Schlüssel zum Gestern. Erwin Böning

Schlüssel zum Gestern - Erwin Böning


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einmal selbst gestanden.

      Gerader Rücken, lange hübsche Beine, sonnengebräunte Arme, Hände mit langen schlanken Fingern.

      Man sieht ihr an, dass sie den Moment trotz der Angespanntheit genießt. Sie ist stolz auf das, was sie erreicht hat. In einer Domäne, die immer noch fast ausschließlich von Männern beherrscht wird, hat sie sich einen beachtlichen Platz erkämpft.

      Weniger stolz ist sie auf mich.

      Als wir uns vor dreißig Jahren kennenlernten, war der gesellschaftliche Unterschied zwischen uns noch nicht so groß wie heute. Sie war seit zwei Jahren mit ihrem Wirtschaftsstudium fertig und hatte einen Einstiegsjob bei einer Unternehmensberatung. Ich studierte noch Psychologie in der Endphase, mit der Aussicht, in absehbarer Zeit auch das große Geld in der Wirtschaft verdienen zu können.

      Unsere Herkunft dagegen hätte unterschiedlicher nicht sein können. Verenas Vater war Jurist und Inhaber einer großen Kanzlei im Bergischen Land. Ihre Mutter war Gattin und Mutter der einzigen Tochter. Den überwiegenden Teil ihrer Tage verbrachte sie mit „Charity“. Irgend etwas gab es immer zu sammeln und zu unterstützen. Mal musste Nusskuchen zur Unterstützung der chilenischen Frauen gebacken werden. Mal galt es, eine feurige Rede für den Erhalt einer sozialen Einrichtung oder eines historischen Gebäudes zu halten.

      Immer musste Eberhard, ihr Mann, zu gegebener Zeit und vor möglichst großem Publikum seine überdimensionierte Brieftasche zücken, um generös einen nicht zu kleinen Schein zu entnehmen. Diesen drückte er dann mit nicht zu überbietender, schlecht gespielter Bescheidenheit in Margrets selbstgebastelte Sammelbox. Sie bedankte sich überschwenglich und gab ihm je ein Küsschen rechts und links. Man glaubte kaum, dass es sich um das gleiche Paar handelte, das sich noch am Abend vorher ohne Publikum wie die Kesselflicker gestritten hatte.

      Die gleiche große Brieftasche zückte Vater Eberhard auch jedesmal, wenn sich die kleine Verena mal wieder verkalkuliert hatte. Die ohnehin reichlich bemessene Apanage während des Studiums musste zeitweise aufgebessert werden, wenn Verena ihrem speziellen Geschmack in Bezug auf Kleidung, Möbel und Männer wieder einmal nicht hatte widerstehen können.

      Mein Lebensstil während des Studiums wurde vom Bafög diktiert. Drei bis viermal die Woche Nachhilfe für Haupt- und Realschüler. Hauptsächlich Mathematik, aber auch alles andere, was Geld einbrachte.

      Einmal im Monat durfte ich für kleines Geld die Zähler im ganzen Haus ablesen. Die Vermieterin war alt und gebrechlich und traute sich nicht mehr auf die Trittleiter. Auch im Ausrechnen der einzelnen Zahlbeträge traute sie mir mehr zu als ihrem eigenen vergesslich gewordenen Oberstübchen.

      Mein Vater war Tiefbauarbeiter, meine Mutter Hausfrau. Große Brieftaschen, aus denen man bei Bedarf größere Scheine entnehmen konnte, gab es bei uns nicht.

      * * *

      Auf das Haus – besser gesagt Anwesen – ist Verena besonders stolz.

      Mit tatkräftiger Unterstützung eines professionellen Architekten hat sie es selbst entworfen und gebaut. Vater Eberhard wird auf seine unnachahmliche Weise auch mitgeholfen haben.

      Es muss außerordentlich schwierig gewesen sein, hier überhaupt zu bauen. Ich weiß das nur aus Erzählungen. Das alles passierte lange vor meiner Zeit.

      Aber so viel ich vom Hörensagen mitbekommen habe, muss das gesamte Gebiet, bevor es bebaut wurde, unter besonderem Schutz gestanden haben. Der Zugang zum See war verboten. Die Kinder der benachbarten Häusergruppen und der Dörfer ringsum, durften selbst im heißesten Sommer hier nicht baden. Angeblich nutzten die scheuen Rehe des Waldes das Gewässer als Tränke. Badende, johlende und aufgeregt hin und her tobende Kinder hätten die Tiere angeblich für immer vertrieben oder gnadenlos verdursten lassen.

      Die Kinder mussten im Sommer daher schon immer mit dem Fahrrad in das beinahe acht Kilometer entfernte Freibad fahren, um – wie es üblich war – Freischwimmer, Jugendschwimmer, Arschbombe und Köpper vom Dreier zu absolvieren. Nicht zu vergessen der allgegenwärtige Kicker, an dem man erste zarte Kontakte zum anderen Geschlecht ausprobierte. Die besten Chancen hatte der, der mit gnadenlosen „Rundschlägen“ die Gegner von der Platte putzte. Das Ganze wurde abgerundet mit einer Lakritzschnecke und einem Wassereis.

      Alles schön, wichtig und jugendprägend, aber beinahe acht Kilometer entfernt. In gleißender Sonne mit nackten Füßen hin – und zurück in nasser Badehose.

      Da wäre ein einfacher Sprung in den See direkt vor der eigenen Haustür schon dreimal wünschenswerter gewesen. Zarte Kontakte hin, Lakritzschnecke her.

      Ging aber nicht. War streng verboten und mit einem Zaun abgesichert.

      Die Rehe waren so scheu, dass sie wohl nur nachts zum Trinken kamen; gesehen hat sie jedenfalls nie jemand.

      Groß war die Entrüstung bei den einfachen Leuten, die hier wohnten, als der Eigentümer des Sees plötzlich auf die Idee kam, das gesamte Ufer als Bauland zu verkaufen.

      So einfach ging das natürlich nicht. Etliche Klagen bei Verwaltungsgerichten, unzählige Artikel in den regionalen Zeitungen, Interviews im lokalen Fernsehen, Protestaktionen vor dem Zaun und bitterböse Leserbriefe im lokalen Blatt waren die Folge. Sogar die Landtagsabgeordneten aller Parteien wurden zu einer Ortsbesichtigung eingeladen. Da aber gerade nicht Wahlkampf war, kam nur einer, der in der Nähe wohnte und wohl auch sonst nicht gerade überbeschäftigt war.

      Aber es half alles nichts. Jeder im Umkreis von fünf Kilometern kannte inzwischen das Naturschutzgebiet „Stiller Forst“ mit dem Diamantsee und dem brandenden Kampf zwischen einfachen Einheimischen und dem von außen hinein drängenden Kapital, das sich hier eine friedliche, aber mondäne Ruhezone wünschte.

      Nach nur vier Jahren wurde gebaut. Alle Prozesse waren verloren und die soziale Polarisierung des kleinen Vorortes vorprogrammiert.

      Der Vorbesitzer und seine Nachkommen hatten für alle Zeiten ausgesorgt.

      Die Rehe müssen wohl abgefunden worden sein oder haben von sich aus eine andere Tränke gefunden.

      Die Grundstücke waren binnen kürzester Zeit vergeben. Die Quadratmeterpreise wurden geflissentlich unter dem Deckel gehalten.

      Die Grundstückszuschnitte für die zweiundvierzig zu bauenden Häuser waren absolut großzügig und so gehalten, dass keiner mehr als unbedingt nötig die benachbarten Anwesen einsehen konnte. Der alte Baumbestand wurde so gut wie möglich vor den Baufahrzeugen geschützt und so als Sicht- und Sonnenschutz erhalten.

      Die Häuser waren groß, protzig und überwiegend an Hässlichkeit nicht zu überbieten. Jedem Psychologen gewährten sie - wie ein diagnostisches Hilfsmittel - einen tiefen Blick in das Innere des jeweiligen Bauherrn. Die gebogenen Riesengauben, im Volksmund schnell als „Rülpsdächer“ tituliert, die Säulenhallen und die den gesamten Garten verunstaltenden überdimensionierten Kunstwerke ließen auf problematische Kindheiten und endlich mit Wohlstand gekittete Minderwertigkeitsgefühle schließen.

      Nicht so das Haus von Verena.

      Es hat auch einen Säulenvorbau - aber mediterran. Und das ist nicht hässlich oder kitschig sondern modern und zeitlos. Zu mindest noch. Auch der Rest ist mediterran und mit Kunstobjekten hält sich Verena zurück. Da traut sie ihrem eigenen Geschmack nicht und fürchtet, sich lächerlich zu machen.

      Auch hatte sie nie die sozialen Probleme mit den „Ureinwohnern“, wie ein Großteil der anderen Neubürger.

      Wir haben keine Kinder. Verena wollte keine. Sie hatte Angst, von Karrierefrau und Erfolgsmensch auf das Niveau „Muddi“ abzustürzen.

      Die anderen Neubewohner des Dörfchens, überwiegend Professoren, Chefärzte, Wichtigtuer und Erben, haben durchaus Kinder. Viele dieser Kinder wissen um ihren besonderen gesellschaftlichen Status und die gut gefüllten Konten der Eltern. Und das zeigen sie auch gerne.

      Zur Schule, die etwa viereinhalb Kilometer entfernt ist, werden sie im SUV gebracht. Oftmals von Hausangestellten. Und das nicht nur, weil man ihnen die Strecke mit dem Fahrrad nicht zutraut, so wie es die einfacheren Kinder von der anderen Straßenseite halten. Eher fürchtet


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