das Fahrrad der ewigen Stille. hedda fischer
Einer wohnte in ihrer Straße, dieser Noah. Denn zu diesem Zeitpunkt waren sie schon in die Cambridger Straße umgezogen. Eigentlich hätten die beiden zusammen zur Schule und nach Hause gehen können. Aber das geschah selten. Sie gingen oft nur hintereinander her. Vielleicht lag es auch an Noahs Familie. War ja auch nicht das Wahre ! Der Vater kellnerte in dem Restaurant des Kaufhauses Wertheim in der Schlossstraße. Sechs Tage die Woche. Zumindest kam er abends nach Hause und musste nicht - wie andere - die halbe Nacht arbeiten und vielleicht noch mit Kollegen einen trinken gehen. Seine Mutter ? Sie wusste es nicht.
Sie sagte oft zu ihm
»Nun lade doch mal einen von deinen neuen Klassenkameraden ein.«
Darauf antwortete er gar nicht. Sie wusste nie warum.
Das änderte sich eines Mittwochs ( sie stand gerade auf dem Balkon ), als die Zwillinge aus der dritten Etage Noah in die Zange nahmen und versuchten, ihm seinen Schulrucksack zu entreißen. Noah wehrte sich. Sie boxten ihn, und sie waren zu zweit. Benjamin sah es auch, zögerte nur einen winzigen Moment und rannte hinzu. Schlug auf einen der beiden ein, sie wusste nicht, ob es Moritz oder Kai war, sie konnte die beiden ohnehin nicht auseinanderhalten. War ja auch egal.
Nach kurzer Zeit ließen die Jungen voneinander ab, keiner hatte gewonnen, aber die Angreifer hatten zumindest den Rucksack nicht entwenden können. Schwer atmend blieben sie stehen und sahen sich an. Die Zwillinge wechselten einen Blick, sagten im Weggehen zu Benjamin etwas. Später erzählte er, dass sie ihm gedroht hatten.
»Pass auf, wenn wir dich allein erwischen …«
Sie fragte nach, aber der Sohn winkte ab.
Damit würde er schon fertig, sagte er.
4 – Benjamin ( 12 Jahre )
Noah und er wischten sich nach der Prügelei verlegen die Hände an den Jeans ab, räusperten sich und gingen schweigend die paar Schritte weiter bis zu dem Block, in dem Noah mit seiner Familie wohnte.
»Komm mit ’rein«, sagte der kurz.
Benjamin nickte und folgte ihm. Die Wegners wohnten in der ersten Etage, in der sich die größeren Wohnungen befanden. Auch Noah hatte einen eigenen Schlüssel. Er schloss auf und rief:
»Ich bin da.«
Eine alte Frau erschien in der Küchentür. Noah gab ihr einen Kuss auf die Wange. War das die Mutter ? Nein, es war die Oma. Er wurde kurz vorgestellt. Noah winkte ihn in sein Zimmer, ging dann in die Küche und holte zwei eiskalte Colas. Sie setzten sich, Noah auf das Bett, Benjamin auf den Schreibtischstuhl. Sie schwiegen einen Moment.
»Kennst du die beiden ?«
»Ja«, sagte Benjamin, »sie wohnen in meinem Block im dritten Stock. Ich sehe sie nicht so oft, sie gehen auf eine andere Schule, aber sie versuchen immer wieder, mich zu beklauen.«
Ein Moment Pause. Dann setzte er hinzu:
»Aber sie schaffen es nicht.«
Das stimmte nicht ganz, aber er wollte nicht zugeben, dass er meist der Unterlegene war. Er hatte Kraft und konnte zuschlagen, aber gegen zwei kam er nicht an, schon gar nicht, wenn sie ihn unglücklicherweise in eine Haus- oder Park-Ecke gedrängt hatten.
Von dem Tag an gingen sie ab und zu zusammen von der Schule bis in die Cambridger Straße. Für ihn fühlte es sich so an, als ob sie befreundet wären. Er trödelte oft herum, um auf Noah zu warten. Aber der unterhielt sich mit Klassenkameraden, zog Benjamin nicht mit ins Gespräch, ging einen anderen Weg oder spielte gleich nach der Schule beim BSC Rehberge Fußball. Der Club lag in der Afrikanischen Straße, nicht weit von Schule und Wohnung entfernt. Benjamin war einmal dorthin gegangen, hatte so getan, als wäre er zufällig vorbeigekommen und eigentlich hatte er mitspielen wollen. Der Trainer hatte gefragt, ob er Mitglied wäre und als er das verneinte, ob er Mitglied werden wolle … Er hatte die Schultern gehoben. Sich nicht getraut, nach der Beitragshöhe zu fragen. Getan, als ob es ihm egal wäre, ob er nun mitmachen durfte oder nicht. Dabei wünschte er es sich. Wünschte sich, irgendwo dazu zu gehören. Sich mit anderen auszutauschen. Freunde zu haben.
Einen Sonnabendnachmittag waren Noah und Benjamin zum Olympia-Stadion gefahren. Das hatte sich eher zufällig ergeben, denn er hatte Taschengeld bekommen – diesmal reichlich, was damit zusammenhing, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, weil sie einen neuen Bekannten mitbringen wollte.
Ihm war die Sache sofort klar gewesen. Denn diese Situation kannte er seit Jahren. Wenn seine Mutter freundlich und aufmerksam war, mit ihm neue Kleidung kaufen ging, sich überhaupt für ihn interessierte, dann stand ein neuer Mann ins Haus. Sie trank dann nicht viel, nur eben so viel, um bei Laune zu bleiben. Sie ging zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sie kochte. Die Wohnung wurde geputzt. Sie tat alles, was richtige Mütter eben so tun.
Er hatte im Vorübergehen auf Plakaten gelesen, dass das Olympia-Stadion einen Tag der Offenen Tür veranstaltete, an dem man sich alles ansehen konnte und an dem Sportvereine Informationstische aufstellen würden. Also waren Noah und er Sonnabendmittag zum Stadion gefahren. Man brauchte zwar noch eine Jacke, aber eine Jeansjacke reichte, die Sonne schien. Sie waren ausgezeichneter Stimmung, redeten laut, sogar Noah, der sonst eher der ruhige Typ war. Sie blödelten herum, lästerten über die Mitfahrenden in der U-Bahn, fühlten sich stark und unangreifbar.
Die verschiedensten Vereine hatten Tische aufgestellt, Flyer ausgelegt, Landkarten aufgehängt, Vereinserfolge aufgelistet. Da gab alles: Fußball, Handball, Tischtennis, Radfahren, Tennis, Hockey, Basketball, Leichtathletik, sogar Voltigieren … einfach alles ! An jedem Stand waren Mitglieder, Trainer und junge Leute zugange, die Fragen beantworteten und neue Mitglieder anlocken wollten.
Noah und Benjamin schlenderten herum. Tennis kam gar nicht in Frage, zu teuer. Und all diese feinen Clubs, da hätten sie gar nicht gewusst, wie sie sich benehmen sollten. Tischtennis ? Nein, dieses schnelle Hin- und Herspringen lag beiden nicht, hinzu kam, dass Benjamin Muskelmasse hatte und sich nicht schnell bewegte. Langsam war einfach cooler. Für Basketball waren beide zu klein. Hockey – egal ob Rasen- oder Eishockey – kam auch nicht so recht in Frage. Außerdem hatte er noch nie Schlittschuhe an den Füssen gehabt. Und bei Noah herrschte auch nicht so ein Wohlstand, dass er eine Beteiligung ins Auge gefasst hätte. Voltigieren ? Noah sah sich die Informationen genau an. Nein, für Benjamin war das nichts. Das machten nur kleine Mädchen.
»Wo willst du denn das Pferd hintun ?« fragte er grinsend, »auf den Balkon ?«
»Ich hätte gern eins«, sagte Noah.
Benjamin sah ihn überrascht an. Das hatte nachdenklich geklungen.
»Wäre schön, so ein Tier«, sagte Noah, ein wenig verlegen. Er sah ihn nicht an, sondern guckte in der Gegend herum.
»Naja«, sagte Benjamin zögernd, »aber ein Pferd ? Nimm doch einen Hund.«
»Geht auch nicht«, sagte Noah, »wo soll der tagsüber bleiben ? Meine Eltern arbeiten, ich gehe zur Schule, und Oma kann nicht gut laufen.«
Ein Moment des Schweigens.
»Aber ich hätte schon gern ein Tier …«
Sie schlenderten schweigend weiter, kamen an den Stand des Radsportvereins RC Charlottenburg. Dort standen keine anderen Leute, daher konnten sie die ausgelegten Informationen in aller Ruhe in Augenschein nehmen. Es stellte sich heraus, dass Jungen jeden Alters mitmachen konnten, besser gesagt mindestens fünf Jahre alt sollte man schon sein. Wer kein Fahrrad besaß und sich auch keins leisten konnte, bekam erst einmal eins gestellt, das er allerdings nicht mit nach Hause nehmen durfte, weil es von mehreren Jungen benutzt werden musste. So viel Material hatte der Club nun auch nicht zur Verfügung.
Sie durften verschiedene Fahrräder ausprobieren. Der Trainer sah zu. Benjamin fühlte sich beschwingt wie schon lange nicht mehr. Ein Fahrrad hatte er nur in frühen Jahren besessen, das letzte stand wahrscheinlich - ihm längst zu klein geworden - noch im Keller. Hier gab es neue Modelle. Leicht und leichtgängig, obwohl es sicher nicht die teuersten waren.
Er war begeistert. Ließ sich die Gänge erklären, fuhr eine weitere Runde, wechselte