truppen trotzt. Sie hält in der einen Hand einen Dolch, in der Anderen eine Pistole, die sie mit stechendem Blick auf die Soldaten richtet, die mit ihren Bajonetten drohen. Im Hintergrund zeichnet sich der Rückzug der Royalisten ab, deren Hüte von weißen, langen Federn gezieret sind. Der ruhmreiche Moment auf der Abbildung flößt Aurore große Bewunderung für diese Heldin einer vergessenen Epoche ein. In genau diesem Augenblick entschließt sie sich, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um das gewagte Biographieprojekt durchzuführen, selbst wenn es eine unvermeidliche Verzögerung für die Herausgabe ihres ersten, noch unvollendeten Romans bedeuten, an dem viel Herzblut hängt.
Doch Celeste scheint dieses Opfer wert zu sein. Aurore kann sich ihre Entscheidung nicht rationell erklären, aber sie spürt, dass sie es mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hat. Und plötzlich ist ihr, als könne sie einen vertrauten Geruch wahrnehmen, einen Hauch des Parfums ihrer verstorbenen Großmutter. Es duftet nach Maiglöckchen.
„Gefällt Ihnen das Bild?“ Die heisere Stimme der Hausherrin reißt die junge Frau aus ihren Gedanken. „Der Künstler ist ein Freund, der damals mit auf dem Schlachtfeld war, in La Roche sur Yon. Das war 1793, im späten Sommer. Ist das Datum der Schlacht nicht vermerkt?“
„Nein, Madame. Hier steht nur Ihr Name, Madame de Bulkeley.“
„Ach, genaugenommen ist das längst nicht mehr mein Name, wie Sie schon wissen“, antwortet Celeste. „Aber wenn man einmal den Namen eines Helden angenommen hat, dann behält man ihn ein Leben lang, wie mir scheint.“
Die alte Dame lächelt bei ihren Worten in sich hinein und versinkt daraufhin in einem Tagtraum, während Aurore wieder auf dem breiten Sessel gegenüber des filigranen Teetisches Platz nimmt. Sie trinkt den herrlich gezuckerten Kaffee in einem Schluck aus und entschuldigt sich höflich bei der Gastgeberin, deren Blick große Müdigkeit verrät, bevor sie sich zurückzieht.
* * *
Als sie die großzügigen Räume betritt, die ihr für die Dauer ihres Aufenthalts in Angers zur Verfügung stehen, denkt Aurore noch lange an das Bild Celestes. Sie musste eine wichtige, vielleicht entscheidende Rolle in dieser Schlacht gespielt haben. Die Redakteurin ist ungeduldig zu erfahren, wie es dazu kommen konnte. Sie hat nur eine Woche Zeit, um ihre bisher mageren Notizen über das Leben der Celeste Talour de la Cartrie, besser bekannt unter dem Namen de Bulkeley, zu vervollständigen.
Henri de Latouche, der sagenumwobene Direktor der Pariser Tageszeitung Le Figaro, hatte ihr die Mission anvertraut, eine Reportage in mehreren Artikeln zu erstellen. Diese sollte in der Art eines Fortsetzungsromans über mehrere Wochen hinweg die Lektüre der namhaften Abonennten bereichern und zusätzliche Leser einbringen. Aurore ist stolz auf diesen