Erzählwege. Regina Richter
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Regina Richter
Erzählwege
© 2020 Regina Richter
Umschlaggestaltung, Illustration: Uta, Pihan
Korrektorat: Querner, Jörg, www.anti-fehlerteufel.de
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: | 978-3-347-09849-7 |
Hardcover: | 978-3-347-09850-3 |
e-Book: | 978-3-347-09851-0 |
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Kindheit
Die Geschichte von Großvater Maus
Kapitel 2: Im Wald
Kapitel 3: Der Tag
Kapitel 4: Die Rückkehr des Vaters/ Basis (erzählt von Marie)
Kapitel 5: Die erste Variante der Geschichte: Anton geht, Marie bleibt (erzählt von Marie)
Anton macht sich auf (erzählt von Marie)
Maries Leben (erzählt von Marie)
Die Geschichte mit dem Wolf
Antons weiterer Weg (erzählt von Marie)
Die Geschichte der kleinen Fee
Bei Familie Reichert (erzählt von Marie)
Die Geschichte von den Feldhamstern
Antons Heimweg (erzählt von Marie)
Der schwere Brief an den Bruder (erzählt von Marie)
Kapitel 6: Die zweite Variante der Geschichte: Marie geht, Anton bleibt (erzählt von Anton)
Marie bricht auf (erzählt von Anton)
Antons Entscheidung (erzählt von Anton)
Maries Erlebnisse (erzählt von Anton)
Antons eigene Schritte (erzählt von Anton)
Maries Veränderungen (erzählt von Anton)
Die Geschichte der Mäuse Naton und Miera
Antons Werdegang (erzählt von Anton)
Maries neuer Kurs (erzählt von Anton)
An Vaters Bett (erzählt von Anton)
Die Geschichte des riesenhaften Mädchens
Kapitel 7: Franz nimmt Einfluss
Kapitel 8: Die dritte Variante der Geschichte: Marie und Anton verlassen den Hof (erzählt von Marie)
Die Geschwister gehen fort (erzählt von Marie)
Kapitel 1: Kindheit
»Auf sie mit Gebrüll!«
»Attacke!«
Ganz hoch oben in der Scheune, tief drinnen im warmen Heu duftet es nach trockener Sonne. Die unzähligen miteinander verhakten Halme geben knisternde Laute von sich, ganz gleich ob man vorsichtig versucht über sie zu schleichen, sie wild nach oben wirft, damit sie sich in den Haaren verfangen, oder man bäuchlings auf ihnen liegt und sich dabei ihre feinen Spitzen vorwitzig in die Haut hineinbohren.
»Heufresserchen!« Dem Bruder, zwei Köpfe kleiner, gelingt es, seiner großen Schwester eine Hand voll getrockneten Grases von hinten in den Kragen zu stecken.
Laut kreischend dreht sie sich zu ihm um, bekommt seine kleine Hand zu fassen, doch er lässt nicht locker, krallt sich noch ernsthafter fest. Wild entschlossen blickt er dabei drein, ganz so, als könne nichts und niemand ihn von seinem Plan abbringen.
Ihre Arme und Beine ineinander verkeilt, kullern sie übereinander her und liefern sich übermütige Schlachten, bewaffnet mit ausgedörrten, duftenden Grashalmen, die sie gleich Schwertern von sich recken. Die unbarmherzigen Duelle werden immer verschwitzter ausgetragen in einem Meer aus vergangenen Blüten, Gräsern und Blättern, die durch den Entzug von Wasser unsterblich gemacht wurden.
»Komm, Mieze.« An anderen Tagen wiederum ist dieser Ort gekennzeichnet von einer friedlichen Ruhe, die durch das Rascheln des Heus eher begleitet, denn unterbrochen wird. Meist sucht sich eine der vielen Hofkatzen hier oben behaglich schnurrend ihren Schlafplatz. Wie auf einem weichen Lager gebettet, ruhen die kleinen Kinderkörper neben dem eingerollten Fellknäuel auf luftkammergefüllten Heukissen, die Beine verschränkt, jeder einen zerkauten Grashalm im Mundwinkel. Eine kleine Luke oben im Scheunendach sorgt für Belüftung und manchmal, wenn sie sich in der Dunkelheit hier hochschleichen, offenbart ihnen dieses kleine Fenster einen winzigen Blick in einen glänzenden Himmel, der ihnen bereitwillig als Vorlage für ihre kindlichen Fantasiesprünge dient.
»Erzähl mir doch bitte eine Geschichte«, bettelt der kleine Junge seine ältere Schwester regelmäßig an. »Eine von deinen Mäusegeschichten.«
»Aber ich habe dir doch erst gestern eine erzählt«, ziert sie sich meist zunächst. »Jetzt bist du mal dran.«
Doch lange kann sie ihrem Bruder diesen Wunsch nie abschlagen, weder als kleines Mädchen noch als heranwachsender Teenager. Zudem hat sie selbst zu viel Freude beim Basteln der Geschichten und an dem Glitzern in seinen Augen, wenn er ihnen bedächtig lauscht. »Aber nur, wenn du mir nachher auch eine erzählst«, gibt sie den Startschuss. Obwohl sie ihm sein eifriges Nicken nicht ganz abnimmt, beginnt sie bereitwillig zu erzählen.
Die Geschichte von Großvater Maus
»Es war einmal eine Mäusefamilie, die wohnte hoch oben in einem Heuschober. All die vielen kleinen Mäuschen aßen die feinen, von der Sonne eigens für sie getrockneten Kräuter, die sie dort zuhauf fanden. Besonders aber liebten sie das allgegenwärtige Knistern des Heus, dem sie bei ihren täglichen Spielen die unterschiedlichsten Geräusche entlockten.
Großvater Maus erzählte den Kleinen immer, dass ihn das Rascheln hier oben an das Rauschen des weiten, blauen und welligen Meeres erinnerte, wobei er mit seinem Blick stets bedeutungsvoll in die Ferne schweifte. Er war keine gewöhnliche Hausmaus wie die anderen, musst du wissen, er stammte nämlich ursprünglich aus einer Gegend, die direkt am Meer lag.
Die neugierigen Mäusekinder wollten von ihm natürlich Geschichten über seine Zeit am Meer hören. Aufgeregt hüpften sie vor ihm auf und ab und so ließ er sich nicht lange bitten, denn er sprach ehrlich gesagt sehr gerne darüber. Oft erzählte er ihnen davon, wie er als Kind verbotenerweise des Nachts am Strand entlanggelaufen war.
Die Spuren seiner flinken kleinen Dribbelschritte zeichneten sich dabei im feuchten Sand ab. Eine dünne Rinne zwischen seinen Fußabdrücken in der Mitte zeugte von seinem langen dünnen Mauseschwanz, den er hinter sich herzog. Es gab nichts in seinem jungen Leben, das ihm mehr Spaß gemacht hätte, als am Strand, ganz nah am Wasser, herumzutollen, aber er wusste auch aus den Warnungen der älteren Mäuse, dass einem das Meer gefährlich werden konnte.
Zu manchen Zeiten des Tages kam das Wasser immer weiter nach vorne und fraß alles, was sich in seiner unmittelbaren Nähe befand. Sandburgen, einsame Badeschuhe, kleine Tiere, jeden Abdruck im Sand, alles verschwand in dem unheimlichen, riesigen Meeresbauch. Bei Wind oder gar Sturm konnte es hungrig auf einen zurollen und einem seine wilden Wellen entgegenschlagen. Das Wasser war im Stande sich blitzschnell nach vorne zu stülpen, um alles in seiner Reichweite zu verschlingen. Danach war man selbst mitsamt seinen Fußspuren für immer