Celeste - Gott und der König. Sabrina Kiefner
aufgeschoben zu werden. Und ihre Neugier ist längst auf dem Höhepunkt angelangt.
„Ich werde mich mit Freuden zu einem späteren Zeitpunkt auf einen Stadtrundgang begeben, um mich an die Arbeit zu machen, so bald Sie es wünschen.“
Ein herzliches Lächeln legt Celestes Antlitz in unzählige Falten, unterbrochen von sympathischen Grübchen. Aurore nimmt plötzlich wahr, welch anmutige Schönheit sie früher gewesen sein musste - es scheint geradezu, als kämpften ihre zarten Gesichtszüge gegen die unerwünschten Spuren des Alters an. Wie sehr diese Soldatin im Damensattel einst die Männer fasziniert haben muss, denkt Aurore. Zahlreiche Bewerber sollten sich angezogen fühlen von den krassen Gegensätzen, die Celeste darstellte mit ihrem zierlichen Körper, dem goldblonden Haar, diesen kleinen, weißen Händchen kombiniert mit einer Rachsucht und Grausamkeit, die Frauen von der Allgemeinheit oft verweigert wird, aus welchen Gründen auch immer! Dabei mangelt es der Geschichte der Menschheit nicht an Beispielen…
„Ungeduld ist das Vorrecht der Jugend“, antwortet Celeste nach einigen Momenten der Nachdenklichkeit, „die Ihre könnte meine Erzählung vorantreiben wie der Wind in den Segeln eines Schiffes. Geben Sie mir bitte eine Viertelstunde Zeit, um meine Notizen zu ordnen und mit Agnès ihre heutigen Aufgaben zu besprechen. Sie schlägt zum Mittagessen Gemüsesuppe vor, gefolgt von einem Zanderfilet; ich hoffe, das ist Ihnen recht?“ „Bei diesem Menü läuft mir das Wasser im Mund zusammen“, antwortet Aurore, die ihre anfängliche Schüchternheit dank der Aufmerksamkeiten ihrer Gastgeberin überwunden hat. Die junge Frau zieht sich zurück und geht hinunter in den Hinterhof, wo sie zu ihrem Erstaunen einen liebevoll angelegten Gemüsegarten vorfindet. Ein Rosenbäumchen auf einem dicken, von langen, rötlichen Dornen übersähten Stamm durchtränkt die feuchte Frische des Vormittages im Schatten des hohen Gebäudes mit seinem süßlichen Duft.
Aurore nimmt auf einer kleinen Bank aus verrostetem Eisen Platz, die an der Hauswand steht. Sie öffnet ihr silbernes Zigarettenetui und hört das Gezwitscher der Vögel in den Zweigen der enormen Zypressen, die über die hohe Mauer des Nachbargrundstücks ragen. Sie ist glücklich, hier zu sein, weit weg von der lärmenden Hauptstadt. Das Leben hier ist süß, die Hitze weniger drückend, die Zeit scheint langsamer zu vergehen, als wäre sie in dieser Gegend versetzt - auf eine unerklärliche Weise langsamer und intensiver zugleich. Dann denkt sie von Neuem an diese verblüffende Frau und an die Worte, die sie mit ihr gewechselt hatte. Sie begreift, wie wichtig dieses Projekt, das allem Anschein nach von langer Hand vorbereitet wurde, für Celeste ist. Sicher spürt ihre Gastgeberin in ihrem stolzen Alter auch, dass ihre Zeit begrenzt ist. Aber….ist es nicht seltsam, dass das von ihrer freundlichen Gastgeberin angegebene Lebensalter nicht mit Aurores Informationen übereinstimmt? Laut der Notizen in dem Heft, das Aurore den Recherchen gewidmet hatte, dürfte die Amazone nicht älter als 72 Jahre sein!
Aurore blickt mit einem Lächeln auf die perfekt geschnittene Kugel aus unzähligen weißen Rosen, die sie an antike Gemälde der flämischen Meister erinnern. Ihr musste irgendwo ein Irrtum unterlaufen sein, was Celestes Geburtsjahr angeht. Denn keine Frau auf dieser Welt würde ihrem Alter zusätzliche Jahre hinzufügen, wie betagt auch immer sie sein mochte! Das schwache Geschlecht tendiert doch üblicherweise eher zur Unterschlagung des einen oder anderen Lebensjahres…
II
„Ich wurde am 14. Mai 1753 in Angers geboren und getauft auf den Namen Celeste Julie Michelle Talour de la Cartrie. Das riesige Landgut, das mein Vater geerbt hatte, war sechs Meilen* von Angers entfernt. La Cartrie, früher Carterie genannt, war einer der besten Schiefersteinbrüche der Region.
Ich war das achte Kind in der Familie. Meine Schwester und Patin Julie erzählte mir sehr viel später von den dramatischen Ereignissen, die das Leben meine Eltern kurz nach meinem ersten Geburtstag geprägt hatten. Meine Mutter brachte Zwillingsschwestern zur Welt und war sehr erschöpft von deren schwieriger Geburt. Sie brauchte lange Zeit, um sich davon zu erholen. Als es ihr endlich besser ging, wäre mein Bruder fast den Pocken zum Opfer gefallen. Einer meiner Onkel verstarb kurz darauf an den Komplikation einer Blinddarmoperation, während meine kleinen Schwestern an Herzschwäche litten. Der Gedanke, dass eine weitere Tragödie unsere Familie heimsuchen könnte, nahm daraufhin von meiner Mutter Besitz.
Ihr Mädchenname war Jeanne Ollivier; sie war die Tochter eines Konsuls der Stadt Angers. Ihre allgegenwärtigen Befürchtungen blieben bestehen, was ihr das Leben keinesfalls leichter machte. Meinen Vater hörte ich oft sagen, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Es gab zu dieser Zeit keine Arznei gegen Trübsinn und der Arzt verschrieb ihr Johanniskraut. Das Mittel linderte ihr Leiden, wirkte aber dennoch keine Wunder gegen die Angstzustände, die im Alter von vierzig Jahren an ihr nagten. Ihre Furcht schien mich genährt und abgehärtet zu haben, um mich besser auf die Tragödien, die das Schicksal mir vorbestimmt hatte, vorzubereiten. Ich würde nicht behaupten, dass ich unempfindsam war für Ängste, doch habe ich nie die Seelenqualen kennengelernt, die meine arme Mutter ausstehen musste. Ich war wie die Fohlen, die mein Vater, der königlicher Reitmeister war, aufzog, und die er geduldig auf die Zwänge vorbereitete, die sie in ihrem späteren Pferdeleben erwarteten. Er konfrontierte sie bereits im jüngsten Alter mit allem, was sie erschrecken könnte und bediente sich ihrer natürlichen Neugier, um sie ihre Furcht überwinden zu lassen. Die Offiziere der königlichen Armee rissen sich um die Pferde aus seiner Zucht. Die Tiere stammten aus normannischen Blutlinien ab und fürchteten weder Kanonenschall noch Feuergeruch. Und wie die Fohlen, die auf unseren Weiden geboren wurden, wuchs ich zu einem Wesen heran, das sich seinen Ängsten stellte, ohne sich ihnen auszuliefern.
Mein Vater, Barthélémy Talour de la Cartrie, war der Nachkomme einer langen Reihe von Rittern und Herren aus der Normandie und besaß außer seinen Ländereien und dem Vieh ein ansehnliches Vermögen. Seine Gepflogenheiten waren die eines einfachen Menschen geblieben; sein bescheidenes Dasein war den damaligen, strengen Traditionen unterworfen. Mit uns Kindern pflegte er strikt zu sein ohne jemals ungerecht zu werden, indem er jedem von uns die gleiche Aufmerksamkeit zukommen ließ. Nachdem meine Mutter zwei Brüder und zwei weitere Schwestern zur Welt gebracht hatte, stellte einen jungen Gouvernanten ein, der uns Griechisch und Latein unterrichtete und natürlich das Rechnen, sowie Völkerkunde und Geschichte. Ich hatte eine glückliche Kindheit im Kreise dieser großen Familie mit vierzehn Kindern, der es an nichts fehlte. Mein Vater stand im Dienst des Königs, er war Rechnungsrat in der Kammer der Bretagne. Wir lebten in der Stadt, verbrachten jedoch die Feiertage und Ferien auf unserem Landbesitz La Cartrie.
In meiner Erinnerung höre ich noch das Flüstern der Pappeln, die unsere weitläufigen Koppeln umgaben. Ich brauche nur die Augen zu schließen, schon tauchen meine Brüder vor meinem geistigen Auge auf, bei einem ungestümen Wettlauf inmitten der von Korn- und Mohnblumen übersähten Wiesen. Meine älteren Schwestern empfanden nicht das kleinste Vergnügen an unseren Eskapaden und gingen nur selten an die frische Luft – selbst die Reitlektionen, die der alte Stallmeister meines Vaters uns täglich erteilte, weckten kein Interesse bei ihnen.
Was mich betraf, so hätte ich den ganzen Tag bei den Pferden verbringen können – so sehr faszinierten sie mich seit diesen frühen Tagen, wenn es meine Mutter auch nur ungern sah, dass ich mit verschmutzter Kleidung und meiner vom Erntestaub ergrauten Haube nach Hause kam. Mein Vater konnte diese Leidenschaft, die ich von ihm geerbt hatte, nur zu gut verstehen. Ich verbrachte mehr Zeit mit meinen Brüdern als mit meinen großen Schwestern. Die Erstgeborene, Jeanne, war siebzehn Jahre älter als ich und kümmerte sich die meiste Zeit um die kleinsten Geschwister.
Einer meiner Brüder, den ich als Kind geradezu anhimmelte, stand mir immer sehr nahe – Toussaint-Ambroise weihte mich in sein Wissen über Pferdedressur ein. Er brachte mir auch die Pflanzenzucht näher, die er sich wiederum durch geduldiges Fragen von dem passionierten Gärtner, der unser Vater war, angeeignet hatte. Ab und zu fuhr mein Bruder ins Dorf, nach Becon-les-Granits. Auf seinen Karren hatte er einen Käfig mit zwei Brieftauben geladen. Dann warteteten wir im Taubenschlag, den mein Großvater gebaut hatte, auf die Rückkehr der Vögel mit der Ungeduld, die kleine Kinder auszeichnet. Die Tauben lieferten uns bunte Zeichnungen, die in einen Metallbehälter gerollt an ihren Krallen hingen, und manchmal gab es Streit um die winzigen Bilder. Wir bewahrten sie in Sammelheften auf, als handele es sich dabei um Heiligenreliquien.
Mein