DER ÜBERHEBLICHE. Dr. Friedrich Bude

DER ÜBERHEBLICHE - Dr. Friedrich Bude


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Haushaltwarengeschäft auf der anderen Marktseite, seit dem Auszug der Russen statt Zahnarzt Pauling unter ihnen wohnend, klingelten oft entnervt: „Das kann man ja nicht aushalten. Muss der Junge denn immer das Gleiche spielen? Und dann noch um die Mittagszeit!“

      Eigentlich tat er nur das Nötigste.

      Erst am Vortag des wöchentlichen Klavierunterrichtes begann das intensive Üben. Sein mäßiges Können wurde vom Lehrer geduldig ertragen, die Klavierstücke seinem Niveau angepasst. Arbeitslos, als von der neuen Gesellschaft entlassener Lehrer, war er auf dieses geringe Zubrot angewiesen. Einer der vielen Altlasten des kommunistischen Neulehrersystems, verdingte sich mit Privatunterricht, spielte zu Tanzstunden auf.

      Einmal, voller Neugier, ob er das merkt, lauerte der Klavierschüler dem Lehrer am Erkerfenster auf, als der unter dem gegenüber der Hausfront vorstehenden Turm vorbeiging. „Dem kann ich ja direkt auf den Kopf spucken - nee, das geht nicht. Der Wind weht alles weg!“ Mit einer vollen Tasse Wasser zielt er, schließt schnell das Fenster. - Es klingelte, der Lehrer muss sich beschwert haben. Außer Schimpfe gab es aber zum Glück von Muttern nichts. Der Lehrer brauchte diesen Job, hat sich beim Schüler nie was anmerken lassen.

      Am bewussten 17. Juni 1953 stümpert Edub diesem gerade sein Geübtes vor, als vom Markt laute Rufe und Sprechchöre ins Wohnzimmer schallten. Natürlich wird Edub unruhig, begehrte auf, machte darauf aufmerksam.

      Jetzt Pause machen und die Stunde ist schneller vorbei!

      Neugierig rennt er ans Fenster. Vor dem Rathaus, ein Pulk von Menschen. Über die gesamte Marktbreite. Immer neue kamen hinzu, das Podest vom Kandelaber war besonders dich besetzt. Plakate wurden hochgehalten. Jetzt wurde aus dem Rufen ein Chor: „Butter und Brot statt höhere Normen!“

      Auf das Rathausportal über dem Torbogen des früheren Ratskellers führt eine Treppe. Dort oben hält jemand eine Rede. Auch das Portal ist voller Leute.

      Immer wieder neue Redner. Die Menschen auf dem Markt schreien durcheinander, sich gegenseitig an.

      So was gab es doch noch nie!

      Sonst wurde nur „Hurra“ rufend marschiert, gesungen, wurden Plakate und Fahnen geschwenkt. Vor dem Haus, direkt unterm Schlafzimmerfenster, war dann eine Tribüne aufgebaut. Dort stand der Bürgermeister mit vielen anderen wichtigen Leuten, winkte den Demonstranten zu. Marschmusik schallte schon früh um Sieben über den Marktplatz, so dass zeitig geweckt wurde.

      Oben auf dem Rathausportal hatte aber noch nie etwas stattgefunden.

      Der Klavierlehrer wohnte auf der unteren Marktseite. Besorgt wegen der Massen vor seinem Haus verabschiedet er sich.

      Klasse, dass der ging!

      Am geöffneten Erkerfenster des Turms kann Edub alles genau überblicken.

      Die oben auf dem Rathausportal versuchen ein Lied anzustimmen. Na endlich - so wie am 1 .Mai - nee - jetzt wieder laute Pfiffe, Buhrufe! Der Gesang stirbt langsam, durch Gegröle und Gelächter unterbrochen.

      Ein Russen-Jeep kommt angebraust. Vier Uniformierte drin, einer schießt mit der Pistole in die Luft.

      „Frieder, sofort zurück vom Fenster! Mach das Fenster zu!“ ruft Mutti aufgeregt, besorgt.

      Ein Teil der Leute flüchtet. Andere ziehen Richtung Amtsplatz um die Ecke. Wir hören diese noch lange durch die Straßen ziehen.

      Er durfte das Fenster nicht wieder öffnen, auch nicht auf die Straße, hockte anfangs hinter der Scheibe.

      Eigentlich wollten sie im Garten Skat spielen. Sein Klassenlehrer, der welcher ihm wegen seiner dummen Frage den Spitznamen „Edub“ verpasste, hatte den damals 11-Jährigen schon das Skatspielen gelehrt. Diesmal blieben die Freunde aus. Der Topf für die Limo stand schon bereit. Nur das Wasser, dem Zucker und Essig zugemischt wurde, fehlte.

      Gelangweilt klimpert Edub wieder auf den Klaviertasten:

      „Bravo, bravo, beinah wie Caruso“, in C-Dur lässt sich das leicht spielen. Sein erster Schlager! Seine Schwester Renate hat ihm die Bass-Begleitung der linken Hand dazu beigebracht.

      Immer wieder wechselt er zum Fenster:

      Laufend kommen neue Leute in kleinen Gruppen, versammeln sich erneut vorm Rathaus, es wird diskutiert.

      Der dicke Konditor Döring mit schneeweißer Arbeitskleidung, bei dem gibt es in der Mittelstraße im Treppenhaus in der Nische unter den Stufen den Eisstand, ist auch dabei. Weitere Leute schreien, zeigen Fäuste Richtung Rathaus. Der Weißkittel liefert sich ein Rededuell hoch zum Rathausportal, stürmt die Treppe dort hinauf - Gedränge, Schubsen - legt sich mit dem Redner an. Zu weit entfernt, kann Edub vieles nur undeutlich wahrnehmen.

      Später, dumpfer brummender Motorenlärm von der Gößnitzer Straße - auf, auf, zum Fenster - nichts zu sehen - aber das Geräusch kannte er von damals.

      1945, als die Amis mit den Panzern über den Markt fuhren. Nur die dicken Ketten, die großen Räder, die vorbeiratternden Eisenflächen der Panzer konnte er damals sehen. Höher reichte der Blickwinkel des Fenstersturzes im Keller nicht.

      Diesmal hört er am Turmfenster nur Brummen und Rumpeln. Es muss ein Panzer bis zur Marktecke gefahren sein, denn erschrocken ängstlich lösen sich die Grüppchen auf, flüchten in die angrenzenden Straßen.

      Der Markt ist menschenleer.

      So die Erinnerungen des 13-jährigen Blauen Edub.

      Schluss mit lustig! - Rekonstruktion der Schmöllner Ereignisse durch den gealterten Edub.

      Die Macht aus dem Osten mit ihren grausamen deutschen Handlangern, die abgeschirmt vom Volk, anonym als Staatssicherheit nach stalinistisch-tschekistischem Vorbild ungestraft agierten, prägten das grausame Geschehen des „Tages X“, des 17. Juni 1953.

      Ob Kommunisten, welche zur damaligen Zeit des Umbruchs felsenfest überzeugt, oder Leidtragende, welche verbittert vom Ort der Geschehnisse berichten - alle waren ohnmächtig der zentralisierten Herrschaft ausgeliefert.

      Ein halbes Jahrhundert ist vergangen. Die Erinnerungen verblassen. Der Rückblick von Zeitzeugen ist gekennzeichnet durch subjektive Detaildarstellung, aus ihrer Sicht, ihrer Überzeugung, je nach Betroffenheit.

      Heinz Horn wurde am Morgen des Tages X in die Zentrale nach Gera abkommandiert. Den neuen Sekretär für Organisation beim RAT, wie die Verwaltung des Landkreises volkstümlich genannt, hatte man durch das Studium an der kommunistischen Parteischule als zukünftige politische Führungskraft der SED qualifiziert.

      Nachdem die ersten Arbeiterunruhen im Raum Halle bekannt wurden, sollte er Direktiven für das weitere Verhalten des RATES einholen.

      Der junge Horn, vom Vater politisch geformt, stammte aus einfachen Arbeiterkreisen, hatte Schlosser gelernt, im Gaswerk als Monteur gearbeitet. Vater Ernst Horn, Knopfarbeiter und alter SPD-Mann, hörte schon zu Beginn der Machtübernahme Hitlers RADIO MOSKAU, war so über dessen Grausamkeiten aufgeklärt.

      Durch Zufall stehen damals bei einem Ausflug des Arbeitersportvereins der alte und der junge Horn auf der Gößnitzer Bahnhofsbrücke. Unter ihnen rollt ein langer Güterzug, voll gestopft mit Menschen: „Guck dir das genau an! Juden - zusammengepfercht in den offenen Waggons. Der Zug geht nach Auschwitz oder auf den Weimarer Ettersberg - die werden vergast!“

      Ein schrecklicher Anblick für den Jungen.

      Nur einmal bekam Sohn Horn vom Vater eine gelangt, dass er unter den Tisch flog:

      „Vater, ich will nach Hamburg zur Handelsmarine!“

      Wumm, da hat es geknallt, die Backe färbte sich rot:

      „Die bereiten einen Krieg vor! Dann bist du nicht mehr Handelsmarine, wirst zur Kriegsmarine abkommandiert!“

      Fortan musste der Junge täglich abends heimlich mithören, am Radio.

      Nach dem Krieg hat Vater Horn mit einem weiteren Genossen die KPD mit der SPD in der Stadt zusammengebracht und so die Schmöllner SED gegründet, im Alter als Parteiveteran stolz


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