Schlüssel zum Gestern. Erwin Böning
richtig einordnen können.
Also kommt die Arbeit vor dem Vergnügen. Ich hole den ersten Karton aus dem Eckregal und lasse ihn auf den Tisch plumpsen. Eine Staubwolke schießt nach allen Seiten. An der Außenseite des Kartons haben sich augenscheinlich mehrere Kellerasseln das Leben genommen.
Der Inhalt ist staubig und uninteressant. Gleich den ganzen Karton neben die Tür. Wird morgen entsorgt.
Der zweite Karton ist nicht minder staubig, aber interessanter. Alte Fotos: Verena in jung, Hochzeit im Prinzenpalais, Urlaube im Club, Bikinis, Yachten, Leute, an die ich ohne diese Bilder nie wieder gedacht hätte. Nicht einmal von der Hälfte würde mir der Name wieder einfallen. Klassentreffen, berufliche Erfolge. Viele Bilder haben alle Farben bis auf eine verloren. Die verbliebene ist in der Regel sepia-braun. In welchen fantastischen Farben die karierte Hose seinerzeit aufwartete, wird für immer ihr Geheimnis bleiben. Die Bilder eines bestimmten Zeitraums zeichnen sich durch abgerundete Ecken und einen Datumsaufkleber auf der Rückseite aus: Porst-Königsbilder. War damals etwas Besonderes. Heute sind sie genauso sepia-braun wie die anderen.
Genau erkennen kann man die historischen Übergänge von 9 x 13 auf 10 x 15 und später auf 13 x 18 cm. Heute kaum noch vorstellbar, dass man warten musste, bis man den 21er oder 36er Film „vollgeschossen“ hatte, ihn dann zum Entwickeln in einen Fotoladen bringen und noch ein paar Tage warten musste, bis man die Ergebnisse seiner Fotografierkunst bewundern konnte. Wenn die Urlaubsbilder nichts geworden waren, war der ganze Urlaub hin.
Wo genau das Schlüsselbund herkam, kann ich nicht mehr sagen. Es lief die astrologische Meldung über das „Schlüsselereignis“ im Radio und mir fiel das Schlüsselbund in den Schoß. Da ich über die Zufälligkeit des Augenblicks lachen musste, habe ich nicht darauf geachtet, wo es genau herkam. Es muss irgendwo zwischen den Bildern gesteckt haben, obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann.
Aus dem Schlüsselkasten kann es nicht gefallen sein. Jeder hat, glaube ich, so einen Aufbewahrungsort für alte Schlüssel. Bei mir ist es eine kleine Holzschachtel, in der früher einmal, wie die Aufschrift besagt, original Wiener Sachertorte im Miniformat verschenkt wurde. Ein kleiner Metallclip sorgt dafür, dass man sie verschließen kann und einem keine Schlüssel in den Schoß fallen.
Ich habe die Schlüssel mitten auf den Tisch gelegt, so dass sie mir alle paar Minuten ins Auge fallen. Ich kenne Sie. Aber wo gehören sie hin?
Endlich ist es dunkel genug. Ich drehe mir eine Zigarette wie früher. Das verlernt man tatsächlich nicht. Schon vor einer ganzen Weile habe ich mein altes Benzinfeuerzeug aufgetankt und mit neuem Docht und neuem Feuerstein versehen. Wenn schon – denn schon.
Ich lösche das Licht, öffne leise das Fenster und stelle die Whisky-Karaffe neben mich auf die Fensterbank.
Mir schlägt etwas kühlere Luft entgegen, die eine Mischung aus Natur und Fest mit sich trägt. Der Garten ist mit Fackeln erleuchtet. Zwischendurch dringt ein weibliches Lachen bis zu mir hoch. Auf dem Steg sitzen ein Mann und eine Frau eng nebeneinander. Womöglich bahnt sich dort der Skandal für die nächste Zeit an. Die Combo spielt noch, wenn auch leiser. Leider kann ich sie nicht sehen, die Gaube im zweiten Stock verdeckt sie. Wie oft sie wohl schon verstohlen auf die Uhr gesehen haben. Schwer verdientes Geld.
Ich inhaliere tief. Dazu winzige Schlucke Scotch. Alte Erinnerungen werden wach und mir wird ein bisschen schwindelig.
Und plötzlich weiß ich es!
Kapitel 2 Verena
Ich lebte damals, vor mehr als dreißig Jahren, als ich Verena kennenlernte, in einer kleinen Wohnung in Oldenburg. Es gibt dort eine Universität, an der man seinerzeit noch Psychologie studieren konnte. Der so genannte „Numerus Clausus“ hatte mich aus Nordrhein-Westfalen hier her geführt. „Je schlechter der Abi-Schnitt, um so weiter geht’s zum Studieren in den Norden“ hieß es damals - und das sollte witzig sein.
Tatsächlich ist es nicht ganz einfach, hier heimisch zu werden. Die Menschen sind ehrlich, aber schwer aufzuweichen. Die überschwengliche Freundlichkeit, die man uns Rheinländern nachsagt, trifft man hier überhaupt nicht an. Von uns behauptet man ja, abends dicke Freunde zu sein – morgens erkennt man sich nicht wieder und abends gibt’s wieder neue beste Freunde.
Da ist der Oldenburger anders: Freund bleibt Freund durch dick und dünn – aber bis es soweit ist, kann es Jahre dauern.
Dazu kommt ein miserables Klima. Die Sommer sind eigentlich gar keine Sommer. Nur der Regen wird wärmer. Ständig weht ein Wind, der richtig unangenehm werden kann, zumal man alle Wege mit dem Fahrrad zurücklegen muss. Öffentlicher Personennahverkehr ist so gut wie unbekannt. Außer bei Eisglätte. Dann fahren alle mit dem Bus und schimpfen über die Vollheit, über die „Scheiß-Busse“, die nie pünktlich kommen, auf die man ewig wartet, die gefühlt nur im Stundentakt verkehren und die reinweg unbezahlbar sind.
Sonst bei Wind und Wetter: Fahrrad. Ohne Regenjacke, Regenhose und Gummistiefel ist man aufgeschmissen. Was die Stadt allerdings außerordentlich liebenswert und sympathisch macht, ist der Umstand, dass das alle so machen. Und alle meint wirklich alle. Ich habe Hochschullehrer, Professoren und Dozenten gesehen, die in ebendiesem Aufzug abends ins Theater fuhren. Ohne dass man sich schämt oder es einem peinlich ist, zieht man sich die nassen Sachen im Foyer des Theaters aus und gibt sie an der Garderobe ab, als wenn es Pelzmäntel wären. Für Ärzte, Pastoren und selbst den Oberbürgermeister gilt das gleiche.
Vor dem Standesamt habe ich Brautleute ihr Fahrrad abstellen sehen, Trauzeugen ebenso und selbst der Standesbeamte.
Das Gute an dem ständigen Wind ist, das es in Oldenburg immer frische Luft für klare Gedanken und niemals so etwas wie Smog gibt. Oft bringt der Wind Andeutungen von Salz und Meer mit.
Wenn es an der nicht sehr weit entfernten Küste stürmt, fliehen die Möwen oft ins Binnenland bis nach Oldenburg. Ihr Geschrei weckt Urlaubserinnerungen, wie es sonst eigentlich nur der Duft von Sonnenöl fertig bringt.
* * *
Meine Wohnung damals war nicht gerade billig: Vier Zimmer, Küche, Bad, Flur und sogar ein kleiner Garten für 280,- DM plus Nebenkosten. Bei 490,- DM BAFöG im Monat, war das sportlich und ging nur, indem ich regelmäßig mit Nachhilfe, Ferienjobs und allem, was irgendwie Geld ins Haus brachte, nachhalf.
Da die Wohnung insgesamt nur über 37 qm verfügte, kann man sich die Größe der einzelnen Zimmer in etwa ausmalen. Vom Garten sagte einmal ein Kommilitone: „Er ist zwar nicht breit und auch nicht tief – aber dafür unheimlich hoch“.
Auf jeden Fall stimmte das Chi - wenn man das im Feng-Shui-Deutsch so sagen kann: Reinkommen und sich wohl fühlen war eins.
Sie lag in einer relativ wenig befahrenen Straße nahe der Innenstadt im Erdgeschoss eines Anbaus, der zu einem alten Oldenburger Bürgerhaus gehörte, das man hier „Hundehütte“ nennt (wohl weil Oldenburg am Fluss Hunte liegt). Der Anbau lag ein wenig zurückversetzt und wurde durch einen Fahrradunterstand und diverse Mülltonnen von der Straße getrennt.
Das eigentliche Leben fand im Haupthaus statt. Die Vermieterin, Frau Alma Lebedow, war 84 Jahre alt und hatte jedes noch so kleine Zimmerchen in ihrem Haus an Studenten oder sonstwie gescheiterte Menschen vermietet. Sie wohnte im ersten Stock und war, wie sie mir einmal erläuterte, fallsüchtig. Deshalb habe ich sie außerordentlich selten im Anbau zu sehen bekommen – die anderen Mieter munkelten aber, dass Frau Alma Lebedow durchaus einmal durch alle Zimmer schlich, wenn sie verlässlich wusste, dass die Mieter sie in absehbarer Zeit nicht überraschen konnten.
Ich sah sie immer, wenn ich einmal im Monat die Zähler im Haus für sie abgelesen und für jeden Mieter eine eigene Abrechnung erstellt hatte. Dann ging ich zu ihr, musste auf dem Kanapee Platz nehmen, bekam einen Eierlikör (sommers wie winters) und musste mir etwa zwanzig Minuten Geschichten aus dem Krieg, vor dem Krieg und aus ihrem bewegten Leben anhören, bis ich meine zwanzig Mark bekam und mich verabschieden durfte. Wir waren fast so etwas wie Freunde.
Die zwanzig Mark trug ich regelmäßig zum Griechen, wo ich mit einer Freundin stets Nr. 68 aß und den Rest des Geldes in Bier und Ouzo investierte.
Als