TIERE FRESSEN MENSCHEN.. Roy Koepsell

TIERE FRESSEN MENSCHEN. - Roy Koepsell


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fand er nicht.

      Knut ging zur Toilette, setzte sich passgenau auf die Schüssel und startete ein zweites Mal den Mitschnitt seines Handys:

      Acheron steht;

      rauer Wind weht

      die Leiden fort –

      Odium geht.

      Mensch, werde Mensch!

      Unerwartet drängelte sich ein erbärmliches Quieken in die Aufnahme, welches so nur Schweine ausstoßen, die sich von ihren Todesängsten überwältigt fühlen. Knut ließ das Smartphone auf den Boden fallen und drückte seine beiden, zu Fäusten geballten Hände, auf sein linkes und rechtes Ohr. Sogleich presste er seine Augen zusammen und verharrte in der Hoffnung, das Geräusch würde schnellstmöglich weichen. Er atmete etwa dreißig Mal tief durch und mit dem Heben und Senken seines Brustkorbes kehrte tatsächlich Ruhe ein. Nach einigen Minuten der Körperstarre machte sich ein greller, analytischer Ton breit, dessen Schwingungen zielgerichtet die Toilette erreichten. Es war vier Uhr und der Wecker klingelte. Zeit, zu duschen.

      Der Wasserstrahl verteilte sich halbwegs gleichmäßig über Knuts Körper. Hier und da half er nach und lenkte das kühle Nass ebenso in jene Bereiche, die weniger gut mit Wasser benetzt wurden. Er war nicht nur körperlich nackt, er fühlte sich auch innerlich freigelegt und zunehmend ausgedünnt. Als ob sein Innerstes ununterbrochen nach Wegen suchte, um ihn und seine physische Hülle zu verlassen. Vielleicht duschte er gerade seine eigene Persönlichkeit ab. Womöglich glitt in diesem Moment alles aus ihm heraus, das ihm lieb und teuer war. Knut befand sich in einem Gedankenstrudel. Er wollte nicht, dass er sich auföst. Sogleich stellte er die Dusche ab und patschte mit nassen Füssen auf den gefiesten Boden. Das Badezimmer besaß kein Fenster, sondern nur einen Luftschacht, der die Feuchtigkeit nach außen beförderte. Knut wischte die Fliesen akribisch trocken und bemerkte nach einigen Minuten, dass er in Verzug war. Um nicht zu spät auf Arbeit zu erscheinen, nahm er fink seinen Rucksack und packte eine Tüte Würstchen ein. In der SBahn würde er genug Zeit haben, um zu frühstücken. Als er die Tür zu seiner Wohnung penibel abschloss, war es 05.06 Uhr. Eine Minute später als sonst. Höchste Zeit, zur Arbeit zu starten.

      In siebzehn Minuten würde die Sonne aufgehen. An diesem kühlen Sommermorgen im Juli war es fast windstill. Minimale Luftzüge wechselten zusammen mit wenigen Passanten die Straßenseite. Knut hielt Abstand zu jedem Menschen, der in sein Sichtfeld gelangte. Mal schaute er auf den Boden, mal in die entgegengesetzte Richtung. Und doch stets gezielt einen anderen Weg suchend, als seine Mitmenschen ihn wählten. Er beeilte sich dennoch, schließlich wollte er die S-Bahn nicht verpassen. Knut suchte seinen Platz im Waggon sehr gezielt aus. Wie voll war der Mülleimer neben der Sitzreihe? Fanden sich Süßigkeitenreste auf den Polstern? Roch es nach Schweiß oder gar Urin? Mit wie vielen Menschen entstand ein möglicher Blickkontakt? Knut bewegte sich hypnotisch durch den Zug und setzte sich nach einigem Zögern. Nur eine junge Frau erspähte sein Sichtfeld. Sie war Mitte dreißig, locker gekleidet und ihre blonden Haare felen linksseitig auf die Sitzlehne.

      Die glatte Mähne war zum Zopf gebunden und mit einem Haargummi fxiert. Die Frau bewegte sich wenig, sodass nicht zu erwarten war, dass viele Haare durch den Waggon wandern werden. Knut entspannte sich leicht, lehnte sich an seinen Polstersitz und schaute auf seinen Zeitmesser. Es handelte sich um eine traditionelle Ruhla-Armbanduhr aus vergangenen DDR-Tagen, die er von seinem Großvater geschenkt bekam, als er sieben Jahre alt war. Das Zifferblatt war in einem edlen Braunton gehalten, der dem reifer Haselnüsse glich. Die arabischen Zahlen verweilten ruhig und sachlich am äußeren Gehäuserand der Uhr. Lediglich der schwarze Sekundenzeiger sorgte für ein wenig optisches Aufsehen, weil er etwas Magisches in sich verbarg. Kurz, schmal und ein wenig artfremd mutete dieser an, so als gehöre er gar nicht zur Uhr und wurde nachträglich implementiert. Das dunkelbraune Lederband ließ Knut nie tauschen, schließlich sollte die Erinnerung an seinen Großvater jene bleiben, die tief in ihm verankert war. Viel zu früh segnete ihn das Zeitliche, dachte er sich und stoppte den Gedankengang ebenda, um nicht in Sentimentalitäten abzudriften. Es war

      05.23 Uhr. Sonnenaufgang. Doch die Sonne war nicht zu sehen, als sich die S-Bahn durch die engmaschigen Straßen und Häuserblöcke schlängelte. Ruhe bewahren.

      Der Feind lauert nicht außerhalb –

      er ist ein Teil von dir.

      KAPITEL ZWEI.

      Diese Uhr ist sein Heiligtum und mit absoluter Hingabe beschützt er seinen Zeitmesser – komme, was wolle.

      Ende Juli 1986 muss es gewesen sein als Knut die Ruhla-Armbanduhr von seinem Großvater erhielt. Es war ein bunter Sommertag, der seine Wärme mit gekonnten Mitteln über das Land stülpte. Eine große Hitzewelle war es nicht, allerdings brachte der mäßige Südostwind weder sanfte Erfrischung noch stehende Hitze mit sich. Für Knut fühlte es sich so an, als würde Opa ihm ununterbrochen ins Gesicht pusten, um den kleinen Kratzer in seinem Antlitz schnellstmöglich zu heilen. Er war vor einigen Tagen mit seinem roten 24-Zoll-Rad gestürzt, als er einen unscheinbaren Hügel hinunterfahren wollte, der in einer fachen Grasfäche mündete. Als er bereits fast unten angekommen war, übersah Knut einen Maulwurfshaufen und fel aus satter Geschwindigkeit kommend zu Boden. Der Erdaushub bremste sein Vorderrad im Nu ein und er fog im extrahohen Bogen über den Lenker. Auf der Wiese gelandet, tastete er sich kurz ab und wusste intuitiv, dass an ihm alles in Ordnung war. Nur seine rechte Wange schien einen Kratzer abbekommen zu haben. Knut richtete sein Gefährt wieder auf und schaute mit Argusaugen, ob sein geliebter Drahtesel intakt ist. Doch bis auf etwas frischen Mutterboden, der sich überall im vorderen Bereich seines Rades fand, machte „Rot Runner“ einen unversehrten und fahrtüchtigen Eindruck.

      Seine Großeltern hatten ihm das Gefährt vor etwa drei Monaten vom Flohmarkt mitgebracht – in guter Absicht, dass Knut nun endlich Fahrrad fahren üben könnte.

      Er tat sich zu Anfang (gewollt) etwas schwer und am willkommensten war es ihm, wenn sein Opa ihn samt der Stützräder durch die Gegend schob. Sein Großvater war ein lieber Mensch. Ein geduldiger Unterstützer, ein loyaler Fürsprecher und ein verlässlicher Gefährte. Und er hatte Freude daran, wenn sich sein Enkel vom ihm durch die Gegend kutschieren ließ. Doch an diesem Julitag war Knut sicher im Umgang mit seinem Rad – zumindest so geübt, wie es ein Siebenjähriger mit drei Monaten Fahrpraxis sein konnte. Er lernte schnell und besaß enorme kognitive Fähigkeiten, die es ihm erleichterten, seine Umgebung passgenau einzuordnen. Dass er mit seinem „Rot Runner“ an diesem Sommertag stürzte und im Zuge dessen einfach einen etwa zwanzig Zentimeter hohen Maulwurfshügel übersah, musste andersartige Gründe haben.

      Als er die vier Kilometer zum Haus seiner Großeltern zurück geradelt war, saß sein Opa auf der Terrasse und sortierte Schrauben von einem Behälter in den anderen. Als Werner bemerkte, dass Knut am unteren Ende des Gartengrundstückes auftauchte, hob er seinen Blick und spürte in Windeseile, dass irgendetwas anders war. Und siehe da, nach kurzer Musterung stellte er fest, dass Knut eine frische Wunde an seiner linken Wange hatte. Werner stütze sich auf die beiden Lehnen seines Gartenstuhls, stand auf und begab sich schnurstracks zu seinem Enkel.

      „Knut, was hast du denn gemacht? Junge, komm’ mal her!“

      Er begutachtete Knuts lädierte Wange, sammelte etwas Spucke auf seinem rechten Daumen und wischte das angetrocknete Blut von der Backe des Enkels. Einen feinen roten Strich ließ Werner bewusst stehen und lächelte.

      „So mein Freund, nun bist du ein echter Indianer! Junge, wann bauen wir denn dein Tipi? Ich hab’ gerade meine Schrauben sortiert, damit wir die Richtigen zur Hand haben. Dass alles stabil wird und wir dein Tipi gut über den Winter bekommen.“

      Werner hatte eine Art an sich, die in wenigen Worten schwerlich zu beschreiben ist. Was aber als Eindruck blieb, ist, dass er eine Warmherzigkeit in sich trug, die nicht nur dem Südostwind jener Tage Konkurrenz machte. Vielmehr wusste er mit sanfter Männlichkeit auf Knut einzugehen und war rasch in der Lage, die Stimmungslage seines Enkels zu deuten. So auch heute, nach dem Sturz über den Maulwurfshügel. Knut gab keine Antwort auf die Frage, wann der Tipi-Bau starten sollte. Er lächelte zaghaft und war innerlich mit Freude erfüllt, verlor aber keinen einzigen Satz. Er hatte in seinen frühen Kindheitsjahren gelernt, dass auf Menschenworte


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